Kritisier mich nicht!

Ehrliches Feedback von Kolleginnen und Kollegen kann uns weiterbringen. Hören wollen wir es aber trotzdem lieber nicht. 

Foto zeigt eine Frau und einen Mann im Gespräch bei der Arbeit
Kritisiert zu werden, ist für viele äußerst unangenehm. © plainpicture/plainpicture

Konstruktive Kritik ist wichtig und hilfreich. Aber mal Hand aufs Herz: Gibt es in Ihrem Bekanntenkreis Menschen, die Ihr Verhalten offen und ehrlich kritisieren? Wenn Sie solche Personen an den Fingern einer Hand abzählen können, stehen Sie nicht allein da: Die amerikanische Forscherin Francesca Gino von der Harvard Business School fand kürzlich heraus, dass wir uns generell ungern mit Menschen umgeben, die uns kritisches Feedback geben, egal wie gut sie es damit meinen. „Wir neigen dazu, diese Personen aus unserem Bekanntenkreis auszuschließen“, so Gino.

Ehrliches Feedback? Lieber nicht!

Ihre Beobachtung beruht auf einer Untersuchung in einem US-Lebensmittelunternehmen mit mehr als 300 Angestellten. Statt Leistungsbeurteilungen von Vorgesetzten erhielten die Beschäftigten jedes Jahr eine Rückmeldung von ihren Kolleginnen und Kollegen. Zusätzlich sollten alle Mitarbeitenden ihre eigene Arbeit evaluieren. Dabei gaben sie auch an, mit welchen Kolleginnen und Kollegen sie ihre Pausen und Freizeit verbrachten. Francesca Gino und ihr Team werteten Informationen aus insgesamt vier Jahren aus. Dabei stellten sie fest: Mit der Kritikfähigkeit war es nicht weit her.

Beurteilte ein Mitarbeiter auf einer Sieben-Punkte-Skala die Leistung einer Kollegin auch nur einen Punkt schlechter, als diese sich selbst einschätzte, sank die Wahrscheinlichkeit, dass beide im selben Bekanntenkreis bleiben würden, um fast die Hälfte (44 Prozent). „Angestellte, die den kritischen Kollegen nicht einfach aus ihrem Netzwerk ausschließen konnten, begannen wiederum, mehr Zeit mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern außerhalb dieser Gruppe zu verbringen“, berichtet Gino. In anschließenden Experimenten mit rund 900 Freiwilligen fand das Team um die Wissenschaftlerin den Grund heraus: Die Einzelnen fühlten sich von der Kritik bedroht.

Unangenehm - aber nützlich

Menschen sind generell auf ein positives Selbstbild angewiesen und versuchen es zu erhalten, „auch durch das Meiden von Kritik“, sagt Gino. Sie rät jedoch: „Wer seine Arbeitsleistung verbessern möchte, sollte seine Beziehungen zu Menschen, die ihn kritisch hinterfragen, überdenken.“ Ihr Feedback ist zwar nicht angenehm – aber dafür nützlich.

Artikel zum Thema
Schwieriger als die Kunst des Kritisierens ist nur noch, Kritik auszuhalten und anzunehmen. Aber: Ohne negatives Feedback gibt es keinen Fortschritt.
​Von Geburt an ist Lob unser ständiger Begleiter. Es kann ehrlich sein und motivierend. Oder kurzlebig und unberechenbar. ​
In Diskussionen driften Meinungen häufig weit auseinander. Welche Rolle spielen Emotionen dabei?
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute Compact 67: Schwierige Beziehungen
Anzeige
Psychologie Heute Compact 79: Das Leben aufräumen