Luststress

David leidet unter Erektionsproblemen, die zu Enttäuschung und Frustration führen. Was braucht er, um sich beim Sex zu entspannen?

Ein nackter Mann mit verschränkten Armen vor dem Oberkörper hat als Scheuklappen zwei Smartphones vor den Augen und nutzt Dating-Apps
In der Jugend war er schüchtern, in der Internetpornografie konnte er sich sexuell ausleben. Dann kam zu Erektionsproblemen. © Michel Streich

Kurz nach seinem Feierabend schaltet sich David, 30 Jahre, in die Videokonferenz mit mir. Er wohnt in einer weit entfernten Stadt, und wir treffen uns daher online zur Therapie. Die letzte Sitzung liegt schon einige Wochen zurück. In Davids stets höflicher, fast förmlicher Art schwingt heute eine freudige Unruhe mit. „Ja, Frau Eck“, beginnt er, „seit dem letzten Mal hat sich tatsächlich etwas verändert: Ich habe eine Frau kennengelernt. Wir haben uns jetzt schon mehrere Male getroffen, und es ist schon…

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Wir haben uns jetzt schon mehrere Male getroffen, und es ist schon etwas verbindlicher zwischen uns, denke ich.“ Er strahlt, als er meine Freude bemerkt.

Ursprünglicher Anlass für die Therapie war allerdings nicht die unerfüllte Sehnsucht nach einer verbindlichen Liebesbeziehung gewesen, sondern die erektile Dysfunktion Davids. Bei unse­rem ersten Gespräch hatte er von dem Stress berichtet, den es ihm bereitet hatte, mit Frauen, die er über Tinder getroffen hatte, nach dem üblichen kurzen Kennenlernen in einer Bar sexuell aktiv zu werden. Jedes Mal hatte er in seinen Augen „versagt“, weil er keine Erektion zustande bekommen hatte, obwohl er gerne mit der jeweiligen Frau geschlafen hätte oder, na ja, mit den meisten.

Er hatte bemerkt, dass es ihm komischerweise etwas leichter fiel, sich mit den weniger gutaussehenden zu trauen, aber dann stachen ihm unansehnliche Merkmale ins Auge, die sich am Ende – sprich: im nackten Zustand – abtörnend ausgewirkt hatten. David war es zunächst unangenehm, mir dies Detail zu berichten, weil diese Bewertung von Frauen so machohaft klang, dass es David selbst widerstrebte.

Er konnte aber nichts dagegen machen. Bei den in seinen Augen sehr attraktiven Frauen wurde er wiederum so nervös, dass der Stress die Lust fast unmöglich machte. Die Frauen waren zwar meist freundlich und mehr oder weniger souverän mit seinem Penisproblem umgegangen, aber jedes Date war ohne Wiederholung geblieben. David suchte nach einem Ausweg, was für ihn hieß: einen erigierten Penis und ein Date zusammenzubringen. In der Selbstbefriedigung war die Erektion bislang nie ein Problem gewesen. Neun von zehn Malen schaute er dazu Pornos an.

Digitaler Beziehungsmarkt 

An Davids Situation zeigt sich für mich das Zusammenspiel individueller Muster mit bestimmten Kontextfaktoren. Schüchternheit kannte er seit seiner Kindheit. In der Jugendzeit hatte er sich nie an Mädchen herangetraut, auch wenn er für sie schwärmte. Emotional gefahrlos konnte er sich allerdings sexuell mit Internetpornografie ausleben.

Wie viele Jungs seiner Generation wurde David damit groß. Mit Mitte zwanzig wuchs der Wunsch nach „echtem Sex“ bei David, so begann er, Dating-Apps zu nutzen. Seine Schüchternheit und sein generell hoher Leistungsanspruch trafen auf einen digitalen Beziehungsmarkt, dessen Spielregeln wenig emotionale Sicherheit bieten und hedonistische Sexwünsche in den Vordergrund rücken. Interessant, dass David diese Bedingungen noch nie bewusst angesehen oder hinterfragt hatte, ehe wir darüber ins Gespräch kamen.

Erektion ohne „Porno-Idealbild“?

In der Therapie arbeiteten David und ich zunächst seinem Anliegen gemäß auf eine Verbesserung der sexuellen Funktion hin. Er lernte über Wochen hinweg, das Stressgeschehen in seinem Organismus – die Muskelspannung, flache Atmung und hohen Puls – genauer zu beobachten und bei der Selbstbefriedigung zu verändern. Anstatt sich gedanklich anzupeitschen, gewöhnte er sich an, vom Körper auszugehen und Stressspannung zu lösen.

Das für ihn störende „Porno-Idealbild“ von Frauen wollte er für sich relativieren, also ließ er den Stimulus immer öfter weg, auch wenn es ihm etwas schwerfiel und anfangs die Erektion ohne Film mühsamer zu erreichen war. David merkte allmählich, dass er seinen Körper besser wahrnehmen konnte, wenn er nicht auf den Bildschirm starrte. Ich war erstaunt darüber, dass er an verschiedensten Körperstellen Erregung wahrnehmen konnte, wie er erzählte. Er weckte buchstäblich seine Sinne auf.

