Vincent Mirano hat ein Problem. Vor einer Stunde hat der leger gekleidete Endzwanziger mit dem attraktiven Dreitagebart zum ersten Mal deutschen Boden betreten. Dennoch hat er bereits Bekanntschaft mit der hiesigen Bürokratie gemacht: Die Dame am Empfang des Hotels Felton hat ihm das Anmeldeformular hinübergeschoben und ist dann verschwunden. Und nun rätselt der international gefragte Kunstexperte, welche Informationen unter „Geschlecht“ oder „Unterschrift“ einzutragen sind. Man könnte fast Mitleid mit ihm…
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oder „Unterschrift“ einzutragen sind. Man könnte fast Mitleid mit ihm haben. Wenn es ihn denn tatsächlich gäbe. Doch Vincent Mirano ist ein Fantasieprodukt.
Er ist Hauptdarsteller des digitalen Rollenspiels Das Geheimnis der Himmelsscheibe, das von der Münchner Softwarefirma Reality Twist ersonnen wurde. Auftraggeber war das Goethe-Institut. Der gemeinnützige Verein hat sich unter anderem der Aufgabe verschrieben, die Kenntnis der deutschen Sprache im Ausland zu fördern. Mirano ist Mittel zu diesem Zweck. Die Spieler schlüpfen in seine Haut, um sich auf die Spuren eines gestohlenen Kunstwerks zu begeben – und trainieren dabei nebenbei ihre Deutschkenntnisse.
Das Geheimnis der Himmelsscheibe gehört zu einer wachsenden Gattung von Computerspielen, die inzwischen sogar einen eigenen Namen bekommen hat: Serious Games. Diese Spiele dienen nicht primär der Unterhaltung, sondern sollen Informationen oder Fähigkeiten vermitteln. In den vergangenen Jahren hat sich dieses Feld rasant entwickelt. Und das nicht ohne Grund, wie niederländische Wissenschaftler 2013 in einer großangelegten Studie zeigen konnten: Wer spielt, lernt nicht nur schneller, sondern behält das Erlernte auch besser in Erinnerung.
In der Öffentlichkeit finden solche Erkenntnisse bislang nur wenig Widerhall. Gerade in Deutschland wird der Konsum digitaler Medien eher verteufelt. Als der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer 2012 ein Buch mit dem Titel Digitale Demenz veröffentlichte, stürmte er damit binnen kurzer Zeit die Bestsellerlisten. In seinem Werk schildert Spitzer, „wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“: Computerspiele, eBooks und vor allem das Internet führen ihm zufolge zu kognitiven und psychischen Störungen, zu Fettleibigkeit und dem Verlust sozialer Kontakte. Kurz gesagt: Digitale Medien machen dumm, krank und einsam.
Spitzer belegte seine beunruhigenden Thesen mit einer Reihe wissenschaftlicher Studien. Experten wie der Medienpsychologe Markus Appel von der Universität Koblenz-Landau halten jedoch vehement dagegen. Appel wirft Spitzer unter anderem vor, ganz bewusst nur solche Untersuchungen zu zitieren, die seine Darstellung bestätigen. In der Tat ist die schädliche Wirkung digitaler Medien keineswegs eindeutig belegt. Im Gegenteil: Viele Wissenschaftler glauben inzwischen, dass uns die neuen technologischen Möglichkeiten sogar nutzen.
Machen digitale Medien wirklich dumm?
