Laut einer Umfrage der DAK befürchtet jeder Dritte in Deutschland, bei Vorgesetzten und Kollegen auf Unverständnis und Vorurteile zu stoßen, wenn er wegen einer psychischen Erkrankung im Job zeitweise ausfällt. Ist diese Angst berechtigt?
In Deutschland gibt es immer noch viele Vorurteile sowohl in den Köpfen der Betroffenen als auch bei Personalentwicklern und Führungskräften. Wer an einer Depression oder Angststörung erkrankt, fürchtet sich davor, stigmatisiert zu werden. Tatsächlich wird eine psychische…
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oder Angststörung erkrankt, fürchtet sich davor, stigmatisiert zu werden. Tatsächlich wird eine psychische Erkrankung in einigen Unternehmen und Institutionen aus Unwissenheit als Makel bewertet. Dennoch bin ich optimistisch. Ich sehe deutliche Anzeichen, dass sich etwas bewegt. Die Bundesregierung hat das Thema psychische Gefährdung im Arbeitsschutzgesetz verankert. Das ist ein wichtiges Signal. Auch die Krankenkassen haben mit ihren Reports wesentlich zur Aufklärung beigetragen. Danach hat sich die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Leiden in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Vierzig Prozent der Frühberenteten mussten ihre Arbeit wegen einer seelischen Erkrankung aufgeben. Das Problem ist so offensichtlich, dass es sich nicht mehr bagatellisieren lässt.
Jeder Fünfte in Deutschland erkrankt im Laufe seines Lebens irgendwann psychisch. Trotz aller Aufklärung wird Betroffenen immer wieder unterstellt, sie hätten ihr Leben nicht im Griff und persönlich versagt. Wie passt das zusammen?
Wir sind daran gewöhnt, in Kategorien von Ursache und Wirkung zu denken, und suchen immer nach Kausalitäten und im weitesten Sinne nach Schuld. Auch in der Psychologie fragen wir, wer oder was schuld ist an einer Erkrankung. Liegt es am Elternhaus, am mangelnden Selbstwert, an Problemen in der Familie oder Konflikten am Arbeitsplatz? Fehlt ein Botenstoff im Gehirn? Anders als bei einem Beinbruch gibt es bei einer psychischen Erkrankung in der Regel weder eine klare Ursache noch einen eindeutigen Behandlungsplan. Oft sind Netzwerke im Gehirn nicht mehr in Balance durch eine ganze Reihe von Störungen, die in schwierigen privaten Beziehungen, im inneren Erleben oder in äußeren Belastungen liegen können. Auch die Dauer des Heilungsprozesses ist nicht exakt vorauszusagen. Wir müssen umdenken und Krankheit als ein multidimensionales Geschehen begreifen, bei dem mehrere Faktoren aus dem Gleichgewicht geraten. Auch die Unternehmen müssen sich viel intensiver mit der Frage beschäftigen, wie ihre Mitarbeiter in ständigen Veränderungsprozessen gesund und kreativ bleiben können. Wichtig sind unter anderem ein wertschätzendes Arbeitsklima, eine gute Konfliktkultur, flexible Arbeitszeitmodelle, Workshops zu Stressbewältigung, Gesundheitscheckangebote und Informationen zu Frühwarnsignalen. Prävention spielt bei psychischen Störungen nachweislich eine herausragende Rolle.
Und wenn die Prävention versagt hat? Was soll jemand tun, der an einer Erschöpfungsdepression erkrankt ist, zwei Monate in der Klinik war und sich mit der Frage quält, ob er sich am Arbeitsplatz outet oder lieber einen Bandscheibenvorfall erfindet?
Ich kann verstehen, dass es manchem leichterfällt, von einem Rückenleiden zu sprechen als über eine Depression. Aber ich finde es nicht sinnvoll, weil die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen sich so weiter verfestigt. Wir arbeiten als Klinik mit einigen großen internationalen Unternehmen zusammen. Ich bin immer wieder überrascht, wie offen und frei Mitarbeiter aus England, Australien oder den USA über Diagnosen und Behandlungspläne sprechen. Sie kommen gar nicht auf die Idee, um den heißen Brei herumzureden. In Deutschland sind wir durch den Nationalsozialismus vorbelastet und deshalb im Umgang mit psychischen Erkrankungen und Diagnosen verständlicherweise vorsichtig. Es geht aber gar nicht primär um Diagnosen. Abgesehen davon, dass Diagnosen meist unscharf sind, ist es doch viel entscheidender, dass der Arbeitgeber erfährt, welche Auswirkungen die Krankheit auf die Arbeitsfähigkeit hat. Darauf sollten wir fokussieren, nicht auf Diagnosen.
Was bedeutet das konkret?
