Klimakrise, Kriege, bedrohte Demokratien – in einer kleinen Serie befragen wir die großen Denker und Denkerinnen der Psychologie, wie es so weit kommen konnte. Teil 2: Alfred Längle rekonstruiert, was Viktor Frankl uns raten würde:
Jede Zeit hat ihre Not – „wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Ich kann Hölderlin (1802) in diesem hoffnungsvollen Satz ganz folgen(1), auch für die heutige Zeit. Um auf dieser Grundlage das Rettende zu finden, ist zuerst die Not genauer zu besehen und zu verstehen.
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Zeit. Um auf dieser Grundlage das Rettende zu finden, ist zuerst die Not genauer zu besehen und zu verstehen.
Das fordert, das ist nicht angenehm und kann schmerzen. Aber Realismus tut not für ein gut fundiertes Leben. Sinn beruht auf realistischer Wahrnehmung, die sich auch vor dem Leid nicht drückt. Nur solcher Sinn ist existenziell tragend.(2) Er darf keine Täuschung sein, keine Droge. Er soll auf die Welt Bezug nehmen, die da ist. Und auf den Menschen, der auch zum Leiden fähig ist. So können wir Situationen zum Besseren wenden.
Jeder von uns ist gefragt
Wir sollen hinsehen, wo Klima und Umwelt vor die Hunde gehen, wo Brutalität geschieht, Ungerechtigkeit Menschen entwürdigt, Zwang herrscht, Krieg Familien und Länder zerstört. Jede dieser schrecklichen und tragischen Situationen braucht primär Aktion und Tat zur Verhinderung, Erleichterung oder Beendigung. Da ist jeder und jede gefragt, da braucht es jeden, da kann man sich nicht entziehen, ohne das Leben zu verraten.
Aber selbst dann, wenn das nicht möglich ist, kann Sinn gefunden werden, indem wir uns ändern, daran wachsen, uns vertiefen. Das geschieht im Einnehmen einer Haltung oder Einstellung, im Beziehen einer Position, durch die wir der Eskalation des Übels persönlich entgegentreten und den inneren Bezug zu dem, was wertvoll ist, aufrechterhalten, indem wir dafür einstehen in Gesprächen, Diskussionen, Abstimmungen.
Bereit sein, Leid mitzutragen
Was sonst können wir tun gegen die massenhaften Todesurteile zum Beispiel in China und Saudi-Arabien, gegen Rassismus und Femizide, gegen falsche Propaganda und Lüge in der Politik, Hass im Netz oder Kriegstreiberei? Was sonst können wir tun, als in unserem Leben persönlich Klarheit zu schaffen und Haltungen zu beziehen, eben – wie ich sie nenne – Einstellungswerte zu leben und bereit zu sein, Leid mitzutragen in Solidarität.
Eine solche geistige Gemeinschaft schafft nicht nur eine Kultur der Menschlichkeit, sondern ist auch für den einzelnen Menschen in seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht eine Möglichkeit, noch eine Spur Sinnhaftigkeit aus der Situation zu schlagen.(3) Dies sind letzte Möglichkeiten, die dem Menschen auch noch unter schicksalhaften Bedingungen einen Handlungsspielraum mit Sinn eröffnen.
Sehen Sie: Grausamkeiten, Brutalität, Lügen, Verfolgung und Töten sind keine Erfindung der heutigen Zeit. Was wir in den 1920er, 30er und 40er Jahren durchmachen mussten, hätte uns auch verzweifeln lassen können. Aber gerade darum ist eine „Sinnlehre gegen die Sinnleere“(4) so wichtig für die Menschen, um nicht Opfer der Umstände zu werden, nicht unter die Räder zu kommen und die Hoffnung zu verlieren.
Sich fragen, was diese Situation von einem will
Und wissen Sie, was uns und auch konkret mir geholfen hat? Was als eine grundmenschliche Haltung zum Leben auch heute Gültigkeit hat? Es ist eine radikale Wende in der Haltung zum Leben. Gehen wir doch im Allgemeinen mit der Frage an das Leben heran, was mir dies oder jenes „bringt“ und welchen Nutzen ich davon habe, wenn ich etwas tue. Und wir erwarten, dass das Leben uns Positives entgegenbringt. Doch eigentlich geht es in einem existenziellen Leben nicht um das Gefüttertwerden, sondern um die Herausforderungen, um das, was diese Situation jetzt von mir will.(5)
Es geht darum zu sehen, wo ich gebraucht werde, mich anfragen zu lassen von den Umständen und darauf meine genuine Antwort zu geben. Wenn diese „Antwort in der Tat“ erfolgt und vom Gewissen getragen ist, dann leben wir unsere „Ver-Antwortung“. Denn das Menschsein heißt infrage stehen. Jede Situation ist eine Frage, was ich zum Besseren beitragen kann. Und wenn wir darauf eingehen und unsere Antwort geben(6), verwirklichen wir nicht nur unser Leben, sondern wir kommen auch selbst zum Leben.
