Morgens vor dem Spiegel oder wenn wir uns für das neuste Selfie in Pose werfen: Solche Momente sind die Ausnahme. Die meiste Zeit des Tages sind wir uns unseres Körpers und unserer Körperempfindungen wenig bewusst.
Wir haben dann den Autopiloten eingeschaltet. Wir wissen intuitiv, wie wir uns zu bewegen haben, um die Kaffeetasse zu ergreifen, und müssen uns nicht erst bewusstwerden, wo sich die Hand befindet und welche Muskeln angesteuert werden müssen. Plaudern wir mit Bekannten, steht der Inhalt des…
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befindet und welche Muskeln angesteuert werden müssen. Plaudern wir mit Bekannten, steht der Inhalt des Gesprächs im Zentrum und wir brauchen nicht mühsam zu entscheiden, welche Gesichtsmuskeln wir an- oder entspannen müssen, um das Gesagte mimisch zu unterstützen.
Und trotzdem: Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, einen kurzen Augenblick innehalten, vielleicht Ihre Augen schließen oder sich einfach auf Ihren Körper konzentrieren, dann werden Sie sich als verkörpertes Ich wahrnehmen. Wenn Sie nicht gerade träumen, weder eine bewusstseinserweiternde Substanz eingenommen haben noch sich in einem tiefen hypnotischen oder meditativen Zustand befinden, werden Sie kein Problem haben, Ihren Körper als Ihren eigenen wahrzunehmen. Sie wissen, wo der Körper endet und wo die Umwelt – oder der Körper einer anderen Person – anfängt. Auch können Sie die ungefähre Position ihrer Glieder im Raum richtig einschätzen.
Die Erstpersonenperspektive
Sie nehmen Ihren Körper und die Welt aus einer „verkörperten Erstpersonenperspektive“ wahr: Sie schauen von innen heraus nach draußen, spüren aber auch von innen nach innen, in den Körper hinein. Versuchen Sie sich zu erinnern, was Sie am heutigen Morgen zum Frühstück gegessen haben. Höchstwahrscheinlich sehen Sie die Frühstücksszene aus einer ebensolchen verkörperten Erstpersonenperspektive vor Ihrem geistigen Auge. Selbst das Erinnern bleibt verkörpert.
Aber was ist das eigentlich für ein Ich, das da im Körper zu hocken scheint? Wo genau befindet es sich? Diese Frage stellt sich intuitiv – aber sie ist unsinnig. Irgendwie scheint sich in den Köpfen der Menschen die Vorstellung des kleinen Männleins (oder Weibleins?) im Gehirn eingebrannt zu haben. Dort, so scheint es uns, haust das Ich, das über die Sinne Informationen über die Welt und den eigenen Körper empfängt, diese auswertet und verarbeitet und den Körper nach Gutdünken steuert.
Diese bildhafte Vorstellung ist implizit mit zwei zentralen Annahmen verbunden. Erstens wird davon ausgegangen, dass dieses „Ich“ eng mit unserem Denken verbunden ist. Am treffendsten zur Geltung kommt dies in dem berühmten Satz des Philosophen René Descartes: Cogito ergo sum, „Ich denke, also bin ich“. Zweitens wird nach dieser Vorstellung das Denken als weitgehend losgelöst vom Körper betrachtet.
Keine Trennung von Körper und Selbst
Diese Betrachtungsweise hat ihre Wurzeln in Platons Philosophie und wurde durch den in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominanten Kognitivismus weiter verstärkt. Im Zentrum des Kognitivismus stehen die Analogien zwischen menschlicher und computerbasierter Informationsverarbeitung. Da ist von Inputs, Outputs und Verarbeitungsprozessen die Rede, nicht aber von Blut, Schweiß, Organen.
Diese Sicht erhält jedoch immer stärkeren und ernst zu nehmenden Gegenwind. Ausgerechnet Descartes selbst hat bereits festgestellt, dass er in seinem Körper nicht wie der Kapitän (also das kleine Männlein) in einem Schiff wohnt, sondern dass er innig mit ihm vereint und vermischt ist. Andere Philosophen, die sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen dem Ich und dem Körper beschäftigt haben, wie beispielsweise Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty, kamen zu einem ähnlichen Schluss. Sie stellten fest, dass wir weniger „einen Körper haben“ als vielmehr „ein Körper sind“, dass also der Körper und das Selbst nicht getrennt werden können.
Auch in psychologischen und neurowissenschaftlichen Theorien wird dem Körper eine zunehmend größere Rolle bei mentalen Vorgängen zugeschrieben. Die Theorien der „verkörperten Kognition“ (embodied cognition) sind im Aufschwung.
