Wieso haben Menschen überhaupt das Bedürfnis, eine überdauernde, oft bis zum Tod währende Partnerschaft einzugehen? Man könnte sich ja auch von Affäre zu Affäre hangeln, aber das tun und wollen doch die wenigsten.
Neyer: Der Wunsch nach sozialem Anschluss, Vertrautheit und Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Menschen suchen enge Beziehungen, auch und vor allem in einer romantischen Partnerschaft. Ob diese Beziehung allerdings auf die Dauer des ganzen Lebens angelegt sein muss, ist die Frage. Zu…
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diese Beziehung allerdings auf die Dauer des ganzen Lebens angelegt sein muss, ist die Frage. Zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen war und ist das nicht so selbstverständlich. Und auch hier im Westen gibt es durchaus viele Menschen, die nach eher kurzfristigen Liebesbeziehungen suchen. Sie gehen dann eben nicht die eine Ehe, sondern mehrere aufeinanderfolgende Partnerschaften ein.
Nicht selten brechen Beziehungen aber auseinander, obwohl die beiden eigentlich für lange oder sogar für immer zusammenbleiben wollten. In Ihren Langzeitstudien haben Sie nachgewiesen, dass es auch von der Persönlichkeit der beiden Beteiligten abhängt, wie überdauernd und glücklich ihre Beziehung wird. Welche Merkmale bringt ein idealer Beziehungsmensch mit?
Finn: Den „idealen Beziehungsmenschen“ gibt es nicht. Beziehungsglück hängt von so vielen Einflüssen ab. Aber man kann festhalten: Menschen, die von ihrem Wesen her verträglich sind und nach Harmonie und Ausgleich streben, führen in der Regel eine glücklichere Beziehung. Ein wichtiger Faktor ist aber auch emotionale Stabilität. Gute Voraussetzungen haben also Menschen, die nicht zu Ängstlichkeit oder Depressivität neigen und ein hohes Selbstwertgefühl haben, also sich ihrer selbst sicher sind und sich so mögen, wie sie sind.
Besteht denn nicht die Gefahr, dass Männer und Frauen mit einem hohen Selbstwertgefühl in der Beziehung die Hosen anhaben wollen, also sehr bestimmt und dominant auftreten – und den Partner damit nicht zur Geltung kommen lassen?
Finn: Diese extreme Art von Selbstbewusstsein ist damit nicht gemeint. Es geht um Menschen, die mit sich selbst zufrieden und im Reinen sind. Sie strahlen dies auch nach außen aus, und diese Sicherheit wirkt sich positiv auf den Partner und die Partnerschaft aus. Selbstwertgefühl ist also gut für eine Beziehung, aber eine glückliche Beziehung ist auch gut für das Selbstwertgefühl. Dieses Merkmal ist sogar eine Art Gradmesser dafür, wie sehr man sich in der Beziehung aufgehoben und vom Partner gemocht fühlt. Doch natürlich schadet es der Partnerschaft, wenn jemand übersteigert selbstzentriert ist bis hin zum Narzissmus, denn diese Menschen sind unsensibel für die Bedürfnisse ihres Partners.
Neyer: Ein gesundes Selbstwertgefühl zeichnet sich tatsächlich durch eine leichte Form der Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung aus: Man findet sich selbst etwas besser, als man ist. Das ist durchaus günstig und tut nicht nur dem Betreffenden, sondern auch der Beziehung gut. (Siehe auch Heft 5/2016: Ich finde mich prima!) Dies gilt aber nicht für Menschen, bei denen diese Eingenommenheit von sich selbst ins narzisstische Extrem geht. Sie sind gerade in einer Partnerschaft ausgesprochen anstrengend und reagieren wütend, wenn der Partner sie mal nicht so grandios findet wie sie sich selbst (siehe Seite 58).
Was machen Menschen, die sich ihrer selbst sicher sind, ohne sich ins Grandiose zu überhöhen, im Beziehungsalltag anders und besser als unsichere Menschen?
Finn: Selbstbewusste Menschen vertrauen sich dem Partner an und holen sich bei ihm emotionalen Rückhalt, zum Beispiel wenn sie auf der Arbeit Probleme haben oder bei den Kindern etwas nicht rundläuft. In der Partnerschaft selbst sind sie nicht so verletzlich und so fixiert auf Dinge, die schiefgehen könnten. Und sie sind überzeugt, eine Lösung zu finden, sobald Unstimmigkeiten aufkommen. Man traut sich, gegenüber dem Partner auch heikle Dinge an- und auszusprechen.
