Kampf um Identität

In der erzählenden Jugendliteratur wimmelt es von beschädigten jungen Frauen. Warum ist ihr Schicksal für junge Mädchen so anziehend?

Marie ist achtzehn Jahre alt und lebt in einer betreuten Wohngruppe für psychisch kranke Mädchen. Sie trinkt zu viel, hat wahllos Sex, kann keine nahen Beziehungen aushalten. Immer wieder verfolgen sie Gedanken an ihre gewalttätige Mutter. Dann richtet sie ihre Wut und ihren Hass gegen sich selbst: „Ich nehme die versteckte Rasierklinge aus dem doppelten Boden meines Nachtkästchens und schneide mich tief. Mit jedem Zentimeter Haut, den ich durchtrenne, gebe ich ihr einen Zentimeter der Schuld zurück. Ich…

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Haut, den ich durchtrenne, gebe ich ihr einen Zentimeter der Schuld zurück. Ich will meine Mutter spüren lassen, dass sie Schuld hat an mir und daran, wie ich bin.“

Marie ist die Hauptfigur von Sandra Weihs’ Roman Das grenzenlose Und, der jüngst den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung für das beste deutschsprachige Debüt erhielt. Die österreichische Sozialarbeiterin Weihs erzählt darin sehr realistisch aus dem Leben einer jungen Frau, die an einer Borderlinestörung erkrankt ist. Weihs’ Hauptfigur Marie kann sich mühelos einreihen in eine lange Reihe von adoleszenten Romanheldinnen, die fressen oder hungern, wahllos Sex haben, trinken, sich mit Rasierklingen ritzen und ganz allgemein auf einem intensiven Trip der Selbstzerstörung sind. Es wimmelt nur so von depressiven, suizidalen, gequälten, um sich selbst kreisenden jungen Mädchenfiguren. Oder eine Alternative: von krebskranken Heldinnen, die mutig gegen die tödliche Bedrohung durch ihren eigenen Körper kämpfen, um am Ende meist doch dahinzuscheiden.

Das ist umso erstaunlicher, als die Realität hierzulande ganz anders aussieht. Den allermeisten Jugendlichen in Deutschland geht es gut oder sehr gut. Knapp 90 Prozent der 11- bis 17-Jährigen geben der eigenen Gesundheit Bestnoten, so die jüngste KiGGS-Studie des Robert-Koch Instituts, die größte Datensammlung zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Es gibt keinen Zuwachs an psychischen Auffälligkeiten bei jungen Menschen, nach wie vor ist allerdings jeder fünfte Jugendliche gefährdet, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Ein ähnliches Bild zeichnet die Shell-Jugendstudie 2015, die Jugendlichen in Deutschland im Großen und Ganzen eine positive Grundhaltung und ein stabiles Wertesystem attestiert. Zwar beobachten auch hier die Forscher um den Soziologen Klaus Hurrelmann eine soziale Spaltung in 80 Prozent gut positionierte und fast 20 Prozent sozial „abgehängte“ Jugendliche – aber dennoch erhöhte sich die Zahl der optimistisch eingestellten Jugendlichen stetig.

Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa

Auch die Beziehung zu den eigenen Eltern scheint besser und besser zu werden. „Mehr als 90 Prozent der Jungen und Mädchen pflegen ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern“, erklären die Autoren der Shell-Studie. „Fast drei Viertel würden ihre Kinder ungefähr so oder genauso erziehen, wie sie selbst erzogen wurden.“ Die Werke der erzählenden Jugendliteratur jedoch sind nicht nur voll von gestörten jungen Protagonistinnen, sondern auch von unfähigen, labilen Eltern. „Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa“, schreibt die Berliner Autorin Stefanie de Velasco in ihrem Jugendroman Tigermilch über zwei Vierzehnjährige, die Weinbrand trinken wie Mineralwasser und aus Neugier regelmäßig auf den Babystrich gehen.