Dem Leben Antwort geben
Leben, existenziell verstanden, ist Antwortgeben(7) – ist, auf die jeweilige Not der Stunde, auf das Angebot und die Möglichkeit der Situation persönlich einzugehen und das mir Mögliche zu geben. Oder im Falle von schönen Dingen, sich ihnen hinzugeben und sich an ihnen zu erfreuen. Darum ist diese „existenzielle Wende“ der Schlüssel zur Sinnfindung. Denn es geht im Leben nicht darum, glücklich zu sein, sondern Tag für Tag einen Sinn zu sehen, an Aufgaben, Anfragen und an Werten beteiligt zu sein. Dann erfolgt das Glück von selbst. Dies ist ein Glück, das auch einen Grund und einen Sinn hat.(8)
Der Mensch, der nicht verankert ist in Sinn- und Wertbezügen und sich so auf eine geistige Ebene personaler Gewissheit und Wahrhaftigkeit, Respekt und Achtung, Verbindlichkeit und Treue bezieht, verliert sich selbst. Entwurzelt und aus seiner Mitte gefallen, entfremdet, verhaftet in seinen psychischen Impulsen, strebt er nach Macht und Beherrschung, Kontrolle und Gewinn und läuft in seiner Selbstzentriertheit Gefahr, das menschliche Antlitz zu verlieren und zum Zerrbild seiner selbst zu werden.(9)
Den Rassisten von heute möchte ich entgegenhalten, dass es existenziell gesehen eigentlich nur zwei Rassen gibt: die Rasse der Anständigen und die Rasse der Unanständigen(10), die in ihrer Gewissenlosigkeit Mittel verwenden, die auch den heiligsten Zweck entweihen.(11) Ich sage das, denn wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht noch keine Generation vor uns.(12)
Angesichts der Potenziale, die der Mensch im Großen und im Kleinen hat, seiner Intelligenz und Genialität, aber auch der Abgründigkeit der menschlichen Seele, die ihren Sinn verfehlt oder pervertiert hat, kann ich nur wieder warnen und wiederholen, was ich schon vor Jahrzehnten gesagt habe:
„Seit Auschwitz wissen wir, wessen der Mensch fähig ist. Und seit Hiroshima wissen wir, was auf dem Spiele steht.“(13)
Fußnoten
Die Gedanken und Zitate stammen aus folgenden Quellen:
(1) Vgl. Viktor E. Frankl: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Piper 1990, S. 88 (im Folgenden: „Frankl, Mensch“)
(2) Vgl. ders., Franz Kreuzer: Im Anfang war der Sinn. Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Ein Gespräch. Piper 1986, S. 44f.
(3) Vgl. ebd., S. 34 Vgl. V.E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Fischer 1987, S. 81f. (im Folgenden: „Frankl, Seelsorge“) Vgl. ders.: Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Piper 1991, S. 242
(4) Häufige Formulierung von Frankl in Vorträgen, steht aber auch in: Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Piper 1992, S. 63
(5) Vgl. Frankl, Seelsorge, S. 96 Vgl. ders.: …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel 1979, S. 125
(6, 7) Vgl. ebd.
(8) Vgl. Frankl, Seelsorge, S. 187
(9) Vgl. Frankl, Mensch, S. 367
(10) Vgl. ebd., S. 313
(11) ebd., S. 63
(12) ebd., S. 312
(13) Vgl. ders.: Argumente für einen tragischen Optimismus. In: Viktor E. Frankl u.a.: Sinn-voll heilen. […] Herder 1984, S. 11–31
Quellen
Viktor E. Frankl: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Piper 1990
Viktor E. Frankl, Franz Kreuzer: Im Anfang war der Sinn. Von der Psychoanalyse zur Logotherapie. Ein Gespräch. Piper 1986
Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Fischer 1987
Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Piper 1991
Viktor E. Frankl: Die Sinnfrage in der Psychotherapie. Piper 1992
Viktor E. Frankl: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel 1979
Viktor E. Frankl: Argumente für einen tragischen Optimismus. In: Viktor E. Frankl: Sinn-voll heilen: Viktor E. Frankls Logotherapie – Seelenheilkunde auf neuen Wegen. Herder 1984, 11– 31
Alfried Längle ist Arzt, klinischer Psychologe und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Wien. Er hat lange mit Viktor Frankl zusammengearbeitet und ist unter anderem Autor von Sinnspuren. Dem Leben antworten. Residenz 2025 (erweiterte Neuauflage)