Frau Professor Wimbauer, was bedeutet prekäre Beschäftigung genau?
Zu den prekären Beschäftigungen gehören Teilzeitjobs, Minijobs und alle Tätigkeiten mit einem befristeten Arbeitsvertrag. Betroffene arbeiten beispielsweise als Putzkräfte, oder sie sind Servicemitarbeiter in Gaststätten und Hotels. Sie erhalten häufig nur den Mindestlohn. Diese Jobs sind oft nicht durch Sozialversicherungsbeiträge abgesichert, die Beschäftigten sind ohne Schutzrechte, ohne Arbeitslosenversicherung, ohne…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
abgesichert, die Beschäftigten sind ohne Schutzrechte, ohne Arbeitslosenversicherung, ohne Krankenversicherung. Als prekär Beschäftigte gelten auch Leiharbeiter und Scheinselbständige. Und schließlich zählen Soloselbständige dazu, wie beispielsweise die Kurierfahrer.
Und wie viele Menschen sind betroffen?
Man schätzt, ein Fünftel bis ein Drittel aller Erwerbstätigen in Deutschland sind prekär beschäftigt, Tendenz steigend. Prekäre Arbeit ist traditionell eine Frauendomäne, als Hinzuverdienerinnen, als Teilzeitbeschäftigte oder geringfügig Beschäftigte ist das für sie fast Normalität. Mittlerweile dehnt sich die prekäre Beschäftigung aber immer mehr auch auf Männer aus.
Wie sieht das Leben der Betroffenen aus?
Erst einmal müssen diese Menschen mit geringen Einnahmen leben. Oft heißt das auch, dass sie im Alter schlecht abgesichert sind. Insgesamt leben sie in Unsicherheit. Sie können keinen Urlaub planen, sie wissen vielleicht nicht einmal, wovon sie in den nächsten Jahren die Miete bezahlen sollen. Es herrscht viel Angst bei prekär Beschäftigten.
Hinzu kommt: Dass heute so viele Menschen von prekärer Arbeit betroffen sind, hat auch Auswirkungen auf diejenigen, die in einer Normalbeschäftigung sind. Sie empfinden oft einen hohen Druck, viele machen sich Sorgen. Sie meinen, wenn sie nicht täglich über 100 Prozent im Job geben, werden sie bei nächster Gelegenheit gekündigt. Man akzeptiert heute also eher schlechte Arbeitsbedingungen aus Angst, die Stelle sonst nicht halten zu können und in die gefürchtete Prekarität abzurutschen.
Hinzu kommt, dass vielen die mangelnde Anerkennung durch die Arbeit zu schaffen macht. Oft gehen sie einer Tätigkeit nach, die als wenig prestigeträchtig gilt, auch wenn sie mit hohem Einsatz verbunden ist. Auf das Selbstwertgefühl drückt bei manchen außerdem, dass sie zusätzlich Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen, weil die Arbeit so schlecht bezahlt ist, dass selbst ein Vollzeitjob nicht zum Überleben reicht. Der niedrige Lohn wird von vielen nicht als Anerkennung für ihre Arbeit empfunden.
Manche empfinden prekäre Arbeit als einen regelrechten Angriff auf die eigene Würde. Hier spielt auch eine Rolle, inwieweit man selbst wahrnimmt, dass man prekär beschäftigt ist. Es gibt Menschen, bei denen sich eine prekäre Arbeit nicht so stark auf das Leben auswirkt. Es sind die, die eine prekäre Arbeit bewusst wählen oder wissen, es handelt sich um etwas Kurzfristiges. Das sind beispielsweise Menschen, die während eines Hochschulstudiums prekär beschäftigt sind, weil sie etwa eine Hilfstätigkeit ausüben. Diese Menschen wissen, dass die prekäre Arbeit nach zwei bis drei Jahren wieder vorbei ist.
Wie geht es den hochqualifizierten Prekären – den Kreativen, Grafikern, Journalisten oder Akademikern im wissenschaftlichen Mittelbau? Die haben zwar Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, aber leben auch in Unsicherheit.
Richtig, diese Gruppen arbeiten auch sehr prekär. Als Autorin oder Wissenschaftler können Sie vielleicht ein Buch schreiben und für ihre Arbeit viel Beachtung bekommen, aber Sie wissen trotzdem nicht, womit Sie in einigen Monaten Miete und Essen bezahlen sollen. Hier herrscht eine große Unsicherheit.
Wirkt sich prekäre Arbeit auch auf die Gesundheit aus?
Hier Ursache und Wirkung zu benennen ist schwierig. Was wir in unseren Studien festgestellt haben, ist: Die Betroffenen haben oft starke gesundheitliche Belastungen, sowohl körperlich als auch psychisch. Oft lässt sich aber nicht genau sagen: Ist es eine Folge der prekären Beschäftigung, dass Menschen eine schlechtere Gesundheit haben – oder sind Menschen mit schlechterer Gesundheit eher prekär beschäftigt?
