Frau Wiese ist verliebt

Der Nachbarin unserer Kolumnistin rast das Herz, sie bekommt keine Luft und der ganze Körper zittert. Der Auslöser: Herr Schnepp.

Die Illustration zeigt eine Frau mit einer Zigarette im Mund, die verliebt ist
„Sie sind verliebt", sagt die rauchende Therapeutin. Da fängt Frau Wiese an zu paffen © Elke Ehninger

Meine Nachbarin Frau Wiese ist verliebt, das sieht ein Blinder. Ich meine das wortwörtlich. Als Frau Wiese im Vollbewusstsein ihrer brandneuen, haushohen Liebe durch den Flur schwebt, stehe ich mit der blinden Frau Dr. Jahn aus dem Erdgeschoss vor den Briefkästen. Als Frau Wiese an uns vorbeigeschwebt ist, schaut Frau Dr. Jahn ihr lange hinterher, ohne sie zu sehen, und fragt dann: „Ist Frau Wiese frisch verliebt?“ „Aber hallo“, sage ich.

Was mich an Frau Wieses Liebesgeschichte besonders rührt, ist, dass…

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hallo“, sage ich.

Was mich an Frau Wieses Liebesgeschichte besonders rührt, ist, dass ihr Verliebtsein sich in einer Panikattacke versteckt hatte. Vor ein paar Monaten bekam sie in der Straßenbahn plötzlich Herzrasen, Schweißausbrüche, Luftnot und einen irrsinnigen Tremor, ihr ganzer Körper bebte, und seither traute sich Frau Wiese in kein öffentliches Verkehrsmittel mehr. Frau Wiese fuhr jetzt nur noch mit dem Taxi zur Arbeit, und weil das ins Geld ging, ging Frau Wiese schließlich zu einer Verhaltenstherapeutin. Luftnot bekam sie auch da, erzählte Frau Wiese, denn die Verhaltenstherapeutin war Kettenraucherin, ihre Praxis war vollständig zugequalmt. „Entschuldigen Sie bitte, aber ist das überhaupt erlaubt“, war es aus Frau Wiese am Ende der ersten Sitzung herausgeplatzt, „dass Sie während Ihrer Sitzungen rauchen?“ Die Therapeutin blies einen exzellenten Rauchring in die dicke Luft. „Sie müssen mich schon nehmen, wie ich bin“, sagte sie zu Frau Wiese, „ich nehme Sie ja auch, wie Sie sind, Sie Angsthase.“ Frau Wiese war zu Recht brüskiert, aber auch ein bisschen beeindruckt.

Eingehaltene Liebe statt Panikattacke

Nach guter Therapeutenart fragte die Therapeutin, wann die Panik zum ersten Mal aufgetreten sei. „Auf der Fahrt zur Arbeit“, sagte Frau Wiese. „Was ging Ihnen kurz vorher durch den Kopf?“, fragte die Therapeutin. Frau Wiese antwortete: „Schnäppi ging mir durch den Kopf“, und ihre Augen leuchteten dabei. Die Therapeutin beugte sich vor und blitzte Frau Wiese an. „Was ist Schnäppi?“, fragte sie. Und dann erzählte Frau Wiese von ihrem Arbeitskollegen Herrn Schnepp, Schnäppi genannt, den sie jeden Morgen in der Straßenbahn treffe. Sie erzählte von Schnäppis makelloser Schönheit: Gewitterblaue Augen habe er und einen Wuchs wie eine Zypresse, volles rabenschwarzes Haar und klug sei er und lustig und einfach rundweg wunderbar. „Luftnot, Schweißausbrüche, Herzrasen, Tremor, Schnäppi“, resümierte die Therapeutin, „Sie haben keine Panikattacke, Sie haben eingehaltene Liebe“, und ich stelle mir gern vor, dass sie dabei ihre hoffentlich in staubigen Cowboystiefeln steckenden Füße auf ihren Schreibtisch legte.