Neyer: In einer Partnerschaft bleibt es ja nicht aus, dass man sich hin und wieder Kränkungen zufügt oder dass man dem anderen mal nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die er sich wünscht. Eine Person mit einem gesunden Selbstwertgefühl kann damit umgehen und gerät nicht gleich aus der Fassung. Jemand mit einem schwachen Selbstwertgefühl erlebt solche Situationen jedoch gleich als bedrohlich und denkt sich zum Beispiel: „Er ignoriert mich, denn er mag mich nicht mehr. Und er hat ja auch recht – ich bin einfach nichts wert!“
In der Forschung sprechen Sie von einem relationship-specific interpretation bias, einer Denkfalle, die selbstunsicheren Menschen das Beziehungsleben schwermacht.
Finn: Das betrifft vor allem Menschen mit hohem „Neurotizismus“, die emotional nicht sehr stabil sind. Sie nehmen vieles im Leben eher negativ wahr und reagieren daher oft unsicher oder gekränkt. Im Zweifel interpretieren sie harmlose oder allenfalls vieldeutige Verhaltensweisen ihres Partners zu ihren Ungunsten. Wenn der Partner ihnen etwa in einer hektischen Situation sagt, es gebe da noch etwas, was er später in Ruhe mit ihnen besprechen wolle, dann schrillen bei neurotischen Menschen gleich die Alarmglocken: „Mein Gott, er will sich von mir trennen!“ Während emotional stabile und selbstsichere Menschen ganz selbstverständlich davon ausgehen, gemocht und geschätzt zu werden, brauchen die Unsicheren ständig Bestätigungen, dass der Partner sie noch liebt.
Ist dieser Alarmismus nicht harmlos?
Finn: Nicht unbedingt. Denn zum einen fühlen sich die Betreffenden selbst schlecht und traurig, wenn ihre Gedanken sich immer wieder in negativen Szenarien verlieren und sie befürchten, ihr Partner könnte sie verlassen. Zum anderen kann sich das auch auf den Partner auswirken, der sich nun seinerseits unverstanden und permanent verdächtigt fühlt. Die Interpretationsverzerrung eines neurotischen Menschen hat also negative Folgen für beide Partner.
Neyer: Das bedeutet nun aber nicht, dass unsichere, „neurotische“ Menschen dazu verdammt sind, in allen ihren Beziehungen zu scheitern. Denn zum einen kommt es ja nicht nur auf ein einzelnes ungünstiges Merkmal an, sondern auf das Gesamtbild der Persönlichkeit: Man kann Selbstunsicherheit kompensieren mit einnehmenden Eigenschaften wie Zugewandtheit, Umgänglichkeit, Zuverlässigkeit. Zum anderen kommt es natürlich auch immer auf den Partner und dessen Persönlichkeit an, etwa wie geduldig er oder sie reagiert, wie viel Wertschätzung er zeigt oder auch wie viel Humor er mitbringt. Und außerdem kann das Lebensumfeld eine Partnerschaft stabilisieren, zum Beispiel die Tatsache, dass Kinder da sind. Auch eine Paartherapie kann hilfreich sein.
Die Persönlichkeit der beiden Beteiligten beeinflusst also, wie gut ihre Partnerschaft funktioniert. Wird denn auch umgekehrt ein Schuh draus? Also: Verändert eine Partnerschaft die Persönlichkeit?
Finn: Eine Partnerschaft prägt ganz eindeutig die Persönlichkeit. Das gilt besonders für die ersten überdauernden Beziehungen, die jemand im jungen Erwachsenenalter eingeht. Sie führen zu einer insgesamt reiferen Persönlichkeit. Die beiden Partner werden verträglicher und emotional stabiler, das Selbstwertgefühl steigt.
Sie, Herr Professor Neyer, haben das Eingehen einer Partnerschaft in diesem Alter einmal beschrieben als „ein Spiel, bei dem man nur gewinnen kann“.
Neyer: Ja, wir haben diese Persönlichkeitsreifung in mehreren Langzeitstudien gefunden und auch mit Daten aus den USA bestätigt. Wir beobachten bei jungen Leuten Anfang zwanzig ja generell eine Reifung der Persönlichkeit, und dieser Prozess wird durch die erste Partnerschaft noch beschleunigt und verstärkt. Interessanterweise wird dieser Reifungsschritt nicht rückgängig gemacht, wenn dann später die Partnerschaft endet, so schmerzhaft das auch ist. Der Gewinn für die Persönlichkeit bleibt bestehen.