Nach einiger Zeit begann ich, David andere Fragen zu stellen: „Wie gefällt Ihnen Ihr Leben insgesamt? Was genießen Sie?“ David wurde traurig, als er bemerkte, wie sehr er seit seinem Einstieg ins Berufsleben von den eigenen Leistungsansprüchen getrieben war und darüber vergessen hatte, wie das Leben sich bunt und genussvoll erleben lässt. Er begann in der Folge damit, die Tasse Kaffee zwischen zwei Meetings zu genießen, mehr zu Fuß zu gehen und gezielter Freunde zu kontaktieren.

Sex Dates: anstrengend und erektil wackelig

Und die Dates? Diese erlebte David weiterhin als sozial stressig und erektil wackelig, aber ein Potenzmittel unterstützte ihn dabei, sich auch hier etwas zu entspannen und neue Erfahrungen ein wenig zu genießen. Ich sagte ihm, dass der Kontext „Dating und unverbindlicher Sex“ viele Menschen verunsichere und für einen Penis, der sensibel auf Stress reagiere, aber logischerweise in diesem Setting der front man sein sollte, nicht der günstigste sei.

Mein Rat war, nicht gleich beim ersten Treffen Sex anzustreben, sondern sich mehr Zeit zu geben und das Risiko in Kauf zu nehmen, dass die Frau dann das Interesse verlieren könnte. Ich unterbreitete David meine Vermutung, dass sein Penis in einer vertrauensvollen Beziehung, in der es auch ein bisschen um die Verbindung und nicht nur die Geschlechtsteile gehen dürfe, sich wie ein aufgeregtes Tier peu à peu sicherer fühlen und zum aktiveren Mitspieler entwickeln könnte. Das sah er ein, hatte aber Angst, dass Frauen die Geduld für ein langsames Kennenlernen nicht aufbringen würden.

Umso gespannter bin ich, heute zu erfahren, was es mit der neuen Beziehung auf sich hat. „Ich glaube, Julia ist ernsthaft an mir interessiert und, was die Erektion betrifft, extrem entspannt. Das tut mir gut, und es hat sogar schon ohne Tablette einmal geklappt, als ich sie vergessen hatte. Nicht perfekt, aber ganz okay. Und sie ist auch so ein netter Mensch, es macht Spaß, mit ihr Zeit zu verbringen.“

Fokus auf ihre Reize

Wenige Momente später verdunkelt sich Davids Gesichtsausdruck auf dem Bildschirm. Er wiegt den Kopf und blickt zu Boden, während er nervös auf seinem Stuhl wippt. „Aber ich möchte da noch etwas mit Ihnen besprechen: Sie, also Julia, gefällt mir schon, auch optisch, aber ich merke, dass mich ein paar Kleinigkeiten an ihrem Äußeren doch irritieren, und das kann mich beim Sex aus dem Konzept bringen. Das beschäftigt mich. Ob es richtig passt zwischen uns. Oder ob das noch mit den Pornos zu tun hat. Verstehen Sie?“

Ich verstehe, und zwar so: „Sie haben gerade gewagt, sich in der realen Welt auf eine reale Frau einzulassen. Dass Ihre jahrzehntelang auf surreal makellose Körperreize trainierte sexuelle Anziehung sich nicht von heute auf morgen umstellen lässt, ist vollkommen klar. Geben Sie sich etwas Zeit, sich daran zu gewöhnen, ohne über Irritationen zu besorgt zu sein. Erst nach längerer Zeit werden Sie klarer sehen, ob das offenbar tolle Gesamtpaket Julia auch sexuell passend für Sie ist oder nicht. Jetzt ist es viel zu früh, um das entscheiden zu können. Hätten Sie Lust, einmal zu schauen, wie Sie mit der Gemengelage am sinnvollsten umgehen könnten?“

Natürlich hat er das, denn er mag diese Frau und die Aussicht auf Zugehörigkeit. In dieser Stunde werden David und ich darüber sprechen, wie er seine Aufmerksamkeit beim Sex von störenden Anblicken hin zu den Dingen lenken kann, die er anziehend findet: ihren Blick, ihren Hintern und die Beine. Wie er ihr sagen kann, in welchem Outfit er sie besonders schön findet, so dass es ein reines Kompliment und kein Optimierungsvorschlag sein wird. Der Schlüssel zur Lösung der Situation wird später aber vor allem wieder darin liegen: dass David es sich erlauben wird, Julias Hunger auf Sex ein wenig zu bremsen, bis er selbst sich in ihrer Gegenwart so entspannt haben wird, dass alle seine Sinne offen und bereit für Schönes sein können.

Angelika Eck ist promovierte Diplompsychologin und systemische Einzel-, Paar- und Sexualtherapeutin in eigener Praxis. Ihr Buch Schlafzimmerblick. Liebe, Sex und Partnerschaft – ehrliche Antworten auf heikle Fragen ist 2021 bei Harper­Collins erschienen. Unter life­lessons.de ist ihre praktische therapeutische Arbeit zu sehen.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 12/2021: Gelassen durch ungewisse Zeiten