Familie für Geduldige

Patchworkfamilien scheitern nicht selten an Rollenkonflikten und unrealistischen Erwartungen. Welches „Handwerkszeug“ brauchen Patchworker?

Martina Schomisch wollte alles, am liebsten sofort. Eine neue, glückliche Familie mit zufriedenen Kindern – den drei eigenen und den beiden Stiefkindern. Eine gute Beziehung zum Exmann und zu den eigenen Eltern. 14 Jahre ist es her, dass sie mit ihrem zweiten Mann Michael eine neue Familie gegründet hat. Ihre eigenen Kinder lebten fortan dauerhaft, die Kinder ihres Partners an Wochenenden und in den Ferien bei ihnen. Rückblickend sagt sie: „Unser größter Fehler war: Wir wollten zu schnell zu viel.…

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sagt sie: „Unser größter Fehler war: Wir wollten zu schnell zu viel. Patchworkfamilien brauchen Zeit. Und es ist nie dauerhaft geschafft.“ Als Mutter und Stiefmutter hat sie erfahren, wie kompliziert und störanfällig eine Familie nach der ursprünglichen Familie sein kann. Ihre ebenso schmerzhaften wie lehrreichen Erfahrungen gibt Martina Schomisch mittlerweile an Ratsuchende weiter, die sie als Coach bei Problemen in der Patchworkfamilie berät.

Patchworkfamilien sind heutzutage zwar Teil unserer gesellschaftlichen Normalität, aber immer noch eher Ausnahmen. Nach wie vor sind traditionelle Kernfamilien nach Angaben des Bundesfamilienministeriums mit fast 80 Prozent die häufigste Familienform in Deutschland. Die übrigen etwa 20 Prozent verteilen sich ungefähr zur Hälfte auf Alleinerziehende und Stieffamilien. In diesen Familien gibt es häufiger einen nichtleiblichen Vater als eine Stiefmutter. Etwa ein Viertel sind sogenannte „komplexe Stieffamilien“, wie Experten die eigentlichen Patchworkfamilien nennen, in denen beide Partner Kinder haben. In den vergangenen Jahren sind diese vermeintlich modernen Lebensentwürfe öffentlich ins Gerede gekommen. Die Trennungsrate unter Patchworkeltern ist hoch. Kritiker prangern die Verheißung auf ein neu zusammengesetztes Familienglück gar als „Patchworklüge“ an. Was ist dran an den drastischen Urteilen, was macht diese Wahlverwandtschaften mitunter so schwierig? Welche Faktoren begünstigen umgekehrt eine positive Entwicklung von Kindern, die mit Stiefeltern aufwachsen? Und was weiß die Forschung überhaupt über Glück und Unglück solcher Konstellationen?

Die Psychologin Sabine Walper, derzeit Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut (DJI), forscht seit Jahren zum Thema und verweist auf internationale Studien, die „bei einem Teil der Kinder mehr Verhaltensauffälligkeiten, somatische Symptome und geringeres Wohlbefinden als bei Kindern aus Kernfamilien“ belegen. Das bedeute zwar nicht, dass Kinder aus Patchworkfamilien zwangsläufig Entwicklungsnachteile haben, aber das Risiko sei, bezogen auf die psychische und physische Gesundheit und mangelndes Wohlergehen, höher. Im Gegensatz zu den internationalen Studien zeigen nationale Untersuchungen über Stieffamilien, die Walper ausgewertet hat, keine signifikanten Entwicklungsunterschiede, weder im Vergleich zu Alleinerziehenden noch gegenüber Kernfamilien. Auch wenn sich erlebte Belastungen bei Kindern bisweilen in schlechteren Schulleistungen oder körperlichen Beschwerden niederschlagen.

Eine Besonderheit ist aber gut belegt: Während Kinder von Alleinerziehenden die zumeist als schmerzhaft empfundene Trennung der Eltern nach etwa zwei bis drei Jahren überwinden, dauert dieser Prozess der Konsolidierung bei Patchworkfamilien eher fünf Jahre. Denn nach einer Phase von Schmerz und Trauer beginnt ein schwieriger Prozess, in dem alle erst ihre Rolle im neuen Familiensystem finden müssen. Kinder sollen einen für sie fremden Erwachsenen akzeptieren. Umgekehrt sind Stiefeltern sofort als Miterzieher gefordert. Beide Seiten kennen weder Kulturen noch Wertvorstellungen der jeweils anderen Herkunftsfamilie. Und selbst wenn es Stiefeltern und Stiefkindern gelingt, ein respektvolles Vertrauensverhältnis aufzubauen, bleibt es doch eine eher fragile Beziehung, die sich nicht auf die Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten leiblicher Verbundenheit verlassen kann.

