Symptome haben und trotzdem arbeiten?

Auf Dauer tut es niemandem gut, wenn Mitarbeitende trotz Erkrankung zur Arbeit kommen. Wie wirkt sich die Pandemie auf Präsentismus aus?

Laut Befragungen in europäischen Ländern, beispielsweise von Krankenkassen, haben 60 bis 80 Prozent der Arbeitnehmenden es schon einmal gemacht: Sie fühlten sich krank und gingen dennoch ihrer Arbeit nach. Das Phänomen heißt in den Arbeitswissenschaften „Präsentismus“. Wie wird sich die Coronapandemie, die uns mit einer neuen Gesundheitssituation konfrontiert, hier auswirken? Vor allem diejenigen Unternehmen könnten in die Bredouille kommen, die schon vor der Pandemie zu wenig Augenmerk auf die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden richteten und die generell eine dünne Personaldecke haben, meint die an der Europäischen Fernhochschule Hamburg tätige Psychologieprofessorin Miriam Hägerbäumer im Gespräch mit Psychologie Heute.

Die mit der Pandemie einhergehenden Belastungen werden sich voraussichtlich mit Verzögerung auswirken, weil während der Krise die meisten Erwerbstätigen trotz Erschöpfung und Stress noch durchhalten, meint die Forscherin. Was dann auf uns zukommt, lasse sich derzeit kaum abschätzen.

Vermehrte Möglichkeiten, zu Hause zu arbeiten, dürften sich auf den Präsentismus auswirken: Viele bleiben dann wohl bei einer Erkältung eher zu Hause, wo sie ihre Krankheit besser regulieren können und niemanden anstecken, arbeiten aber trotzdem. Inwiefern sich dies negativ auf die Regeneration auswirkt, ist zum einen von der Schwere der Erkrankung abhängig. Zusätzlich ist die Art der Erkrankung relevant: Gerade bei leichteren Depressionen sei es wichtig, dass Betroffene arbeiten dürfen, bei fiebrigen Erkrankungen hingegen empfiehlt sich Bettruhe. Beim organisationalen Umgang mit Gesundheit sei mit einer Verbesserung zu rechnen: Durch die Pandemie werde sich die Sensibilität für den Gesundheitsschutz in vielen Firmen erhöhen, hofft die Wissenschaftlerin.

Unsicherer Arbeitsplatz, keine Vertretung

Regina Aloia von der Europäischen Fernhochschule Hamburg und Janosch A. Priebe von der Technischen Universität München befragten rund 800 Beschäftigte eines Logistikunternehmens danach, wie oft und unter welchen Umständen sie trotz Krankheit zur Arbeit gingen. Offenbar fördern äußere Umstände diese Neigung: Die Befragten gaben an, es dann zu tun, wenn sie das Gefühl hatten, ihr Arbeitsplatz sei nicht sicher, wenn sie sich vom Vorgesetzten zu wenig unterstützt sahen und auch, wenn es für sie keine Vertretung gab. Eine wichtige Rolle spielte zudem, ob die Befragten eine Führungsposition innehatten oder nicht. Wie Miriam Hägerbäumer erklärt, kann Präsentismus auch positiv motiviert sein – Menschen tun es, weil sie Freude an ihrer Arbeit empfinden und sie sich ihrem Unternehmen, ihren Klientinnen, Kunden und Kollegen und Kolleginnen verpflichtet fühlen.

Arbeitswissenschaftliche Forschungen zeigen, dass Präsentismus – unabhängig von der Motivation – auf lange Sicht schädlich sein kann. Negativkreisläufe können in Gang kommen: Fehlende Regeneration verschlechtert den Gesundheitszustand weiter, was in Folge zu längeren Fehlzeiten und erhöhten Kosten für Organisationen und das Gesundheitssystem führt.

Präsentismus kommt seltener in Unternehmen vor, wo die Arbeitsplätze als sicher empfunden werden, die Mitarbeitenden sich von ihren Vorgesetzten unterstützt sehen und wo sie sich gerecht behandelt fühlen. Äußere Rahmenbedingungen werden auch nach der Pandemie einen Einfluss darauf haben, ob Mitarbeitende trotz Krankheitssymptomen weiterarbeiten, oder nicht, so die Einschätzung von Miriam Hägerbäumer. Sie gelte es, mit der neu gewonnenen Sensibilität für den Wert von Gesundheit, positiv zu beeinflussen.

Regina Aloia, Janosch A. Priebe: Vorschlag eines umfassenden Modells zur Vorhersage von Präsentismus. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 2021. DOI: 10.1026/0932-4089/a000378

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