Die Frau, die nicht knurren konnte

Therapiestunde: Der Ehemann verletzt seine Frau immer wieder verbal, lehnt eine Paartherapie jedoch ab. Kann ihr im Einzelgespräch geholfen werden?

Die Illustration zeigt einen Mann mit einer Sprechblase in Form eines bissigen Wolfes und eine Frau mit einer Denkblase mit einem braven Hündchen darin
„Das täte er doch nicht, wenn er mich nicht lieben würde“, sagt die Patientin über ihren Mann, der sie jedoch regelmäßig verbal verletzt. © Michel Streich für Psychologie Heute

„Mein Mann ist eigentlich ein guter Mann. Sonst hätte ich es nicht so lange mit ihm ausgehalten. Er tut alles für die Familie – nun ja, fast alles, weil er mich immer ganz schlimm verletzt. Allmählich bin ich misstrauisch geworden, ich gefalle mir schon selbst nicht mehr, wie ich mit ihm umgehe, so defensiv, manch­mal richtig kalt. Vielleicht kann ich ja auch allein etwas ändern. Ich habe immer gedacht, wir sollten eine Paartherapie machen, wie meine Freundin, die Sie empfohlen hat. Aber er will natürlich…

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wir sollten eine Paartherapie machen, wie meine Freundin, die Sie empfohlen hat. Aber er will natürlich nicht mitkommen, er sagt, es ist doch schon viel besser geworden, und außerdem ist er nicht aggressiv, nur temperamentvoll, und es wäre alles in Ordnung, wenn ich nur zufrieden wäre.“

Marlene G. arbeitet als Lektorin in einem Schulbuchverlag; ihr Ehemann Jürgen ist Gymnasiallehrer, der einzige Sohn studiert in Wien. Sie ist konservativ, aber stilsicher gekleidet und dezent geschminkt. Als sie von ihrer Kälte spricht, treten Tränen in ihre Augen, die sie mit einem offenbar schon bereitgehaltenen gebügelten Stofftaschentuch abtupft.

„Blöde Kuh!“

„Was ist das, wodurch Ihr Mann Sie so verletzt? Ist er gewalttätig?“ Sie erschrickt. „Um Gottes willen, nein, das würde er nie tun. Er ist aggressiv, er sagt schlimme Dinge.“ „Was sagt er denn genau?“ Sie zögert. „Ja, schlimme Worte eben!“ In mir meldet sich eine Empfindung, primitiv und grausam zu sein, wenn ich darauf bestehe, dass Frau G. „die schlimmen Worte“ selbst in den Mund nimmt, die ihr Mann gebraucht. Aber ich bestehe darauf. „Welche schlimmen Worte? Sagen Sie einfach das Schlimmste!“ „Er hat mich einmal blöde Kuh gescholten. Oder Zicke.“

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Sie tupft wieder Tränen aus dem Augenwinkel. „Er schreit mich an. Das ist so würdelos. Wenn er merkt, dass ich mich zurückziehe, schimpft er, dass ich so empfindlich bin. Aber dann tut es ihm auch leid und er entschuldigt sich, bringt mir Blumen mit. Er möchte auch mit mir schlafen, aber ich mag dann nicht – obwohl es mir fehlt, wenn wir so nebeneinander her leben. Irgendwann komme ich dann drüber weg. Aber ich habe das Gefühl, dass das jedes Mal schwieriger wird, wenn er mich so unter der Gürtellinie trifft.“ „Und wann hat das angefangen? Einer blöden Kuh macht man doch keinen Heiratsantrag.“

Sie lächelt ein wenig, ein gutes Zeichen. „Nein, da hat er immer gesagt, ich sei die große Liebe für ihn und eine tolle Frau. Als dann das Kind kam, wur­de es schwierig. Ich meine, er kommt aus einer Arbeiterfamilie, er ist der erste Sohn, der studiert hat, er hat gelesen wie ein Besessener und kennt die deutsche Literatur besser als ich. Ich dagegen komme aus einer Akademikerfamilie, mein Großvater war Anwalt und mein Vater Lehrer.

Anfangs hat es mir gefallen, dass mein Mann irgendwie anders war, wilder, er hatte lange Haare und spielte Fußball. Bei mir zu Hause war alles wie in einem Korsett. Daher wollte ich auch nicht Lehrerin werden, obwohl ich Germanistik studiert habe. Und dann habe ich einen Mann geheiratet, der ganz anders war als mein Vater. Er hat sich sehr um mich bemüht. Ich wurde erst nicht schwanger. Als endlich unser Sohn kam, er ist im Reagenzglas entstanden, fing es an, dass mein Mann immer wieder die Beherrschung verloren hat.“

Von Kritik zum Konflikt

„Können Sie sagen, was seine Ausbrüche auslöste?“ „Wenn ich ihn korrigierte, ihm sagte, dass er ein Vorbild für den Jungen sein soll. Wenn ich sein Verhalten mit dem meines Vaters verglichen habe, das war ganz schlimm, das habe ich nur selten gemacht, da habe ich verstanden, dass das nicht richtig war. Oder wenn wir Besuch hatten und ich ihn nachher kritisiert habe, dass er zu viel getrunken und sich danebenbenommen hat. Schlimm ist es auch beim Autofahren, da wird er heute noch wütend, wenn ich sage, dass er zu dicht auffährt und es mich nervt, wenn er jemand an der Ampel anhupt, weil der nicht schnell genug losfährt.“