Sie gehen davon aus, dass das Denken viel stärker als bislang angenommen mit den Sinnen, der Wahrnehmung und der Motorik verschränkt ist; diese wiederum sind mit den biologischen Vorgängen im Körper verbunden. Um das Denken zu verstehen, sollte das Gehirn also als integraler Teil des physischen Körpers (embodied) betrachtet werden, eingebettet in die Umwelt (embedded). Das denkende Ich ist demnach automatisch auch ein verkörpertes Ich.
Fortlaufende Anpassung
Wie die Wahrnehmung im Allgemeinen wird auch die Wahrnehmung des verkörperten Ichs als aktiver Prozess angesehen. Das körperliche Selbst – also jenes Ich, als das wir uns empfinden – ist also nicht „einfach da“, stoisch und unantastbar. Vielmehr wird es fortlaufend im Austausch mit der Umwelt konstruiert und angepasst.
Was von den verschiedenen Sinnen fortlaufend „hereinkommt“, wird interpretiert, gewichtet und integriert und mit Erfahrungen, gelernten Vorstellungen und Annahmen abgestimmt. In diesem Prozedere wird nicht nur unser Eindruck von dem, was draußen in der Welt geschieht, ständig verändert, sondern auch unsere Vorstellungen des eigenen Körpers.
Wie stark solche aktiven Prozesse die Wahrnehmung der Realität verzerren können, zeigen auf eindrückliche Weise optische Illusionen wie etwa der „Shepard-Tisch“. Bei dieser Täuschung wird eine zweidimensionale Tischoberfläche unterschiedlich groß wahrgenommen, je nachdem wie sie im vermeintlichen Raum orientiert ist. Denn wir nehmen die Abbildung aufgrund unserer Erfahrung automatisch als eine Szene im dreidimensionalen Raum wahr und passen die Größe der Objekte dieser Wahrnehmung an.
Deine Hand wird meine taube Hand
Verblüffenderweise kann auch unser eigener Körper – den wir so gut zu kennen glauben wie kein anderes Objekt – Gegenstand unglaublicher Verzerrungen sein. Das bekannteste Beispiel ist die „Gummihandillusion“ (rubber hand illusion). Dabei wird der am Tisch sitzenden Person eine Gummihand hingelegt, während die echte Hand verdeckt wird.
Berührt nun ein Versuchsleiter die sichtbare Gummihand und die verdeckte Hand der Person über längere Zeit gleichzeitig an der gleichen Stelle, entsteht das Gefühl, dass die Gummihand die eigene ist. Die synchrone visuelle und taktile Information wird integriert und die wahrscheinlichste Interpretation ist dann eben, dass die Gummihand die eigene sein muss. Damit nicht genug. Wird die Gummihand mit einem Messer bedroht, reagiert der Körper wie auf eine echte Bedrohung: Der Puls steigt, der Schweiß bricht aus.
Ein ähnliches, vielleicht noch einfacheres Beispiel ist die „Taubheitsillusion“ (numbness illusion). Für diese Täuschung werden die Innenseite der eigenen linken Hand und die rechte Handinnenseite einer anderen Person zusammengehalten. Dann streichelt eine der Personen mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand über die beiden zusammengehaltenen Zeigefinger. Was passiert? Die Hand der anderen Person fühlt sich taub an. Man hat die fremde Hand also unwillkürlich adoptiert und – obwohl man sie nicht spürt – zum Bestandteil des eigenen Körpers erklärt.
Verschiebung der Körpergrenzen
Das zeigt, wie schnell sich die subjektiven Körpergrenzen verschieben können. In stark abgeschwächter Weise erleben wir das ständig im Alltag: Wenn wir selbstvergessen mit dem Auto oder dem Fahrrad unterwegs sind, dann fühlt sich dieses Vehikel fast wie ein Teil unseres Körpers an. Manche sagen: Diese Gegenstände zählen dann – wie der Rucksack auf dem Rücken oder der Stift in der Hand – zu unserem „erweiterten Selbst“.
Zentral ist dabei, dass wir Informationen verschiedener Sinneskanäle miteinander verkoppeln, also beispielsweise die gesehene und die gefühlte Information über eine Berührung. Ebenso verkoppeln wir fortlaufend motorische und sensorische Informationen, zum Beispiel die geplante und dann gesehene Eigenbewegung unserer Hand.