Es könnte sich auch um einen Teufelskreis handeln. Unsere Forschungsergebnisse legen nahe, dass prekäre Beschäftigung ein Risikofaktor für eine Depression oder ein Burnout ist. Oft beginnt es mit einer körperlichen Krankheit. Wir haben Menschen in unseren Studien gesehen, die hatten erst körperliche Beschwerden wie Bandscheibenvorfälle. Also etwas ganz Alltägliches. Dann konnten sie wegen der Krankheit dem Job nicht mehr so richtig nachgehen. Daraufhin wurden sie auf Teilzeit gesetzt. Die Arbeitsbedingungen für diese Menschen wurden zunehmend schwierig. Das zusammen mündete in einer Depression oder in einem Burnout. Prekäre Arbeit scheint aber ein Risikofaktor zu sein.
Sie haben auch zur Frage geforscht, ob die Bürden der prekären Arbeit durch eine Partnerschaft aufgefangen werden können. Was sind Ihre Ergebnisse?
Wir haben durchaus Hinweise gefunden, dass eine gute Partnerschaft Belastungen mildern kann. Das sieht dann etwa so aus: Die Partner lieben sich, erkennen sich wechselseitig an, sie halten zusammen, unterstützen sich – und durch die Liebe wird die prekäre Arbeit etwas ausgeglichen. Das geht aber meist nicht ewig so, denn das Leben als Paar mit prekärer Beschäftigung ist sehr anstrengend. Diesen guten Weg finden wir auch eher bei Paaren, bei denen es finanziell noch gerade so zum Leben reicht. Oder bei denen, die wissen, dass es auch mal wieder bessere Zeiten geben wird. Als Fazit kann man sagen, es gibt beide Wirkrichtungen: Eine Partnerschaft kann ungute Arbeitsverhältnisse abfedern, aber prekäre Arbeitsverhältnisse können die Beziehung andersherum auch belasten.
Gibt es Unterschiede, wie Frauen und Männer in Beziehungen mit prekärer Arbeit umgehen?
Ja, bei manchen Männern mit prekärer Arbeit kommt hinzu, dass sie meinen, sie sollten der Familienernährer sein. Das setzt sie zusätzlich unter Druck. Wenn sie es dann nicht mehr schaffen – solche Fälle hatten wir in unserer Studie –, dann tun manche nur so, als würden sie arbeiten gehen. Sie sind aber in Wirklichkeit schon arbeitslos oder prekär beschäftigt. Das fliegt natürlich irgendwann auf.
Frauen kommen oft ungewollt in die Rolle derer, die eine prekäre Beschäftigung haben. Das geschieht beispielsweise, wenn Kinder geboren werden, die eine chronische Krankheit haben. Dann „muss“ die Frau zu Hause bleiben – das wird von ihr erwartet. So einen Fall hatten wir ebenfalls in der Studie: Die Frau blieb mit dem kranken Kind zu Hause, der Mann ging immer mehr arbeiten. Das war sehr schlecht für die Beziehung wegen der ungleichen Arbeitsteilung und der ungleichen Anerkennung. Er konnte Beachtung und Respekt über die Erwerbsarbeit einheimsen, ihre Arbeit in der Pflege des Kindes wurde aber wenig gewürdigt und nicht bezahlt – das galt als selbstverständliche Arbeit.
Haben Sie auch Singles befragt? Wie leben sie mit prekärer Arbeit?
Das ist es sehr unterschiedlich. Für manche ist die Situation sehr belastend. Und dann gibt es welche, die damit besser zurechtkommen. Besonders schwer ist es, wenn die finanzielle Lage schlecht ist und noch Fürsorge ins Spiel kommt. Wir hatten einen alleinerziehenden Mann mit großen Sorgen in der Studie: Er kümmert sich um das Kind, das chronisch krank ist. Er kann deshalb nicht voll arbeiten gehen, was ihm zusätzlich zu schaffen macht. Denn von einem Mann wird noch mehr als von einer Frau erwartet, dass er voll erwerbstätig ist. Und es ist auch selten, dass ein Mann allein Fürsorgeverantwortung hat.
Mut machende Beispiele gibt es aber auch hier. Manche Singles können die Nachteile der prekären Arbeit gut ausgleichen, etwa weil sie eingebunden sind in eine Familie oder in einen Freundeskreis. Für Menschen, die sich schon von anderen stark zurückgezogen haben, ist es noch schwieriger. Gut zurecht kommen auch Singles, die eine alternative Sinnorientierung in ihrem Leben gefunden haben. Wir hatten da einen Fall …
… meinen Sie so etwas wie Meditation?
Ja, zum Beispiel. Wenn eine Person denkt, dass sie einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leistet, und überzeugt ist, es ist nicht ihre Schuld, dass sie arbeitslos oder prekär beschäftigt ist. Diese Frau in unserer Studie hat ein tiefes Vertrauen in die Zukunft. Sie ist überzeugt, dass das Leben für sie gut weitergeht, dass sie nicht in dieser prekären Situation bleibt. So eine Haltung gibt es also auch.