Trotz aller Schwierigkeiten ist Sabine Walper überzeugt: „Stabile Stieffamilien mit einer guten Beziehungsdynamik leisten einen wichtigen Beitrag für eine positive Entwicklung der Kinder. Dazu gehören Vertrauen, die Vorstellung, eine Einheit zu bilden, und gemeinsame Rituale, die Verbundenheit ausdrücken.“ Eine stabile Partnerschaft sei dabei das A und O. In der anforderungsreichen Übergangsphase der Familienbildung sei es zunächst wichtig, dass der Stiefelternteil einen sicheren Platz in der neuen Struktur bekomme, sich anfangs bei Erziehungsfragen eher zurückhalte, dann jedoch in die Rolle der Bezugsperson hineinwachse. Idealerweise glichen sich die Rollen der beiden Elternteile nach und nach an. Der leibliche Elternteil müsse in diesem Prozess eine Vermittlerrolle übernehmen. Ein typisches Verhaltensmuster leiblicher Patchworkmütter steht dem allerdings oft im Wege. „Bei ihnen scheint häufig ein Schutzreflex anzuspringen“, so Psychologin Walper. Sie scheuen sich, ihrem neuen Partner Verantwortung für die Kinder zu übertragen.

Was braucht die Familie für eine neue Struktur?

Die Psychotherapeutin Katharina Grünewald berät und therapiert Paare, die solche Rollenkonflikte in tiefe Krisen stürzen. „Viele kommen erst dann, wenn es in der Beziehung kracht“, sagt sie. „Hilfreich ist dann eine Kommunikationsanalyse: Was kann in der Familie nicht ausgesprochen werden? Und wenn Probleme ausgesprochen werden: Wie kommt das beim anderen an?“ Die Psychologin, die sich zusätzlich zu ihrer tiefenpsychologischen Therapieausbildung in Familientherapie und Transaktionsanalyse weitergebildet hat, berät seit zehn Jahren Patchworkfamilien und nutzt dabei Methoden und Techniken verschiedener psychologischer Schulen: Am Familienbrett veranschaulicht sie anfangs die Rollen der einzelnen Familienmitglieder im System. Nach dieser Bestandsaufnahme steht die Frage im Mittelpunkt: Was braucht die neue Familie für eine Struktur?

Grünewald arbeitet in Beratung und Therapie mit Paaren, nicht mit Kindern. Kognitive Erkenntnisse sollen die Erwachsenen befähigen, eigenständig tragfähige Regeln und Rituale zu entwickeln, die Experten für einen Schlüssel zu einem gelingenden Familienleben halten. Denn während Kinder in traditionellen Familien zumeist organisch in eine Familie hineinwachsen, müsse sich jede Patchworkfamilie eine künstliche Ordnung selbst schaffen, so die Psychologin, die aus eigener Erfahrung mit zwei Stiefkindern weiß, dass diese Familien anders funktionieren.

Patchworkpraxis ist aber nur die sichtbare Seite. In Therapiegesprächen spürt Katharina Grünewald unbewusste Bilder und Rollenvorstellungen auf, die mitunter starre Verhaltensmuster bewirken und den Handlungsspielraum in Familien unnötig verengen. „Stiefmütter geraten oft gegen den eigenen Willen in eine Mutterrolle“, berichtet die Therapeutin. Sie starten ein Verwöhnprogramm, versorgen beispielsweise den zehnjährigen Stiefsohn ständig mit Schnitzel und Pommes – und sind tief gekränkt, wenn der Dank dafür ausbleibt. Die Therapeutin ermutigt Stiefmütter, sich selbst kritisch zu hinterfragen: Bin ich überhaupt diejenige, die gern kocht und backt, oder spiele ich viel lieber draußen mit den Jungs Fußball? Stiefmütter machten oft den Fehler, den eigenen starren Rollenerwartungen entsprechen zu wollen. Katharina Grünewald hat das in einem Buch über Stiefmütter beschrieben und empfiehlt: „Raus aus der Mutterrolle!“