Aoife sitzt in ihrem Zimmer vor ihrem Laptop und skypt. Die Businessstudentin am Trinity College Dublin möchte ihre Deutschkenntnisse verbessern. Alle zwei Wochen trifft sie sich deshalb im Internet mit einem Kommilitonen der Universität Lüneburg. Bis zu eine Stunde dauern die Videotelefonate; in der ersten Hälfte sprechen beide Englisch, danach wechseln sie ins Deutsche. Derartige Sprachtandems sind keine neue Erfindung. In aller Regel treffen sie sich dazu im wirklichen Leben, verabreden sich im Café oder diskutieren abends bei einem Glas Bier. „Das funktioniert aber nur, wenn sich vor Ort ein passender Sprachpartner findet“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Anne Barron. „Außerdem hat nicht jeder Zeit und Lust zu einem Face-to-face-Treffen.“
Die Professorin an der Leuphana-Universität Lüneburg hat das Onlinetandemprojekt mit dem Trinity College ins Leben gerufen. Ziel des Angebots: Die Studierenden sollen sich in der jeweiligen Sprache tatsächlich unterhalten, und zwar in einem authentischen Kontext. Studien zeigen nämlich, wie wichtig das Reden für das Erlernen einer Fremdsprache ist. In der Heimat fehlt es dazu aber oft an Möglichkeiten. Den Studenten wurde zudem eine spezielle Software zur Verfügung gestellt, mit der sie ihre Skype-Gespräche aufzeichnen können. Diese Aufnahmen werden wissenschaftlich ausgewertet. Barron möchte so unter anderem herausfinden, welche Auswirkungen die regelmäßigen Konferenzen auf die Fähigkeit der Teilnehmer haben, miteinander zu interagieren: Wie gehen sie auf die Themen ihres Partners ein? Wie entwickeln sie das Gespräch weiter?
Besonders dramatisch ist das Sprechdefizit in der Schule: Ein Neuntklässler redet in einer normalen Englischstunde durchschnittlich gerade einmal 20 Sekunden Englisch. Wen wundert’s, wenn sich ein paar Jahre später auf der Klassenfahrt nach London sein Kontakt zu den Einheimischen auf Sätze wie „One Coke, please“ beschränkt. Barrons Kollege Torben Schmidt will diesem Manko spielerisch begegnen. Zusammen mit Partnern aus den USA entwickelt der Wissenschaftler momentan eine Smartphone-App, mit der Schüler ihre mündlichen Kommunikationsfähigkeiten trainieren können.
In einer Art digitalem Rollenspiel müssen sie sich in einem fremden Land zurechtfinden und dabei mit verschiedenen Personen sprechen. Die App steht nicht für sich, sondern soll den normalen Englischunterricht ergänzen. So sollen die Schüler ihre Gesprächsbeiträge über das Handymikrofon aufzeichnen; die Lehrkraft kann sie sich nachher anhören und bewerten. Der Professor für Didaktik des Englischen beschreitet mit seinem Angebot Neuland: Die meisten heute erhältlichen Lern-Apps konzentrieren sich auf Wortschatz, Grammatik oder Hörverständnis. Sich in der fremden Sprache tatsächlich zu unterhalten, trainieren sie dagegen nicht.
Bei der Entwicklung der App arbeitet Torben Schmidt mit Drehbuch- und Brettspielautoren zusammen. Neue Versionen lässt er regelmäßig von Schülern und Lehrern testen. „Lernspiele müssen vor allem eines sein: gute Spiele“, begründet er den hohen Aufwand. Denn gute Spiele machen Spaß. Nicht umsonst verbringen viele Menschen eine Menge Zeit damit, sich von Level zu Level zu hangeln und ihrem eigenen Highscore hinterherzujagen. Dieses Motivationspotenzial macht Spiele zu einem erstaunlich effektiven Lehrinstrument.
Mehrere Tausend Serious Games gibt es nach Schätzungen inzwischen – für Mathematik, Geschichte, Musik, ja sogar für Medizin. So haben etwa Forscher des Uniklinikums Freiburg vor einigen Jahren ein Computerspiel mit dem Namen Uro-Island entwickelt. Ziel der Software war, Studierenden die Geheimnisse der Urinanalyse näherzubringen. Am Ende der Unterrichtswoche schnitten die Spieler signifikant besser ab als Kommilitonen, die mithilfe von schriftlichen Unterlagen gelernt hatten. Außerdem gaben sie häufiger an, das Lernen habe ihnen Spaß gemacht. Auch auf anderen Gebieten ist die Erfahrung mit den digitalen Lernangeboten durchaus positiv, wie eine gerade erschienene Übersichtsarbeit britischer Wissenschaftler zeigt.