Frau Wiese beschloss, Herrn Schnepp ihre Liebe zu offenbaren, auch weil die Therapeutin versprochen hatte, dass sie dann wieder Straßenbahn fahren könne. Nachdem sich Frau Wiese die Offenbarung zweimal nicht zugetraut hatte, sagte die Therapeutin: „Betrinken Sie sich. Dann fluppt’s.“ Frau Wiese klingelte bei mir und fragte, ob ich Alkohol im Haus habe, sie müsse sich auf ärztlichen Rat volllaufen lassen, damit die Liebe herausfluppen könne. Unter dem Einfluss einer Flasche schweren Rotweins schaffte es Frau Wiese endlich, die Liebe nicht mehr einzuhalten, sondern sich Herrn Schnepp zu offenbaren, sie rannte da zum Glück sperrangelweit offene Türen ein, und seither gibt es kein Halten mehr, und die Panikattacke in der Straßenbahn ist von gestern, allerdings hat Frau Wiese jetzt angefangen zu rauchen.

Letzte Woche bin ich Herrn Schnepp zum ersten Mal auf der Treppe begegnet. Sein Wuchs war in meinen Augen nicht der einer Zypresse, sondern der einer gebeutelten Kiefer, sein schütterer Pferdeschwanz erinnerte an das, was man nach dem Fegen aus dem Besen zupft, das mutmaßliche Gewitterblau seiner Augen war hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen, und er roch sehr stark nach einem Herrenduft im Angebot. Herr Schnepp lächelte freundlich, ich lächelte zurück. Schnäppi, dachte ich, haben wir ein Glück, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt, hast du ein Glück, dass deine Betrachterin Frau Wiese ist, denn in deren Augen liegt deine vollumfängliche makellose Schönheit.

Wir vermessen verschiedene Lieben

„Wie sieht sie denn aus, Frau Wieses Liebe?“, fragt mich Frau Jahn vor den Briefkästen. „Da gehen die Meinungen auseinander“, sage ich, „Frau Wiese sagt, er ist eine Zypresse mit vollem Haar.“ Frau Wiese, die eben an uns vorbeigeschwebt ist, war eingehüllt in Herrn Schnepps heruntergesetzten Herrenduft, Reste davon liegen noch in der Luft. Frau Dr. Jahn schnuppert und seufzt. Frau Dr. Jahn, man sieht es ihr deutlich an, ist ein bisschen neidisch auf Frau Wieses haushohes Verliebtsein. „Ich bin dieses Jahr fünfundzwanzig Jahre verheiratet“, sagt sie. „Glückwunsch“, sage ich. Und weil meine Nachbarn in letzter Zeit sehr freigiebig mit ihren Liebesgeschichten sind, erzählt Frau Dr. Jahn, die sehr nachhaltige Liebe zu ihrem Mann habe über die Jahrzehnte an Tiefe gewonnen, und das sei natürlich unschätzbar viel wert, aber heimlich hätte sie zu all der Tiefe auch gern noch mal ein bisschen mehr Höhe, „ein bisschen mehr Bitzel“, sagt sie. Wir stehen vor den Briefkästen und vermessen verschiedene Lieben, wir prüfen Tiefe und Höhe, bis Frau Dr. Jahn sagt: „Könnten Sie mal nachsehen, ob ich Post habe?“, und mir ihren Schlüsselbund in die Hand drückt.

Ich öffne Frau Dr. Jahns Briefkasten und hoffe heimlich, dass ich darin einen Brief finde, der mit vor Aufregung zittriger Schrift an Frau Dr. Jahn adressiert wurde, ein Brief, den Frau Dr. Jahn mich sofort zu öffnen und vorzulesen bittet, ein Brief, in dem von nicht länger zurückzuhaltender Liebe die Rede ist. Im Briefkasten liegt aber nur die von Herrn Dr. Jahn abonnierte Hörzu. „Na ja“, sagt Frau Dr. Jahn, „ich muss dann jetzt auch mal zurück. Mein Mann wartet schon.“

„Bis bald dann“, sage ich und denke, hoffentlich wartet Herr Dr. Jahn haushoch, hoffentlich hat er Luftnot, Schweißausbrüche, Ganzkörpertremor und Herzrasen.

Mariana Leky stand mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann über ein Jahr auf der Spiegel-Bestseller­liste. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn ­Psychoanalytiker

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 11/2019: Mut zur Angst