Was genau lässt junge Menschen in einer Partnerschaft so unumkehrbar reifen?
Neyer: Es wird in unserer Kultur als eine wichtige Entwicklungsaufgabe angesehen, eine Beziehung einzugehen und womöglich eine Familie zu gründen. Allein schon die Tatsache, dass man diese Aufgabe gemeistert hat, stärkt in diesem Alter das Selbstwertgefühl. Darüber hinaus trägt die Erfahrung der Sicherheit in einer Beziehung zu dieser Reifung bei.
Aber das ist für die meisten doch keine ganz neue Erfahrung, denn sicher und aufgehoben fühlt man sich auch schon im Elternhaus.
Neyer: Die Eltern-Kind-Beziehung ist stark ungleichgewichtig. Kinder sind abhängig von ihren Eltern und erhalten von diesen viel mehr, als sie zurückgeben. Dagegen begegnen sich romantische Partner auf einer Ebene. Man bekommt vom Partner Sicherheit geschenkt, gibt sie ihm aber auch. Dies zu erproben und zu lernen, darin besteht der Reifungsschritt.
Was ist mit den Frauen und Männern, die in ihren jungen Erwachsenenjahren keinen Partner finden oder es mit keinem lange aushalten? Entwickeln sie sich anders als die Gebundenen?
Neyer: Dies betrifft relativ wenige, zwischen sieben und neun Prozent. Tatsächlich zeigte sich in unseren Studien, dass diese Menschen diesen Reifungsschritt nicht mitmachen. Zum Beispiel stagnierte ihr Selbstwertgefühl, und bei den Männern ging es in einer amerikanischen Studie sogar deutlich zurück. Möglicherweise identifizieren sich Männer besonders stark über ihren Wert auf dem Partnermarkt und empfinden ihren Singlestatus als persönliche Niederlage. Tatsächlich kann es ein Zeichen von psychischen Schwierigkeiten sein, wenn jemand überdauernd keinen Partner findet. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die hoch anschlussmotiviert sind und in einer Partnerschaft viel zu bieten hätten – aber einfach zu schüchtern sind. Die brauchen einfach länger, aber irgendwann kommen sie auch zum Ziel.
Was ist mit Paaren, die sich schon über Jahrzehnte in ihrer Beziehung eingerichtet haben, bei denen die anfängliche Verliebtheit längst in den Hintergrund und die Kinder oder der Beruf stärker in den Vordergrund getreten sind: Prägt die Partnerschaft während dieser langen Lebensmitte noch immer die Persönlichkeit der beiden?
Neyer: Dafür gibt es durchaus Anhaltspunkte. Wir haben bei jungen Erwachsenen gesehen, dass auch in langjährigen Beziehungen deren Einfluss auf die Persönlichkeit noch immer sehr stark ist. Warum sollte das in späteren Jahren anders sein? Wir vermuten, dass dann die Beziehung selbst immer stärker Teil der Persönlichkeit wird und sozusagen in der Persönlichkeit aufgeht. Allerdings bleibt man, so lange die Beziehung auch währen mag, immer die Person, die man ist. Auch wenn man sich verändert: Die individuelle Besonderheit bleibt bestehen, niemand dreht sich in seiner Persönlichkeit um 180 Grad.
Man neigt in langjährigen Beziehungen dazu, sich selbst und den anderen als Einheit zu sehen. Die Grenzen überlappen sich. Der Partner wird zum „erweiterten Selbst“. Was halten Sie von dieser Theorie?
Neyer: Diese self-expansion theory, die auf den Psychologen Arthur Aron zurückgeht, ist weniger esoterisch, als sie vielleicht klingt. Man muss sich das nicht so vorstellen wie bei Tristan und Isolde, wo die beiden in ihrer Liebe so miteinander verschmelzen, dass sie Ich und Du nicht mehr unterscheiden können. Man erlebt eben über die Jahre sehr viele Dinge gemeinsam, die man teilt. Das kann dazu führen, dass man sogar Gemeinsamkeiten zwischen sich feststellt, die gar nicht existieren. Man glaubt, der andere sei so ähnlich wie man selbst, und unterstellt ihm automatisch, dass er eine bestimmte Alltagssituation genauso empfindet und bewertet. Man projiziert also das eigene Erleben auf den anderen. Das hat den „Vorteil“, dass man sich mit dem abweichenden Standpunkt des anderen gar nicht erst auseinandersetzen muss, sich nicht streiten muss. Laut einigen Studien scheint diese positive Illusion der Beziehungszufriedenheit tatsächlich eher zuträglich als abträglich zu sein.