Digitale Medien haben also durchaus das Potenzial, ihre Nutzer schlauer zu machen. Dagegen steht der Vorwurf, die Digitalisierung lasse unser Gehirn verkümmern. Laut US-Wissenschaftlern soll beispielsweise bei Autofahrern, die sich regelmäßig aufs Navi verlassen, die Hippocampus-Region kleiner und weniger aktiv sein. Unklar ist allerdings die Kausalbeziehung: Möglicherweise haben Menschen mit einem kleinen Hippocampus einfach einen schlechteren Orientierungssinn und benutzen deshalb häufiger das Navi. Beunruhigend klingt auch der Befund, von dem Betsy Sparrow, Jenny Liu und Daniel M. Wegner 2011 in der Zeitschrift Science berichteten: Wenn wir mit schwierigen Fragen konfrontiert werden, neigen wir demnach dazu, automatisch an Computer zu denken – vermutlich deshalb, weil wir die Antwort auf die Fragen normalerweise im Internet nachschlagen würden. Zudem vergessen wir Informationen deutlich schneller, wenn wir uns darauf verlassen können, dass sie auf einem Rechner gespeichert sind.
Doch möglicherweise ist dieser „Google-Effekt“ gar nicht so dramatisch, wie er zunächst klingt. Experimente an der University of California belegen, dass uns diese Auslagerung von Wissen offener für neuen Input macht. Sie räumt Gehirnkapazitäten frei, die wir dann für wichtigere Dinge nutzen können. Vermutlich ist das Outsourcing von Informationen also sogar ziemlich sinnvoll. Das hat schon Albert Einstein erkannt. Als er einmal nach der Geschwindigkeit des Schalls gefragt wurde, entgegnete er, solcherlei Fakten trage er nicht in seinem Gedächtnis herum, schließlich stünden sie in Büchern. „Der Wert einer akademischen Ausbildung liegt nicht darin, viele Fakten zu lernen, sondern das Denken zu trainieren.“
Machen digitale Medien wirklich krank?
Taylor war elf Jahre alt, als er merkte, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Er fühlte sich krank und war andauernd müde. Der Arzt führte einige Tests durch, die Diagnose war niederschmetternd: Taylor hatte Leukämie. Er erhielt eine hochdosierte Chemotherapie und danach eine Knochenmarktransplantation. Heute finden sich in seinem Körper keine Krebszellen mehr. Während der Therapie empfahlen Taylors Ärzte ihm ein Computerspiel namens Re-Mission. Re-Mission ähnelt einem professionellen Egoshooter-Game. Der Spieler navigiert durch eine dreidimensionale Welt und schießt dabei auf gefährliche Gegner, die sich ihm in den Weg stellen. Was Re-Mission von anderen Ballerspielen unterscheidet: Die 3-D-Welt ist ein menschlicher Körper; die Gegner sind entartete Zellen; der Auftrag ist, den Blutkrebs zu besiegen. In die Handlung sind immer wieder Informationen über die Erkrankung eingewebt. „Dank Re-Mission konnte ich mir besser vorstellen, welcher Krieg in meinem Körper stattfand“, sagt Taylor. „Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich dabei etwas lerne. Es fühlte sich einfach wie ein Spiel an, das Spaß macht.“
Re-Mission gilt heute als anerkanntes Hilfsinstrument in der Leukämietherapie. 2008 veröffentlichten die Entwickler des Spiels die Ergebnisse einer aufwendigen Multicenterstudie mit insgesamt 374 Patienten. Betroffene, die Re-Mission spielten, nahmen ihre Medikamente regelmäßiger ein als Kontrollpatienten. Ihre Chemotherapeutika-Konzentration im Blut war im Schnitt höher. Sie wussten zudem über ihre Krankheit besser Bescheid.
Re-Mission ist kein Einzelfall: SnowWorld, ein aufwendig animiertes 3-D-Spiel, lenkt Verbrennungsopfer von den Schmerzen bei der Wundpflege ab – und das mit großem Erfolg, wie Untersuchungen im Hirnscanner zeigen. Packy and Marlon lehrt Zuckerkranke den richtigen Umgang mit Diabetes. Bronkie the Bronchiasaurus hilft jungen Kindern mit Asthma. Auch bei ihnen ist die Wirkung in klinischen Studien belegt. Hinzu kommt ein boomender Markt von Gesundheitsapplikationen für Smartphones (siehe auch Psychologie Heute, Ausgabe 10/2015): Miniprogramme versprechen Hilfe gegen Nikotin- oder Alkoholsucht, animieren zur Fitness, unterstützen bei Depressionen oder Angsterkrankungen. Auch wenn die Qualität dieser mobilen Helfer oft unklar ist, gibt es doch einige, die sich in klinischen Studien als wirksam erwiesen haben.