Wer zu einem symbiotischen Beziehungsstil neigt, hat es schwer

Eine weitere typische Falle, in die Stiefeltern tappten, sei, mit ihren Stiefkindern zu konkurrieren, sagt Grünewald. Eine Stiefmutter habe es mal so ausgedrückt: „Sobald sein Kind kommt, mutiere ich für ihn zum Möbelstück.“ Die Frau konnte es nicht ertragen, ihren Partner mit seiner Tochter kuscheln zu sehen. „Aus analytischer Sicht könnte man sagen: Da findet eine Übertragung statt. Die Frau buhlt nicht um die Aufmerksamkeit des Partners, sondern des Vaters“, erklärt die Psychologin. Therapeutisch gelte es, die aktuelle Situation von der Herkunftsfamilie zu entkoppeln. Wichtig sei die Erkenntnis: „Sie ist im Hier und Jetzt kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau.“ Die selbst für ihre Bedürfnisse verantwortlich ist. „Und der Partner könnte ihrem erwachsenen Bedürfnis nach Zweisamkeit entgegenkommen und gemeinsame Paarzeit fest einplanen.“ Stiefeltern müssten häufig erst lernen, selbst dafür verantwortlich zu sein, ob sie glücklich sind. Wer zu einem symbiotischen Beziehungsstil neige, habe es in einer Patchworkfamilie schwer.

Andererseits sind viele Eltern so mit den Bedürfnissen der Kinder und alltäglichen Organisationsaufgaben beschäftigt, dass sie sich selbst aus den Augen verlieren. „Die Partnerschaftsebene wird vernachlässigt oder völlig vergessen“, sagt Erziehungsberater Jan-Uwe Rogge. Er weiß aus vielen Beratungsgesprächen, dass Patchworkeltern es oft besonders gut machen wollen: „Perfektionismus schafft jedoch großen Druck. Wer alles richtig machen will, lässt wenig Spielraum für Probleme und deren Lösung.“ Rogge empfiehlt, Patchwork als eine Art trial and error zu verstehen: „Man muss immer wieder ausprobieren und nachjustieren.“

Auch Psychotherapeutin Grünewald erarbeitet mit ihren Klienten in der Therapie kleine Schritte hin zu vorläufigen Lösungen. Etwa beim klassischen Konflikt, wer sich nachts an Papa kuscheln darf: Nach einer Trennung schlafen viele Kinder erst mal bei Papa im Bett. Stiefmütter verletzt das häufig, nach dem Motto: Es kann ja wohl nicht, sein, dass ich im Gästebett schlafen muss. Der Vater und die Kinder wollen das Ritual, das ihnen so viel Halt gegeben hat, aber nicht aufgeben. Was tun? „Entscheidend ist, dass beide zunächst die Logik des anderen nachvollziehen“, so Grünewald. „Erst danach können sie in einen Verhandlungsprozess eintreten und überlegen: Was brauchen die Kinder, damit sie im eigenen Bett schlafen können?“ Zum Beispiel könnten alle gemeinsam vereinbaren, dass einmal im Monat Papa-Kind-Schlaftag ist. Um solche Probleme zu lösen, hätten sich Familienkonferenzen bewährt, so Grünewald. Im geschützten Rahmen lässt sich leichter aussprechen, was vor allem zwischen nichtleiblichen Familienmitgliedern allzu oft ungesagt bleibt. In solchen Gesprächen gehe es nicht darum, Dauerlösungen zu finden, im Gegenteil: „Provisorien nehmen erst mal den Druck raus, auch wenn sie nur wenige Wochen tragen.“

Zum Weiterlesen

  • Katharina Grünewald: Glückliche Stiefmutter. Geht’s mir gut, geht’s allen gut. Kreuz, Freiburg 2015, € 14,99

  • Jesper Juul: Aus Stiefeltern werden Bonuseltern. Chancen und Herausforderungen für Patchwork-Familien. Beltz, Weinheim 2015, € 9,95

  • Jan-Uwe Rogge, Katharina Sieckmann: Familie für Fortgeschrittene. Kinder und Jugendliche über Krisen, Krach und Potenziale in Patchworkfamilien. Kösel, München 2014, € 17,99

Vorsicht, Patchworkfalle!

Typische Fehler von Patchworkfamilien, die sich vermeiden lassen, um das Zusammenleben zu erleichtern:

Nicht Kernfamilie spielen! Stiefeltern sollten nicht versuchen, den leiblichen Part zu ersetzen oder mit ihm zu konkurrieren. Eine Rolle als Miterzieher ist erst dann ratsam, wenn bereits ein Vertrauensverhältnis zum nichtleiblichen Kind entstanden ist. Grundsätzliche Entscheidungen für das Kind treffen aber weiterhin die leiblichen Eltern!

Harmonie ist keine Pflicht! Stiefkindern und –eltern fällt es mitunter schwer, zu äußern was sie stört. Notwendige Kritik bleibt ­daher oftmals unausgesprochen, ungelöste Probleme schwelen weiter. Doch Konflikte sind normal, und auch Kinder in Patchworkfamilien müssen kritisieren und in der Pubertät rebellieren dürfen. Ein fester Rahmen, wie ihn zum Beispiel eine Familienkonferenz schafft, kann helfen, Offenheit zu lernen und zu trainieren.