Hätten Sie ein Beispiel?
Neyer: Nehmen wir an, Ihre Partnerin findet auf einer gemeinsam besuchten Party einen anderen Mann attraktiv. Vielleicht schützt die Illusion der Verschmelzung – „Wir beide sind füreinander geschaffen!“ – Sie in solch einer Situation davor, dies überhaupt wahrzunehmen. Die Eifersucht wäre ja wahrscheinlich auch ganz überflüssig.
Ist es denn durchweg eine Illusion, wenn man immer mehr Ähnlichkeiten zwischen dem Partner und sich feststellt? Zum Beispiel dass man über dieselben Witze lacht.
Finn: Auf der Ebene von Interessen kann das durchaus so sein: Man schaut sich im Fernsehen dieselben Filme an, geht in dieselben Ausstellungen. Man bezieht also ähnliche Informationen aus seiner Umwelt. Das führt laut Studien offenbar dazu, dass sich sogar die Intelligenz der beiden Partner über die Jahrzehnte ein wenig anzugleichen scheint. Dafür, dass die Partner auch emotional und in ihrer Persönlichkeit immer ähnlicher werden, gibt es hingegen wenige Anhaltspunkte. Ältere Paare scheinen sich nicht ähnlicher zu sein als jüngere. Vielleicht ist es eher so, dass sich die beiden aufeinander einschwingen: Man weiß, wie der Partner in einer bestimmten Situation reagiert, man entwickelt Rituale.
Neyer: Die wahrgenommene Ähnlichkeit ist immer sehr viel stärker als die tatsächliche Ähnlichkeit – das gilt übrigens nicht nur für Liebesbeziehungen. Menschen suchen eben nach Vertrautheit, und im Zweifel konstruieren sie sich diese Verbundenheit.
Vor einem halben Jahrhundert beschrieb der Psychologe David Bakan zwei widerstreitende Grundbedürfnisse des Menschen. (Siehe den Kasten auf Seite 30.) Wir wollen einerseits eigenständig und frei sein, uns aber andererseits mit anderen verbunden fühlen. Müssen diese beiden Bedürfnisse in einer Partnerschaft gegeneinander ausbalanciert werden?
Finn: Ich denke schon. Einerseits möchte man in einer Beziehung Nähe erfahren – das ist schließlich der entscheidende Grund, überhaupt eine Beziehung einzugehen. Andererseits ist es wichtig, auch etwas Distanz zu halten, um als Person bestehen zu bleiben– also sich Freiräume zu schaffen, den eigenen Interessen nachzugehen, mit Freunden etwas zu unternehmen, eventuell auch mal allein in Urlaub zu fahren – und gleichzeitig zu wissen, dass der Partner eine sichere Basis bildet. Wie diese Balance dann konkret hergestellt wird, ist aber in Beziehungen ganz unterschiedlich und hängt auch von der Persönlichkeit der beiden ab.
Neyer: Manche Menschen brauchen viel Unabhängigkeit, andere eine starke Nähe zum Partner. Dieses Mischungsverhältnis muss immer ausgehandelt werden, sowohl innerhalb einer Person als auch zwischen den Partnern. Forming separations and relations, so hat David Bakan dieses gleichzeitige Herstellen von Nähe und Distanz in einer Partnerschaft genannt. Das ist entfernt vergleichbar mit den Erfahrungen, die ein sicher an seine Eltern gebundenes Kind macht: Von dieser Basis aus kann es die Welt explorieren, aber immer in den sicheren Hafen zurückkehren, wenn die Trennung zu bedrohlich wird.
Wie wichtig ist Sexualität für die Verbundenheit der beiden Partner?
Finn: Das ist noch nicht wirklich geklärt. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass unsicher gebundene Partner die Sexualität dazu nutzen, um Nähe herzustellen. Auch scheinen Männer Sexualität eher als Gradmesser für Intimität anzusehen als Frauen. Aber all das ist empirisch nicht sehr gut belegt.