Dass die Eltern der Hauptfiguren krank oder tot sind, kennt man bereits aus der Kinderliteratur – ob Harry Potter, die Brüder Löwenherz oder Tom Sawyer, die spannendsten Geschichten ereignen sich dann, wenn Kinder sich allein durchschlagen und entwickeln müssen. „Erwachsene sind Aufpasser, sie bremsen den Lauf der Handlung“, findet auch Monika Osberghaus, Verlagsleiterin bei Klett Kinderbuch. „Für die Geschichte ist es gut, wenn sie weg sind.“ Doch auch sie beobachtet, dass in vielen Kinder- und Jugendbüchern von heute die Eltern so schwach sind, dass ihre Kinder sich um sie kümmern müssen. „Von Kindern wird gerade viel erwartet in der Literatur“, sagt Osberghaus. „Die sollen alles allein hinkriegen. Dahinter stecken die Wünsche der Erwachsenen. Man hätte gern, dass die Kinder für uns die Welt retten.“

Können sich Mädchen mit kranken Heldinnen besser identifizieren als mit gesunden?

Natürlich gibt es im Jugendbuchbereich auch literarische Gattungen, die in der Gestaltung ihrer Protagonistinnen andere Schwerpunkte setzen: Im verkaufsstarken Fantasybereich etwa kämpfen heldenhafte junge Frauen gegen das Böse wie Katniss Everdeen in Suzanne Collins’ Bestsellerreihe Die Tribute von Panem. In der knallpinken „Girlie-Literatur“ dreht sich die Welt der stereotyp gezeichneten Teeniemädels vorrangig um Jungs, Klamotten oder Pferde – oder alles gleichzeitig. Die „Chick-Lit“, die anspruchslose Mädchenliteratur, präsentiert fröhlich-neurotische Heldinnen auf der Suche nach der großen Liebe und dem richtigen Paar Schuhe. Doch das erzählende Jugendbuch, die Gattung mit dem vielleicht höchsten literarischen Anspruch und den freiesten Gestaltungsmöglichkeiten, feiert die Schwäche ihrer Heldinnen. „Sick-Lit“ statt „Chick-Lit“. Längst nicht alle Protagonistinnen überleben das. In dem hochgelobten Roman Und auch so bitterkalt von Lara Schützsack etwa bleibt offen, ob die Hauptfigur Lucinda ihre Magersucht am Ende überleben wird oder nicht. Kurz bevor der Rettungswagen kommt, verschwindet das abgemagerte und entkräftete Mädchen aus seinem Krankenbett, um nie wieder aufzutauchen.

Selbstzerstörung statt Weltverbesserung? – Das hört sich an wie ein Rückgriff in die Mottenkiste der Geschlechterrollen. Beatrice Wallis, Cheflektorin Kinderbuch bei Beltz & Gelberg, hat den Eindruck, dass der Jugendliteraturmarkt die aktuelle Haltung von jungen Mädchen zum Feminismus widerspiegelt. „Wir haben alles erreicht, wir dürfen alles, nun interessiert uns der Feminismus nicht mehr“, sagt die Verlagsfrau Wallis. „Es gibt in der Jugendliteratur viele Beispiele von Mädchen, die konform agieren und festhängen in ihren Mädchenrollen. Aber es gibt auch Gegenbeispiele. Allerdings ist es nicht so einfach, alternative Rollenbilder anzubieten. Ein Großteil der Leserinnen möchte nicht mit neuen Bildern konfrontiert werden.“

Hinwendung zu den schmerzlichen Seiten des Lebens

Wo sind sie hin, die anpackenden und selbstbewussten jungen Protagonistinnen mit individuellem Charakter? Es scheint, als ob die schwache, kranke Protagonistin heute besser zur Identifikation taugt als die gesunde Mädchenfigur. Doch wofür steht sie? Schon immer hat sich die Jugendliteratur mit wichtigen Fragen der adoleszenten Entwicklung beschäftigt. In der Adoleszenz stehen schließlich bedeutsame emotionale Herausforderungen an: Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902–1994) benennt in seinem einflussreichen Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung des Menschen den Erwerb von Identität als größte Aufgabe in dieser Lebensphase. Jugendliche stehen beim Übergang in die Erwachsenenposition vor der Herausforderung, eine neue Auseinandersetzung mit den Themen der Kindheit zu finden und ganz eigene, neue Lebensentwürfe zu entwickeln – stets vor dem Hintergrund der Frage, ob die mal spannenden und mal beunruhigenden Veränderungen an Leib und Seele wirklich „okay“ sind und auch von der Außenwelt akzeptiert werden können.