Nicht wegducken! Der leibliche Elternteil ist als Vermittler zwischen dem eigenen Kind und dem neuen Partner gefragt. Dazu gehört einerseits, in Auseinandersetzungen Position zu beziehen, andererseits aber auch, dabei zu helfen, dass der neue Partner eine eigenständige Beziehung zu seinem Stiefkind aufbauen kann.

Perfektionismus schadet! Viele überfordern sich mit dem Anspruch, dass Patchwork besser und konfliktfreier funktionieren muss als eine „normale“ Familie. Damit verengt man jedoch den Handlungsspielraum für die Lösung von Problemen. Interessenkonflikte werden dann schnell als Beleg dafür fehlinterpretiert, dass das neue Modell nicht funktioniert.

Kein Gruppenzwang! Um Gemeinschaft herzustellen, neigen viele Patchworkfamilien dazu, immer alles gemeinsam zu machen. Doch genauso wichtig, wie den Familienverbund zu stärken, ist, verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen untereinander zu pflegen. So brauchen zum Beispiel auch leibliche Kinder exklusive Zeit allein mit Mama oder Papa, um Intimes zu besprechen und Nähe herzustellen.

Keine Eile! Hilfreich ist, die neue Familie als langen, nie abgeschlossenen Prozess zu begreifen, in dem beständig korrigiert, nachgebessert und modifiziert werden muss. Also: Zeit lassen, um sich kennenzulernen. Unterschiedliche Familienkulturen und -regeln müssen verstanden und miteinander in Einklang gebracht werden. Gemeinsame Erfahrungen und bewusste Zuwendung können helfen, stabile und verlässliche Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern aufzubauen.

Vorsicht, Liebestöter! Paare neigen in komplexen Stieffamilien dazu, sich nur noch um die Kinder und die Organisation der Wochenpläne zu kümmern. Wer die Partnerschaftsebene vernachlässigt, wird aber anfälliger für Stress und dünnhäutiger im alltäglichen Miteinander. Also: Zeitinseln schaffen, zu zweit ausgehen und die Partnerschaft pflegen.

Michael Kraske

Literaturhinweis: Weitere praktische Empfehlungen für Patchworkeltern gibt Das Patchworkbuch von Nadja Belviso, Thomas Hess, Claudia Starke, das 2015 im Beltz-Verlag erschienen ist.

Das Wechselmodell – Wenn das Hin und Her zur Regel wird

Eine Trennung bedeutet für Kinder nicht selten den Verlust des Vaters. Etwa ein Viertel der Trennungsväter hat überhaupt keinen Kontakt mehr zum Kind. Risikofaktoren für den Vater-Kind-Kontakt sind ein geringes Einkommen des Vaters, räumliche Distanz, kein Sorgerecht und eine problematische Beziehung zur Mutter. Eine Alternative zum Residenzmodell, bei dem Kinder zumeist bei der Mutter wohnen und der Vater ein Besuchsrecht wahrnimmt, ist das sogenannte Wechselmodell (auch Doppelresidenz): Die gemeinsamen Kinder wohnen dabei abwechselnd bei Mama und Papa. Die Betreuungszeit kann hälftig oder asymmetrisch im Verhältnis 60 zu 40 aufgeteilt werden. Nach einer Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) wird dieses ritualisierte Hin und Her in Deutschland nur von fünf bis acht Prozent der Trennungsfamilien praktiziert. Internationalen Befunden zufolge entscheiden sich vor allem Eltern von Grundschulkindern für eine Doppelresidenz – und zwar wenn sie einen hohen Bildungsgrad haben, beide Elternteile berufstätig sind und das Konfliktniveau in und nach der Ehe gering war. Laut DJI legen aktuelle deutsche Forschungsdaten zum Wechselmodell keine generellen Vor- oder Nachteile für die psychische Gesundheit der Kinder nahe. Zwar fallen die Schulleistungen von Jugendlichen, die im Wechselmodell leben, signifikant schlechter als in Zwei-Eltern-Familien aus, doch lässt sich im Vergleich zu ­diesen kein höheres Risiko für antisoziales Verhalten oder Substanzmissbrauch feststellen. Im Vergleich zum Leben bei Alleinerziehenden erscheint das Wechselmodell sogar als Schutzfaktor, der dem kindlichen Bedürfnis nach häufigem und regelmäßigem Kontakt zu beiden Eltern gerecht wird und der es ermöglicht, sich bei beiden Eltern zu Hause zu fühlen.

Michael Kraske

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2016: Das stille Ich