Ich kann zum Beispiel sagen, im Moment fällt es mir noch schwer, in engem Kontakt mit Menschen zu sein. Mein Arzt sagt, das wird sich in den nächsten zwei Monaten bessern, deshalb wäre es gut, wenn ich in den ersten vier Wochen noch nicht am Frontdesk eingesetzt werde. Klare Informationen erleichtern dem Betroffenen die Wiedereingliederung nach einer Depression und geben dem Arbeitgeber Orientierung. Wir reden immer über das magische Thema Diagnose, aber die wichtige Information ist: Welche Auswirkungen hat die Krise auf meine Arbeitsfähigkeit? Und kann ich das mit meinem Vorgesetzten und mit den Kollegen besprechen? Ganz wichtig ist auch, den Arbeitgeber rechtzeitig zu informieren, dass ich voraussichtlich zwei oder drei Monate fehlen werde. Damit kann ein Betrieb umgehen, das gibt Orientierung. Viele lassen sich jedoch nur eine Woche krankschreiben, versuchen es wieder, lassen sich erneut krankschreiben und sorgen damit für große Irritationen.
Vielleicht, weil sie befürchten, dass sie als nicht mehr belastbar und leistungsfähig gelten, wenn sie offen über ihre Krise und die damit verbundenen Einschränkungen sprechen?
Um Sicherheit und Orientierung zu schaffen, haben wir den Prozess der gestuften Wiedereingliederung. Dieser Prozess sieht vor, dass ich mit meinem Vorgesetzten, der Personalabteilung oder je nach betrieblicher Struktur auch mit dem Betriebsrat oder Sozialdienst eine Vereinbarung treffe, wie meine Widereingliederung aussehen soll. Ob ich beispielsweise im ersten Monat vier Stunden pro Tag, im zweiten Monat sechs Stunden und im dritten wieder voll arbeite und vielleicht mit einer Tätigkeit ohne Kundenkontakt beginne. Häufig stellen Therapeuten oder Ärzte in bester Absicht zeitlich unbefristete Atteste aus, in denen steht: „Herr X kann nicht mehr im direkten Kundenkontakt arbeiten.“ Solche Atteste sind jedoch kontraproduktiv, weil sie ratlos machen. Die Vorgesetzten wissen dann nicht, wie sie mit dem betroffenen Mitarbeiter umgehen sollen, und fragen sich, ob derjenige überhaupt noch in der Lage ist, seinen Job zu machen. Diese Unsicherheit spüren auch die Betroffenen, und dann ist die Gefahr groß, dass sie in einer Rückfallspirale landen.
Die Angst, wegen einer Depression unter einem Vorwand gekündigt oder in einen unattraktiven Bereich abgeschoben zu werden, ist bei vielen aber genauso groß wie die Sorge, einen Rückfall zu erleiden. Zu Unrecht?
Aus meiner Sicht ist der Begriff Depression mittlerweile weitgehend entstigmatisiert, nicht zuletzt durch viele bekannte Schauspieler und Sportler, die sich öffentlich zu ihrer Erkrankung bekannt haben. Die meisten kennen jemanden im Familien- oder Freundeskreis, der schon einmal einen depressiven Schub hatte und vielleicht deswegen in der Klinik war. Ich muss das Wort Depression aber nicht unbedingt in den Mund nehmen, ich kann auch sagen: Ich war krank, das war für mich eine Krise, die mich auch psychisch sehr belastet hat, und mein Arzt hat mir geraten, in den ersten Wochen zwei Stunden später mit der Arbeit zu beginnen, weil ich am späten Vormittag deutlich fitter bin.
Das funktioniert nur, wenn der Vorgesetzte die Arbeit entsprechend umorganisiert und auch Kollegen bereit sind einzuspringen. Das erfordert viel Flexibilität.
Manche Führungskräfte tun die Krisen ihrer Mitarbeiter als Schwäche ab und gehen darüber hinweg, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Andere wiederum begegnen Rückkehrern mit einer übertriebenen Schonhaltung. Beides ist nicht hilfreich. Wer nach einer Krankheit wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt, braucht eine gute Balance von Verständnis und Anforderung. Über diesen Prozess der schrittweisen Anpassung müssen beide Seiten im Gespräch sein. Was geht schon? Was geht noch nicht? Welche Unterstützung ist notwendig? Wie viel Belastung ist gut? Wir sollten aber auch darauf achten, die Führungskräfte nicht zu überlasten und Unmögliches von ihnen zu verlangen. Deshalb sind in großen Unternehmen auch der Betriebsarzt, ein Sozialarbeiter und der Personalrat involviert. Der Vorgesetzte kann nicht alles regeln. Und es gibt Erkrankungen, bei denen mehr Aufklärung und Information nötig ist. Bei einer bipolaren Störung ist es zum Beispiel wichtig, dass Vorgesetzte und Kollegen verstehen, was in einer manischen Phase passiert und wie sie die überschäumende Euphorie, den enormen Redefluss und Aktionismus des betroffenen Mitarbeiters einordnen können. Und der Betreffende muss eine Rückfallprophylaxe machen, in ärztlicher Behandlung und im engen Dialog mit dem Vorgesetzten und dem Betriebsarzt bleiben, dann ist auch das zu handeln.