„Also haben diese Konflikte angefangen, als Ihr Sohn auf die Welt kam. Kann es sein, dass Sie damals von Ihrem Mann erwartet haben, er müsse mehr so werden wie Ihr Vater?“ „Aber ich habe doch eingesehen, dass das ein Fehler war. Ich habe mich geändert. Ich sitze hier. Und er macht einfach so weiter!“

„Hat er nicht gesagt, dass es schon besser geworden ist?“ „Seltener. Aber wenn es dann doch wieder passiert, bin ich auch mehr enttäuscht als früher.“ „Haben Sie schon darüber nachgedacht, sich zu trennen?“ „Gedacht, ja.“ Sie weint wieder.

„Aber dann hat mein Mann mir einen Hund gekauft, als unser Sohn ausgezogen ist. Ich fand das so lieb, ich habe mir immer einen Labrador gewünscht, aber er hatte bisher gesagt, Tiere gehören aufs Land, nicht in die Stadt. Ich bin oft verwirrt. Das täte er doch nicht, wenn er mich nicht lieben würde. Aber er kann mich doch nicht lieben, wenn er mich anschreit und beschimpft, nur weil ich etwas sage, was ihm nicht passt!“

Knurren und Beißen

„Kennen Sie das Sprichwort A cornered rat will bite the cat? In die Ecke gedrängt, beißt die Ratte die Katze?“ „Sie meinen, er beißt nur, wenn ich ihm keinen Ausweg lasse? Aber ich würde ihn nie anschreien!“

„Aber Sie sind ihm überlegen, weil Sie für die akademische Welt stehen, in die er sich erst hineinarbeiten musste. Und weil Sie gerade nicht schreien, sondern ihm vermitteln, dass er sich unmöglich benimmt!“

Sie lächelt scheu. „Dann wäre ich die Katze? So habe ich das noch nicht gesehen.“ „Sie haben am Anfang unserer Sitzung gesagt, dass Sie gerne herausfinden wollen, was Sie tun können, weil ja Ihr Mann nichts von einer Paartherapie hält. Mir sind da zwei Gedanken gekommen: einmal der mit der Ecke, in die sich Ihr Mann gestellt fühlt, weil er keine so gute Erziehung genossen hat wie Sie. Je weniger Sie ihn da hineintreiben, desto weniger wird er beißen. Das heißt: Er beißt ja nicht, er knurrt und bellt. Das ist der zweite Gedanke: Vielleicht können Sie ja sein Geschimpfe umdeuten. Es ist wie das Knurren und Zähneblecken in einem Wolfsrudel, wenn ein Wolf dem anderen klarmacht, dass dieser dabei ist, eine Grenze zu überschreiten. Kurz geknurrt und schon wieder vergessen!“

Das Knurren nicht nachtragen

Sie blickt streng. „Heißt das, Sie finden es normal, dass ich beschimpft werde?“ „Nein, gewiss nicht. Wenn ich zaubern könnte, würde ich Ihnen sofort einen Mann herbeizaubern, der so normal ist wie Sie. Aber da Sie sich nicht trennen wollen und viel Liebenswertes an ihm finden, wäre es doch auch in Ihrem Interesse, ihm sein Knurren nicht nachzutragen, wenn er sich entschuldigt hat. Es wäre doch sicher auch für ihn einfacher, wenn Sie gerade so wie er knurren und ihn sofort in seine Schranken weisen könnten!“ Jetzt lächelt sie wieder. „Ich fürchte, das Knurren und Zähnezeigen habe ich schon früh verlernt.“

„Das kann ich mir vorstellen. Aber so ganz verlernen wir das nie, wir verstecken es eher. Sie kennen ja das Wort von den Gewissensbissen.“ „Ja, die plagen mich viel mehr als meinen Mann!"

„Vielleicht wäre es ein Ziel, dass Sie herausfinden, wie Sie einander ergänzen. Gegenwärtig kämpfen Sie um eine Norm, und jede Seite hat das Empfinden, sich für die Beziehung aufzuopfern. Aber womöglich sind Sie schon ein gutes Team, nur wissen Sie es nicht und erwarten mehr Anpassung an die eigenen Vorstellungen!“

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Sie bemerkt es sofort und will aufstehen. „Noch einen Augenblick“, sage ich. „Ich würde vorschlagen, wir treffen uns noch einige Male, um herauszufinden, was Sie mit dem anfangen können, was wir heute besprochen haben. Sie können es sich auch noch überlegen und mir Nachricht geben!“ „Das muss ich nicht“, sagt sie entschlossen. „Wann wäre der nächste Termin?“

Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. Sein Buch Du bist schuld! Zur Paar­analyse des Vorwurfs ist 2020 bei Klett-Cotta erschienen

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2022: Nein sagen lernen