Trotz dieser positiven Beispiele sei man in Deutschland digitalen Medien gegenüber wenig aufgeschlossen, klagt Maic Masuch. Der Professor für Medieninformatik an der Universität Duisburg-Essen hat unter anderem Spiele für die Krebstherapie oder gegen Leistungsangst in der Grundschule entwickelt. Hierzulande sei es schwierig, für derartige Projekte Mittel zu bekommen, sagt er – und sei es nur für die Evaluation, was diese Spiele überhaupt bringen. „Wenn Sie bei einem Fördergeber als Forscher Mittel beantragen, um die positiven Effekte solcher Applikationen zu untersuchen, kommen Sie damit kaum durch“, kritisiert er. „Wenn Sie negative Auswirkungen digitaler Medien untersuchen, haben Sie es leichter.“ Zu diesen negativen Auswirkungen gehört der vermutete Zusammenhang zwischen dem Konsum digitaler Medien und Depressionen. Seit Ende der 1990er Jahre wird zu diesem Thema intensiv geforscht. Dennoch ist eine ursächliche Beziehung trotz anderslautender Laienüberzeugung bis heute keineswegs zweifelsfrei bewiesen. So konnten Schweizer Wissenschaftler in einer Studie mit mehr als 7 00 Teilnehmern zwar zeigen, dass Jugendliche, die mehr als zwei Stunden täglich online sind, häufiger depressive Symptome haben. Dasselbe galt aber auch für Probanden, die das Web komplett mieden.
Forscher aus Korea konnten dieses Ergebnis bestätigen. Sie untersuchten den Internetkonsum von mehr als 75 00 Heranwachsenden. In ihrem Fazit bezeichnen die Wissenschaftler sowohl starke Internetnutzer als auch internetabstinente Personen als gesundheitliche Risikogruppen. Auch zeigen manche Analysen, dass depressive Menschen öfter Zuflucht bei Onlineangeboten suchen. Ein hoher Internetkonsum wäre somit nicht Auslöser der Schwermut, sondern ihre Folge.
Machen digitale Medien wirklich einsam?
Neuseeland wirbt mit dramatischen Fjorden, aktiven Vulkanen und Traumstränden. Jedes Jahr erliegen 50 00 Deutsche diesen Verlockungen. Auch Johanna Risse hat die Zeit nach dem Abitur für einen Aufenthalt genutzt. Die 19-Jährige hat auf einer Farm als Au-pair gearbeitet und danach die beiden Haupt-inseln bereist. Vier Monate allein am anderen Ende der Welt: Ganz leicht ist ihr dieser Schritt nicht gefallen. „Ich wusste aber, dass ich per Skype und WhatsApp den Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden aufrechterhalten konnte“, sagt sie. „Ohne diese Möglichkeiten wäre es mir sicher schwerergefallen zu gehen.“
Digitale Medien geben Sicherheit: Egal wo wir sind – wir sind nicht allein. Wenn es schlechtläuft, sind die Freunde nur ein paar Touch-Gesten entfernt. In eine fremde Welt aufzubrechen wird so ein kleines Stückchen einfacher. Die Digitalisierung kann zum Türöffner für neue Erfahrungen werden, die man ohne sie vielleicht gar nicht gemacht hätte. Kritiker beschwören dagegen oft die Gefahr, die Nutzung von WhatsApp oder Facebook gehe zulasten des wirklichen Lebens. Diese Verdrängungshypothese hört sich zunächst plausibel an: Wer viel Zeit am Handy oder im Internet verbringt, dem bleibt weniger für Hobby oder Freunde. Wissenschaftliche Studien zum Thema kommen aber zu widersprüchlichen Ergebnissen: Facebook und Co mögen manche Menschen zwar tatsächlich einsamer oder unglücklicher machen. Anderen helfen sie aber dabei, ihre Beziehungen zu pflegen. Wenn die Freunde über ganz Deutschland verteilt sind, die Eltern drei Autostunden entfernt wohnen und der Partner nur am Wochenende zu Besuch kommt, kann WhatsApp schon sehr praktisch sein, um in Kontakt zu bleiben.