Insofern sei die Hinwendung zu den dunklen und schmerzlichen Seiten des Lebens in der Adoleszenzliteratur durchaus typisch, so die Soziologin und Sozialpsychologin Vera King von der Goethe-Universität Frankfurt, die schwerpunktmäßig auch über Jugendthemen forscht: Das Ausloten von Grenzüberschreitung und die Suche nach Sinnhaftigkeit kennzeichneten diese komplexe Lebensphase. Dennoch hätten sich die Bedingungen der Adoleszenz in den vergangenen Jahrzehnten verändert und damit auch die Thematisierung der Schattenseiten des Lebens. „Was man in den 1980er Jahren noch als Individualisierung betrachtet hat, hat sich inzwischen weiterentwickelt zu einem ganzen Anforderungsbündel im Sinne der Flexibilität, Mobilität und Effizienz“, erklärt King, die auch Direktorin am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt ist. „Den heutigen Jugendlichen wird sehr viel abverlangt. Sie müssen früh in der Lage sein, Bildungs- und Berufswege vorausschauend vorzubereiten, erfolgversprechende Potenziale auszubilden, ihren Lebensplan in geordnete Bahnen zu bringen – und dann die Flexibilität mitbringen, sich auch stets wieder ganz anders entscheiden zu können. Das funktioniert nicht immer, nicht bei allen und keineswegs ohne Verluste und Friktionen. Es gibt also derzeit eine große innere Reibung am Funktionierenmüssen, ein Leiden daran, das auch in der Jugendliteratur thematisiert wird. Da können junge Leser sich dann mitunter gerade identifizieren mit Figuren, deren Nöte im Zentrum stehen, die ganz andere Themen haben und in gewisser Weise auch herausfallen aus der Welt.“

Wie Hazel Grace, die 16-jährige Hauptfigur von John Greens erfolgreichem Jugendroman Das Schicksal ist ein mieser Verräter. Die Ich-Erzählerin leidet an Schilddrüsenkrebs mit Metastasen in der Lunge und befürchtet, für ihre Umwelt eine Art tickende Zeitbombe zu sein, ständig kurz davor, diejenigen, die sie lieben, durch ihren bevorstehenden Tod in den Abgrund zu reißen. Ihre Eltern machen sich Sorgen um den psychischen Zustand ihrer Tochter und schicken sie schließlich in eine Selbsthilfegruppe für junge Krebspatienten. Dort verliebt sich Hazel in den 17-jährigen Augustus, und es entwickelt sich eine Romanze der etwas anderen Art: Statt sich Liebesbriefe zu schreiben, schicken sie sich gegenseitig ihre eigenen Nachrufe. Es geht um die Liebe im Angesicht des Todes, um ziemlich existenzielle Themen also. Gleich in der ersten Verkaufswoche landete das Buch auf Platz eins der New York Times-Bestenliste für Kinder- und Jugendliteratur und entfachte zahlreiche Diskussionen über den Sinn und die Endlichkeit des Lebens.

Lässt die Krankheit junge Leser also das eigene Leben im Hamsterrad vergessen? Stellt die „Sick-Lit“ für Jugendliche einen Ausweg aus einer auf Effizienz und Leistung getrimmten Gegenwart dar? Gut möglich. Sicher ist, dass es heutzutage schwierig scheint, im erzählenden Jugendroman überhaupt noch klassische Konflikte zu entwerfen. Denn in der postmodernen Gegenwart ist mittlerweile fast alles erlaubt und die Identitätssuche der Jugendlichen durch viele untereinander konkurrierende Normen und Werte erschwert. Einerseits sind traditionelle Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit noch gültig, andererseits halten Feministinnen das Banner der Emanzipation hoch, zeitgleich zelebriert die Popkultur ein Verschmelzen der Geschlechter. Inzwischen kann fast alles nebeneinander stehen, junge Menschen müssen ihre Identität aus ganz verschiedenen Teilen selbst zurechtbasteln und sich immer wieder neu erfinden. Das schafft Freiheit, aber auch Ambivalenz und Unsicherheit.