Neyer: Relativ sicher ist hingegen, dass Bindung und Sexualität zwei unabhängige Verhaltenssysteme sind. Es gibt also durchaus Sexualität ohne Bindung und Bindung ohne Sexualität. Ansonsten gilt, was die Forschung zu Partnerschaft und Sexualität angeht, leider noch immer: „ein dunkler Kontinent“, wie Freud zu sagen pflegte.
Sie beide studieren in Ihren Langzeitstudien – zum Beispiel in der großen Familienstudie „pairfam“ – viele Tausende von Paaren und das Auf und Ab ihrer Beziehungen. Finden Sie darin auch Fingerzeige für Ihren eigenen Beziehungsalltag?
Finn: Diese Forschungsergebnisse sind keineswegs so abstrakt, dass man sie in der Praxis nicht verwerten kann. Wenn man etwa weiß, auf welche Weise man bestimmte Situationen im Beziehungsalltag verzerrt interpretiert und wie das mit der eigenen Persönlichkeit zusammenhängen könnte, ist das durchaus nützlich. Auf der anderen Seite: Wenn man aus seiner Forschung weiß, wie und wann eine Partnerschaft gut und richtig läuft, hält einen das nicht unbedingt davon ab, im Alltag Fehler zu machen.
Neyer: Man ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und reagiert im sozialen Kontext eben häufig doch spontan und unreflektiert, nicht wie ein Wissenschaftler. Man kann dann höchstens im Nachhinein – vielleicht, aber nicht unbedingt besser als andere! – verstehen, was da passiert ist. Aber dann steht schon die nächste Situation vor der Tür.
Wenn Nähe unzufrieden macht
Menschen mit einem hohen Bedürfnis nach Autonomie brauchen Distanz zum Partner
In einer Partnerschaft gilt es, zwei widerstreitende Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen: jenes nach Nähe und Verbundenheit (communion) und jenes nach Distanz und Unabhängigkeit (agency). Honigsüße Harmonie ohne agency ist kein erstrebenswerter Zustand. Doch auch wenn der Unabhängigkeitsdrang eines der Partner stark ist, kann darunter die Beziehung leiden – es sei denn, man entschließt sich von vornherein, eine Beziehung auf (räumliche) Distanz zu führen.
Das ist die Quintessenz einer Studie von Birk Hagemeyer von der Universität Jena und seinen Mitforschern aus München und Berlin. Befragt wurden 332 zusammenlebende Paare sowie 216 Paare, die mit Absicht und ohne beruflichen Zwang in getrennten, aber nahe beieinanderliegenden Wohnungen lebten. Ein Teil der Paare führte außerdem zwei Wochen lang ein Beziehungstagebuch für die Forschung.
Wie zu erwarten, war bei den auf Distanz lebenden Paaren das Grundmotiv nach Eigenständigkeit stärker ausgeprägt als bei den zusammenlebenden. Ein starkes agency-Bedürfnis ging bei diesen Paaren aber nicht zulasten der Beziehungszufriedenheit, denn sie hatten ja die Distanz, die sie brauchten. Bei den zusammenlebenden Paaren hingegen häuften sich Konflikte und Missstimmungen, sobald einer der beiden Partner einen starken Freiheitsdrang innerhalb der Beziehung hatte. Vielleicht frustet das beide Partner, vermuten die Autoren: den einen, weil er sich eingeengt fühlt; den anderen, weil der Partner so wenig Nähe zulässt.
Dieses Missverhältnis spiegelte sich auch in den Tagebüchern: Normalerweise waren die Partner umso zufriedener mit ihrer Beziehung, je mehr Zeit sie an dem betreffenden Tag zusammen verbrachten. Das galt übrigens auch für die getrennt lebenden Paare. Nur jene Probanden, die a) ein hohes Autonomiebedürfnis hatten und b) mit dem Partner zusammenlebten, machte jede zusätzliche zweisam verbrachte Stunde tendenziell eher unzufriedener als glücklicher. Diese Paare wären also vermutlich gut beraten, mehr Abstand zu halten. TSA
Birk Hagemeyer u. .: When “together” means “too close”: Agency motives and relationship functioning in coresident and living-apart-together couples. Journal of Personality and Social Psychology, 109/5, 2015, DOI: 10.1037/pspi0000031
Franz J. Neyer ist Professor und Direktor des Instituts für Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Christine Finn, wurde für ihre Doktorarbeit über die persönlichkeitstypischen Interpretationsverzerrungen in Partnerschaften mit dem Dissertationspreis der Universität Jena ausgezeichnet.