Was ist mit kleinen Unternehmen, wo es kein betriebliches Eingliederungsmanagement gibt?
Wenn der Betrieb ganz klein ist, kann das auch Vorteile haben. Oft ist es möglich, mit dem Chef ein informelles offenes Gespräch zu führen, weil man sich meist gut kennt. Natürlich gibt es auch Kleinbetriebe, in denen der Chef wenig Fingerspitzengefühl und kein Verständnis für psychische Erkrankungen hat, vielleicht sogar Witze darüber macht. Das kommt auch in großen Unternehmen vor. Wenn ich das weiß, muss ich überlegen, wie ich den Wiedereinstieg bewältigen kann, ohne die Führungsetage mit einzubeziehen. Meine Erfahrung ist jedoch, dass es oft viel leichter als gedacht ist, mit dem Chef Klartext zu sprechen. Viele Betroffene haben große innere Vorbehalte und überzogene Ängste, die durch die Wirklichkeit gar nicht bestätigt werden.
Gibt es Berufsgruppen, die sich besonders schwertun, eine Krise zu offenbaren? Ich denke an eine Kommunikationsberaterin, die an einer Depression erkrankt war und eine Rückenoperation vorgetäuscht hat, weil sie befürchtete, sonst keine Aufträge mehr zu bekommen.
Im Extremfall kann eine Notlüge angebracht sein, in der Regel halte ich das nicht für sinnvoll, weil die Gerüchteküche ohnehin brodelt und das Wort „psychische Erkrankung“ bei längeren Ausfallzeiten von allein die Runde macht. Natürlich können Sie sagen, ich hatte ein Herz-Kreislauf-Problem oder einen Bandscheibenvorfall. Die Gerüchte werden Sie damit aber nicht verhindern. Sobald Sie benennen, was war, sind Sie wieder auf sicherem Boden. Wenn eine Beraterin eine depressive Erfahrung gemacht hat, ist sie doch kompetenter als vorher, weil sie dann weiß, dass man aus solchen Krisen auch gestärkt hervorgehen kann. Sonst besteht die Gefahr, im Kommunikationstraining eine falsche Welt zu verkaufen, in der scheinbar immer alles in Ordnung ist. Es kommt darauf an, die Krisenerfahrung zu integrieren.
Wovon hängt es ab, ob das gelingt?
Es gibt drei entscheidende Faktoren. Erstens: die Höhe des Selbstwertes. Gehe ich gestärkt aus der Krise hervor? Kann ich sie in mein Leben integrieren? Oder erlebe ich mich immer noch als schwach und ohnmächtig? Zweitens: das Ausmaß der Unterstützung im beruflichen Umfeld. Wie offen sind Vorgesetzte und Kollegen? Können sie die Erkrankung akzeptieren und damit umgehen? Sind sie bereit, an internen Arbeitsabläufen vorübergehend etwas zu ändern? Drittens: die Dauer der Erkrankung. Gelingt es, die Behandlungszeit möglichst kurz zu halten? Ist eine schnelle, stufenweise Rückkehr an den Arbeitsplatz möglich? Je länger die Phase der Arbeitsunfähigkeit, desto schwieriger gestaltet sich der Wiedereinstieg. Ich möchte keinen Druck machen, jeder soll die Zeit bekommen, die er braucht. Eine zeitnahe Rückkehr bietet jedoch die Chance, sich über die Arbeit wieder zu stabilisieren und den Selbstwert aufzubauen.
Sie betrachten Arbeit als starkes Antidepressivum. Verlieren wir durch die vielen Schlagzeilen zu Burnout aus dem Blick, dass Arbeit nicht nur anstrengt, sondern auch Struktur und Sinn bietet?
Natürlich müssen wir berücksichtigen, dass Arbeit belasten und im Einzelfall auch krank machen kann. Letztlich gibt uns Arbeit jedoch Anregung, Stabilität und Identität. Aus dem, was wir beruflich tun, beziehen wir größtenteils unsere Selbstwirksamkeit. Arbeit ist aus meiner Sicht der wichtigste Faktor, um wieder gesund zu werden oder einen Rückfall zu verhindern durch das Gefühl, nützlich zu sein und etwas bewirken zu können.
Hans-Peter Unger ist Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie in der Asklepios-Klinik Hamburg-Harburg.
Hans-Peter Unger hat zusammen mit Carola Kleinschmidt das Buch veröffentlicht: „Das hält keiner bis zur Rente durch!“ Damit Arbeit nicht krank macht: Erkenntnisse aus der Stress-Medizin. Kösel, München 2014