Zudem gibt es kaum noch Autoritäten und Instanzen, an denen Jugendliche sich heute ernsthaft abarbeiten müssen: Generationskonflikte haben an Schärfe verloren, Unterschiede zwischen Eltern und Kindern verschwimmen zunehmend, selbst die Jugendlichkeit ist heute weniger ein Entwicklungsabschnitt als eine Marke. „Die Adoleszenz ist längst nicht mehr so problematisch wie in den 1980er Jahren“, erklärt die Literaturwissenschaftlerin Iris Schäfer vom Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt. „Es wäre unsinnig, in einem Jugendroman zu beschreiben, wie Protagonistinnen gegen ihre Eltern rebellieren müssen. Das fällt schon mal weg als Thema. Dann gibt es natürlich noch die Liebesgeschichte, die als alleiniges Thema aber auch ein bisschen langweilig sein kann. Die Leserinnen und Leser identifizieren sich am liebsten mit jemandem, der mit großen Herausforderungen konfrontiert ist. Die tödliche Krankheit dient gewissermaßen als Konfliktverstärker; man versucht also, einen Konflikt zu schaffen und vor diesem Hintergrund Probleme der Adoleszenz, wie etwa Autonomiebestrebungen, durchzuspielen.“ Die Krassheit einiger Störungen und Regelüberschreitungen im aktuellen Jugendroman – hoher Alkoholkonsum, freiwillige Prostitution, Selbstverstümmelung, Suizid – sind demzufolge vielleicht als Versuche zu werten, in Zeiten des anything goes überhaupt noch aufzufallen und dramatische Spannungsbögen zu schaffen.

Jugendliteratur ist heute also mehr als bloße Aufklärung oder Lebenshilfe. Viele Werke widmen sich zwar den spezifischen Problemen der Adoleszenz, aber mit einem hohen ästhetischen Anspruch. Dazu gehört auch, dass schwierige Themen wie psychische oder körperliche Erkrankungen nicht mehr auserzählt werden, sondern den Lesern Leerstellen zugemutet werden, die sie selbst schließen müssen. „Heute ist es spannend, wenn die Literatur auch Platz für den Leser lässt“, erklärt Beatrice Wallis von Beltz & Gelberg. „Das emotionale Moment ist viel wichtiger. Das anlegen zu können macht die Kunst eines Autors aus. Aber natürlich dürfen wir trotzdem nicht vergessen, dass Jugendliche in einer Entwicklungsphase stecken. Wir überlegen daher genau, wie die Botschaften in unseren Büchern aufgenommen werden.“

In Zeiten der Postemanzipierung und Pathologisierung hat die klassische Heldin – zumindest in der realistischen Jugendliteratur – also ausgedient. Vielleicht bietet sie jungen Frauen in einer Welt der Vielstimmigkeit und Uneindeutigkeit nicht mehr ausreichend Identifikationsmöglichkeiten. Für die Literaturwissenschaftlerin Iris Schäfer haben die Probleme der Romanfiguren allerdings keinen Realitätsbezug, sondern sind lediglich eine Metapher für die moderne Identität, für die schwierige und lange Selbstsuche, die der postmoderne Mensch heute absolvieren muss.

„Die Protagonisten müssen sich mit ihrer Sterblichkeit auseinandersetzen. Für viele Jugendliche ist es interessant, die dahinterliegenden philosophischen Fragen zu diskutieren. Was bedeutet es für mich, dass das Leben begrenzt ist? Was ist wichtig für mich?“, so Iris Schäfer. Und das sind schließlich nicht die schlechtesten Fragen, mit denen junge Leser sich heute beschäftigen können.

Literatur

Jenny Downham: Bevor ich sterbe, Goldmann 2009

John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter, Hanser 2012

Sally Nichols: Wünsche sind für Versager,Hanser 2013

Lara Schützsack: Und auch so bitterkalt, KJB 2014

Stefanie de Velasco: Tigermilch, KiWi 2015

Sandra Weihs: Das grenzenlose Ich, FVA 2015

Sekundärliteratur:

Vera King: Die Entstehung des Neuen in der Ado­leszenz: Individuation, Generativität und Ge­schlecht in modernisierten Gesellschaften. Sprin­ger 2013

Iris Schäfer, Nina Holst und Anika Ullmann (Hgs.): Narrating Disease and Deviance in Media for Child­ren and Young Adults – Krankheits-und Abwei­chungsnarrative in kinder-und jugendliterarischen Medien. Peter Lang 2016

Iris Schäfer: Eine neue Mädchenliteratur der 1990er Jahre – im Zeichen von Postemanzipierung und Pathologisierung. kjl&m 2016

Iris Schäfer: Von der Hysterie zur Magersucht. Ado­leszenz und Krankheit in Romanen und Erzählun­gen der Jahrhundert-und der Jahrtausendwende. Peter Lang 2016

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2017: Schon in Ordnung