Schon früh entwickelt sich basales Körperbewusstsein
Solche Verkopplungen von Signalen scheinen auch bei der Entwicklung des verkörperten Ichs eine zentrale Rolle zu spielen. Schon im Mutterleib kann der Fötus Berührung spüren, Töne hören und Bewegungen über das Gleichgewichtsorgan erkennen. Er kann sogar grobe Kontraste sehen. Diese Informationen werden zunehmend stärker miteinander in Verbindung gebracht und bilden das Fundament des körperlichen Selbst.
Schon mit wenigen Monaten und lange bevor sich das Kind nachweislich im Spiegel erkennt, schaut ein Säugling länger auf einen Bildschirm, der die eigenen Beinbewegungen zeitversetzt zeigt, als auf einen, der die Bewegungen synchron und damit der Erwartung entsprechend spiegelt, was von einem basalen Körperbewusstsein zeugt. Solche multisensorischen Integrationsmechanismen werden im Lauf der Kindesentwicklung ständig verfeinert und das körperliche Ich-Erleben wird dadurch geformt und verstärkt.
Doch dieselben Mechanismen, die uns erlauben, ein verkörpertes Ich-Gefühl überhaupt zu entwickeln und zu stabilisieren, scheinen uns auch anfällig für Körperillusionen zu machen. Die beschriebene Gummihandillusion ist nicht nur ein lustiger Partytrick, sondern hat die Forschung zum verkörperten Selbst und der verkörperten Kognition wesentlich vorangetrieben.
Im Avatar des anderen Geschlechts
Vor allem auch dank neuer Technologien zur Darstellung von virtuellen Realitäten (VR) hat sich dieser Forschungsstrang über die letzten Jahre stetig weiterentwickelt.
Während der Psychologe Georg Stratton Ende des 19. Jahrhunderts noch tagelang einen komplexen Spiegelaufbau mit sich herumtrug, um seinen Körper dauerhaft an einer anderen Stelle zu sehen und die Veränderungen im verkörperten Selbst zu erleben, haben die heutigen Technologien solche Experimente um einiges vereinfacht. Mit moderner VR-Technik lässt sich nicht nur eine Hand, sondern ein ganzer virtueller Körper aus einer Erstpersonenperspektive repräsentieren und animieren, während der physische Körper automatisch ausgeblendet wird.
Ähnlich wie bei der Gummihandillusion sorgt auch hier die synchrone Verkopplung von Sinnes- und Bewegungsinformationen des eigenen und des Avatarkörpers für das Gefühl, man sei im virtuellen Avatar verkörpert. Das Spannende daran ist, dass man den Avatar fast beliebig verändern kann. Studien haben gezeigt, dass sich Menschen problemlos in Avataren verkörpert fühlen können, die jünger oder älter sind als sie selbst oder ein anderes Geschlecht oder eine andere Hautfarbe haben. Sogar Tierkörper, Roboter oder Früchte können spielend verkörpert werden.
Die Welt aus Puppenperspektive
Mittels Videokameras mit extrem großem Bildwinkel kann man auch in Echtzeit den Körper mit einer anderen Person im gleichen Raum tauschen. Dazu wird die Erstpersonenperspektive der einen Person gefilmt und auf die VR-Brille der anderen Person übertragen. Mittels Kopfbewegungen kann diese dann ihren „neuen Körper“ ganz natürlich erkunden.
Der Philosoph Thomas Nagel hat in seinem berühmten Aufsatz über das Bewusstsein die eher rhetorische Frage gestellt: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ Er kam zum Schluss, dass wir es als Nichtfledermäuse nicht wissen können. Aber vielleicht kommen wir ja dem Wissen etwas näher, wenn wir im virtuellen Raum in einem Fledermauskörper durch die nächtlichen Landschaften fliegen?
Eine stetig wachsende Zahl von Untersuchungen zeigt, dass das Aussehen, die Morphologie und die Funktionalität des verkörperten Avatars das Empfinden, das Denken, die Emotionen, die Motivationen und das Handeln beeinflussen können. Sieht sich eine erwachsene Person in einem Kinderkörper, schätzt sie sich danach selbst kindlicher ein und spricht mit einer höheren Stimme.
Verkörpert ein hellhäutiger Mensch einen dunkelhäutigen, fühlt er sich dunkelhäutigen Personen generell näher, imitiert sie stärker und zeigt sich ihnen gegenüber empathischer als zuvor. Sehen wir die Welt aus der Perspektive und in der Verkörperung einer Barbiepuppe, erscheinen Objekte mit einem Mal größer. Wird während einer Stresssituation vor vielen Menschen ein transparenter Avatar verkörpert, verringert sich die soziale Angst sowohl subjektiv als auch gemessen am Herzschlag. Verkörpert man eine Person eines anderen Geschlechtes, wird man fluider in der eigenen Geschlechtswahrnehmung.
Wollen wir die Körper tauschen?
Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie stark in jedem Augenblick unser Denken und unsere Persönlichkeit vom jeweiligen Körpererleben abhängt. Zwar wurden viele dieser Experimente mit relativ kleinen Stichproben durchgeführt und müssen erst in größeren Studien bestätigt werden, doch schon jetzt lässt sich das enorme Potenzial solcher spielerischen Veränderungen im verkörperten Ich erahnen.
Einsatzmöglichkeiten gäbe es etwa im Rahmen von klinischen Therapien, zur Unterstützung von Paartherapien, zur Förderung von Empathie oder in anderen Settings, bei denen ein Perspektiven- oder Körperwechsel gewinnbringend sein könnte. Und natürlich sind solche body swaps auch für die Unterhaltungsindustrie interessant. Schon seit langem widmen sich Hollywoodfilme dem Thema des Körpertauschs. Und wer wollte nicht schon einmal eine andere oder ein anderer sein?
Doch wie ergeht es Menschen, deren verkörpertes Ich längerfristig und ganz ohne Illusionen, Technik oder ausge-klügelten Versuchsaufbau verändert ist und die oft erheblich darunter leiden? Was geschieht, wenn der Körper und das Selbst eben doch als voneinander getrennt wahrgenommen werden oder wenn sich das Ich in einem Körper verkörpert fühlt, der nicht dem physischen oder dem Spiegelbild entspricht?
Das Alice-im-Wunderland-Syndrom
Nach einer Amputation empfinden Menschen zum Beispiel nicht selten echte und oft starke „Phantomschmerzen“ in dem gar nicht mehr vorhandenen Arm oder Bein. Und sowohl bei neurologischen als auch bei psychiatrischen Erkrankungen gibt es äußerst vielfältige Veränderungen des körperlichen Selbst. Während einer außerkörperlichen Erfahrung haben Menschen beispielsweise das Gefühl, dass das Ich völlig vom Körper getrennt ist und sie ihren Körper und die Welt aus einer entkörperten Perspektive wahrnehmen.
Bei dem sogenannten Alice-im-Wunderland-Syndrom nehmen Menschen ihren Körper oder Teile ihres Körpers als massiv größer oder kleiner wahr. Menschen, die unter Schizophrenie leiden, können das Gefühl haben, dass der Körper nicht ihr eigener oder nicht unter ihrer Kontrolle ist. Nach einer Hirnverletzung berichten Personen mit einer Somatoparaphrenie von einem Gefühl, dass Teile ihres Körpers nicht zu ihnen gehören, sondern zu einer anderen (oft bekannten) Person. Auch bei einer Depersonalisationsstörung sind verschiedene Aspekte des verkörperten Ichs stark verändert.
Während man einige dieser Phänomene immer besser versteht, tappen die Forscherinnen und Kliniker bei anderen Syndromen noch weitgehend im Dunkeln. So auch bei der Body Integrity Dysphoria: Hier identifizieren sich Menschen – oft schon seit dem Kindesalter – mit einem Körper, der zum Beispiel querschnittgelähmt ist oder dem ein Arm oder ein Bein (oder beides) amputiert wurde. Natürlich sind solche Störungen für die Forschung interessant. Aber kann diese auch etwas zur Therapie beitragen? Können durch VR-Technik hervorgerufene Körperillusionen diesen Menschen eventuell helfen? Erste Versuche zeigen vielversprechende Ergebnisse.
Uns allen schließlich können solche virtuellen Erfahrungen helfen zu verstehen, dass das verkörperte Ich viel plastischer ist, als uns dieses Körper-Selbst vorkommt – und dass es nicht unbedingt der physischen Realität entsprechen muss. Auch lehren sie uns, dass Veränderungen im verkörperten Ich unser Denken und Handeln und somit auch unser Wohlbefinden erheblich beeinflussen.
Bigna Lenggenhager ist Psychologieprofessorin an der Universität Zürich. Sie leitet dort den Forschungsbereich Kognitive Neuropsychologie mit dem Schwerpunkt „Körper, Selbst und Plastizität“.
Literatur
Shaun Gallagher: How the Body Shapes the Mind. Oxford University Press, New York 2006.
Francisco J. Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch: The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience. MIT Press, Cambridge 2017.