Dann nehmen wir die Erwerbsarbeit zu wichtig? Viele Menschen, Frauen und Männer, definieren sich ja heute über den Beruf.
Dagegen, Anerkennung im Beruf zu suchen, ist erst einmal nichts einzuwenden. Erwerbsarbeit ist wichtig, wir verbringen viel Zeit mit ihr, identifizieren uns über sie. Wir müssen aber bedenken: Über den Beruf Anerkennung erlangen zu können, dieses gesellschaftliche Versprechen erfüllt sich vor allem für hochqualifizierte Berufstätige und für Menschen, die jung, dynamisch und flexibel sind und keine Fürsorgeverantwortung über den Beruf hinaus tragen. Die für die Firma voll einsatzbereit sind. Das bedeutet, andersherum ausgedrückt, dieser Weg ist für viele andere kaum gangbar: etwa für chronisch kranke Menschen und für solche, die Fürsorgeverantwortung tragen. Und der Weg ist weitgehend versperrt für die wachsende Zahl der Menschen, die prekär beschäftigt sind.
Wichtig ist, dass wir von dem gesellschaftlichen Dogma wegkommen, dass der Mensch nur für Erwerbsarbeit eine hohe Anerkennung verdient. Wir sollten die Fürsorgearbeit stärker anerkennen, etwa für Kinder und für alte Menschen. Sie ist wichtig und geht uns alle an. Eine Gesellschaft, in der sich nicht gut um Schwächere gekümmert wird, ist nicht tragfähig. Und schließlich ist auch die Selbstsorge wichtig und verdient es, dass wir sie stärker respektieren: Um sich um andere kümmern zu können, um gut in seinem Beruf zu sein, muss der Mensch zuerst in der Lage sein, sich um sich selbst zu kümmern.
Wenigstens scheint es genug Arbeit für alle zu geben – gerade meldet die Bundesagentur für Arbeit einen neuen Höchststand.
Was die niedrige Arbeitslosenquote angeht, müssen wir genau schauen, welche Arbeit denn vorhanden ist: Zwar sind mehr Menschen erwerbstätig, sie arbeiten aber immer öfter nicht in Normalarbeitsverhältnissen, also nicht in Vollzeit und auf einer unbefristeten Stelle, sondern sie sind immer öfter in einer prekären Beschäftigung. Die hohe Zahl der Menschen in prekärer Arbeit ist also ein Grund für die niedrigen Arbeitslosenzahlen.
Wenn wir über den Beruf kein Ansehen erhalten können, welche anderen Möglichkeiten haben wir sonst, Anerkennung zu bekommen?
Traditionell bekommen Menschen diese Anerkennung in sozialen Nahbeziehungen, in Freundschaften, in Paarbeziehungen. Das gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Doch zugleich wirken gesellschaftliche Modelle. Im bürgerlichen Ernährermodell sieht es so aus: Männer bekommen ihre Anerkennung in der beruflichen Sphäre, in der Erwerbsarbeit. Frauen erlangen Anerkennung für Fürsorge, Kindererziehung, Hausarbeit. Sie sind festgeschrieben auf die private, häusliche Sphäre. Das ist ein äußerst ungleiches Modell. Denn die Frauen sind ökonomisch abhängig und unbezahlt in dieser „anerkannten“ Rolle. Männer erhalten durch Arbeit ein Einkommen – und zusätzlich ist dies eine öffentliche Anerkennung, die mit Prestige, Ansehen und Außenkontakten verbunden ist.
Aber heute wünschen sich Paare eher gleichberechtigte Beziehungen, und beide haben einen Beruf.
Ja, seit den 1970er Jahren gibt es den Wandel hin zu mehr gleichberechtigten Paarbeziehungen. Sie egalisieren sich. Frauen wollen und sie müssen auch oft erwerbstätig sein, weil das Geld sonst in der Familie nicht reicht. Oder Frauen haben gar nicht mehr unbedingt einen Ehemann oder Partner, sie müssen dann sowieso erwerbstätig sein. Aber es herrscht eine gewisse Ambivalenz. Frauen sollen zwar erwerbstätig sein, aber sie sollen sich trotzdem um die Kinder kümmern.
Dann haben Frauen heute eine doppelte Chance auf Anerkennung: einmal für ihre Fürsorge- und Hausarbeit, und zusätzlich erhalten sie Anerkennung über ihre Leistung im Beruf.
Das wäre theoretisch denkbar, praktisch bekommen sie oft nur die halbe Anerkennung. Das sagt die Frauenforschung schon seit den 1970er Jahren. Denn: Für die Hausarbeit gibt es wenig Anerkennung, sogar immer weniger. Und im Beruf gelten Mütter oft immer noch als nicht so einsatzfähig wie Männer oder kinderlose Frauen. Man unterstellt ihnen, sie seien nicht so beruflich orientiert. Es gibt auch Vorurteile, dass Frauen, wenn sie Kinder haben, sowieso ausfallen. Also: Mit der doppelten Anerkennung ist es derzeit noch nichts!
Christine Wimbauer ist Professorin für Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit prekärer Arbeit und Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen