Keine Zeit verschwendet

Digitale Zeitmanager helfen uns, den Alltag zu organisieren, aber tragen auch zu der Illusion bei, wir hätten alles im Griff.

Digitale Zeitmanager wie Outlook haben eine gute und eine schlechte Auswirkung auf unser Selbstwertgefühl: Einerseits vermitteln sie uns ein Erfolgsgefühl, wenn wir gut damit umgehen. Das Gegenteil passiert, wenn sich das Leben nicht nach ihnen richtet, dann gilt das als Misserfolg. Auf diese Weise beeinflussen digitale Zeitmanager unser Zeitgefühl maßgeblich. Das ist das Ergebnis einer qualitativen Studie der Soziologin Judy Wajcman, Professorin an der London School of Economics and Political Science. Für die Studie führte Wajcman Tiefeninterviews mit 20 Softwareentwicklern, Softwaredesignern und Produktentwicklern aus dem Silicon Valley, alle mit der inhaltlichen und technischen Weiterentwicklung digitaler Kalender und Zeitmanager befasst.

Der „treibende Imperativ“ hinter den digitalen Helfern sei das Bestreben, die Arbeit aller zu beschleunigen und der Versuch, die Verschwendung von Zeit auf ein Minimum zu reduzieren. Ein individueller, variabler Umgang mit Zeit sei nicht vorgesehen. Die Erfahrung, dass sich das Leben oft nicht nach Zeitvorgaben richte, werde negiert, ebenso, dass Zeitdauer nichts mit der Qualität der Zeit zu tun habe – und dass es durchaus unterschiedlich beurteilt werde, was wir als nützlich oder verschwenderisch empfinden. Stattdessen vermittelten digitale Kalender die Vorstellung, dass wir mit ihrer Hilfe die Unordnung und Unberechenbarkeit des Alltagslebens in den Griff bekommen und auf scheinbar unnütze Aktivitäten verzichten könnten, so das Fazit von Judy Wajcman. Dies lasse außerdem die Tatsache außer Acht, dass wir auf viele Ereignisse, die unsere Zeitplanung beeinflussen, selbst gar keinen Einfluss haben.

Hyperproduktiv

Die Interviewpartner erzählten von ihrem eigenen starken Bedürfnis danach, mit ihrer Zeit sehr effizient umzugehen und sahen in dem unzureichenden Zeitmanagement der meisten Menschen eines der größten Probleme unserer Zeit. Was nicht in ihren digitalen Kalendern stehe, werde für sie unbedeutsam und sie vergessen es, berichtet Wajcman. Die Interviewten erzählten auch, wie sehr die in den Zeitmanagern verwendeten Begriffe auch ihr persönlichen Denken bestimmten. Digitale Zeitmanager spiegeln aus Sicht von Wajcman exakt die Arbeitsphilosophie der abgeschotteten Welt der IT-Firmen des Silicon Valleys, wo diese Helfer konzipiert werden. In dieser Welt gelten Hyperproduktivität und Arbeitssucht als Zeichen von Erfolg, Work-Life-Balance als nicht sehr smart. Die dort Tätigen seien häufig jüngere Männer, die vollständig in ihrem Job aufgingen. Ihre Sicht auf die Arbeit verbreite sich über digitale Zeitmanager vom Silicon Valley aus in die Welt, lautet die These der Soziologin. 

Judy Wajcman: How Silicon Valley sets time. New Media and Society, 2018. DOI: 10.1177/1461444818820073

Judy Wajcman: Pressed for time. The acceleration of life in digital capitalism. The University of Chicago Press 2015

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