Forscher der Universität Oxford untersuchen seit 2003 Onlineverhalten und -einstellungen von Menschen in Großbritannien. Dazu befragen sie alle zwei Jahre im Vereinigten Königreich 2 00 repräsentativ ausgewählte Personen. Die Ergebnisse widersprechen der These, das Internet lasse unser Sozialleben erodieren: So gab 2011 rund die Hälfte der Befragten an, durch die Vernetzung mehr Kontakt zu Freunden und Familie zu haben. Dabei ersetzen digitale Kommunikationsmittel nicht etwa „echte“ Treffen, sondern ergänzen sie um zusätzliche Möglichkeiten, sich auszutauschen. Die Soziologin Judy Wajcman kam 2008 in einer Befragung australischer Telekommunikationsnutzer zu einem ähnlichen Ergebnis. In ihrem Buch Pressed for Time zieht sie ein positives Resümee: „In Kontakt zu bleiben, auch wenn man gerade nicht am selben Ort ist, ist zweifellos ein Zeichen von Intimität“, schreibt sie. „Kurze Anrufe oder Textnachrichten können helfen, diese Vertrautheit aufrechtzuerhalten oder gar zu vertiefen.“
Entscheidend sei unter anderem die Art und Weise, wie man die digitalen Möglichkeiten nutze, sagt Medienpsychologe Markus Appel von der Universität Koblenz-Landau: „Gefährdet sind vor allem passive Nutzer, die immer nur danach schauen, was andere machen. Wer sich so verhält, öffnet sozialen Vergleichsprozessen Tür und Tor.“ Wer dagegen digitale Medien als Möglichkeit des Austauschs begreift, könne von ihnen profitieren. Johanna Risse etwa hält per WhatsApp noch Kontakt zu einigen Freundinnen aus ihrem Sprachkurs in Neuseeland. Im Sommer wird sie vermutlich vier von ihnen wiedersehen – in der echten Welt.
Fazit: Unnötige Sorgen
Cyberbullying, Gewaltspiele, Onlinesexsucht: Dass digitale Medien eine dunkle Seite haben, lässt sich nicht leugnen. Dasselbe lässt sich aber angesichts von jährlich mehr als 3 00 Verkehrstoten, Luftverschmutzung und Treibhauseffekt auch über das Autofahren sagen. Diese dunkle Seite zum Anlass zu nehmen, die neuen technologischen Möglichkeiten pauschal zu verdammen, wird ihnen sicherlich nicht gerecht.
Mehr noch – eine solche Strategie wirkt möglicherweise kontraproduktiv. Die augenblickliche Debatte erhöhe die Gefahr, dass Kinder und Jugendliche den Herausforderungen des Internets schlechter gewachsen seien, warnt etwa Markus Appel. Seine Sorge: Wenn Eltern und Lehrer zu einseitig auf die Gefahren der Digitalisierung hinweisen, verbauen sie sich die Möglichkeit, die Nutzungsgewohnheiten Heranwachsender zu beeinflussen.
Dem schließt sich auch der Münsteraner Psychologe und Psychotherapeut Georg Milzner an, der zu diesem Thema gerade das aufschlussreiche Buch Digitale Hysterie veröffentlicht hat. Um mit dem technologischen Wandel mitzuhalten, genüge es nicht, die digitalen Technologien zu verstehen, sagt er. Ebenso wichtig sei, „in einer technisch bestimmten Welt auch mit sich selbst zurechtzukommen. Eine Voraussetzung hierfür ist, sich nicht von falschen Sorgen in die Irre führen zu lassen.“
Die neuen Onlinewelten erfordern von uns Selbstbeschränkung, eine Art digitale Hygiene – und das ist etwas, was man lernen kann. Georg Milzner etwa bekennt, an Wochenenden das Handy häufig auszuschalten. Ganz neu ist dieses Vorgehen nicht: Schon Helmut Schmidt plädierte 1978 in der Zeit dafür, in jeder Woche einen fernsehfreien Tag einzulegen.
Im nächsten Heft: Wie die Digitalisierung unsere Kommunikation verändert
Literatur
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