Lieblingskinder und andere

Behandeln Eltern ihre Kinder ungleich, tragen diese eine schwere Last, sagen die Forscher Jörg M. Fegert und Martin Diewald im Interview.

Herr Professor Diewald, Herr Professor Fegert, warum bevorzugen Eltern ein Kind und setzen ein anderes zurück?

Diewald: Wichtige Motive sind Ähnlichkeit und Sympathie. Ein Kind, das uns ähnlicher ist, dem fühlen wir uns automatisch näher und verbundener. Aber auch Ressourcenknappheit kann eine Rolle spielen: Wenn man nicht genug Zeit, Energie oder Geld hat, um alle Kinder zu fördern, konzentriert man sich auf das Kind, von dem man sich am meisten verspricht. Die anderen bleiben zurück. Das geschieht häufig…

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sich auf das Kind, von dem man sich am meisten verspricht. Die anderen bleiben zurück. Das geschieht häufig in sozial weniger gut gestellten Familien. Bevorzugung kann auch mit dem Verhalten und der Persönlichkeit der Kinder selbst zu tun haben: Kinder, die mehr auf Unterstützung und Förderung reagieren und diese annehmen, werden häufig weiterhin stärker gefördert. Für die anderen Kinder, die nicht reagieren, vielleicht weil die Angebote nicht zu ihnen passen, ergibt sich daraus eine Abwärtsspirale, und sie kommen immer mehr zu kurz.

Fegert: Die Tatsache, dass es immer mehr Patchworkfamilien gibt, bringt ebenfalls Ungleichbehandlung mit sich. Und auch wenn es paradox klingt: Eltern haben den hohen Anspruch, alle Kinder gleichzubehandeln, aber sie erreichen damit das Gegenteil, denn genau das kann längerfristig ebenfalls Ungleichheit nach sich ziehen.

Was meinen Sie damit, dass es zu Ungleichheit führt, wenn alle das Gleiche bekommen?

Fegert: Wir sprechen zum einen vom Prinzip der equality, das bedeutet, dass alle das Gleiche ­bekommen. Dies führt jedoch auf längere Sicht zu Ungleichheit, da ja nicht alle gleich bedürftig sind. Das Prinzip von equity hingegen bedeutet, dass jeder nach seinen individuellen Bedürfnissen Unterstützung und Förderung erhält. Manche mehr, andere weniger. Das gleicht die unterschiedlichen Startbedingungen aus – etwa genetische Faktoren für Intelligenz und Kompetenzen oder sich verändernde ökonomische Verhältnisse – und sorgt für mehr Gleichheit.

Wie sieht Ungleich- oder unangemessene Gleichbehandlung in Familien konkret aus?

Diewald: Gemeint ist z. B. die gezielte Bevorzugung bei Dingen wie Vorlesen, Anregungen, Musikunterricht oder Nachhilfe und anderem mehr.

Ungleichheit gibt es überall, nicht nur in der ­Familie. Ist Ungleichheit nicht einfach eine Grunderfahrung des menschlichen Lebens?

Diewald: Ungleichheit ist ganz sicher eine Grunderfahrung. Allerdings ist es nicht egal, in welchem Kontext sie passiert. Es gibt in jeder Gesellschaft Sortiermaschinen wie Schule oder Beruf, die per se Ungleichheiten herstellen. In Familien jedoch ist das ganz anders konnotiert, hier passt Ungleichheit nicht hin. Denn sie sollten ein Ort sein, an dem man früh die Erfahrung von Solidarität und Förderung macht. Interessant ist, dass die meisten Eltern in Befragungen angeben und auch überzeugt sind, alle ihre Kinder gleichzubehandeln. Wenn Sie aber die Kinder fragen, sieht die Sache anders aus. Die haben ein feines Gespür für Ungleichbehandlung.

Schwarzes Schaf oder Aschenputtel: Was macht das mit den betroffenen Kindern?

Fegert: Es kommt natürlich auf das Ausmaß an; je extremer die Benachteiligung oder der Missbrauch, desto einschneidender sind die Folgen. Aber klar ist: Emotionale Misshandlung durch Eltern, etwa durch Zurücksetzung, Mobbing und Bullying in der Familie, kann ebenso massive Langzeitfolgen wie andere Formen der Misshandlung haben, mit denen ich als Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut konfrontiert bin. Zurücksetzung in ihren verschiedenen Formen ist nicht nur eine große Last für die betroffenen Kinder, sondern auch für die Geschwister, die nicht Opfer waren. Benachteiligungen zu erleben und mitzuerleben ist eine schwere Hypothek für alle Kinder.

Könnte die frühe Erfahrung, dass es Ungleichheit gibt, nicht auch lehrreich für das spätere Leben und eine Hilfe im Umgang damit sein?

Diewald: Kinder lernen sehr früh, dass nicht jeder gleich ist und nicht jeder das Gleiche bekommt. Es ist sicher gut, wenn man lernt, damit umzugehen. Allerdings pochen gerade Kinder darauf, dass alle das Gleiche bekommen sollten. Und Ungleichheit hat enge Grenzen. Geringe Unterschiede halten ­Kinder meist gut aus. Doch die explizite Bevorzugung oder Benachteiligung von Geschwistern kann eine sehr schmerzhafte Erfahrung mit weitreichenden Folgen sein. Hier überwiegen die Nachteile, und das hat nichts mit einem wichtigen Lerneffekt zu tun.

Wie reagieren Eltern, wenn Sie sie auf die Ungleichbehandlung ihrer Kinder ansprechen?

Fegert: Die meisten sind sehr erleichtert und offen für Rat und Hilfsangebote. Gerade weil das Thema so tabuisiert ist, sind viele froh, endlich darüber ­sprechen zu können. In Familien mit einem behinderten oder schwerkranken Kind, das besondere Aufmerksamkeit fordert, haben Eltern oft über ­Jahre unausgesprochen ein schlechtes Gewissen ­gegenüber dem gesunden Kind, das mit seinen Bedürfnissen häufig etwas zu kurz kommt. Das wird oft als eigenes ­Versagen empfunden. Es ist unsere Hoffnung, dass eine Enttabuisierung dazu beiträgt, dass diese Dinge mehr diskutiert werden – in der Gesellschaft wie in den Familien – und den Kindern besser geholfen werden kann.

Sollte man es offen ansprechen, wenn man merkt, dass man selbst oder der Partner die Kinder ungleich behandelt?

Fegert: Unbedingt; es ist ganz wichtig, darüber ins Gespräch zu kommen. Man sollte genau hinschauen, wer wie auf die Kinder reagiert, und sich die Aufgaben so aufteilen, dass man allen Kindern gerecht werden kann. Und wenn Eltern hier nicht weiterkommen, sollten sie Hilfe von außen holen. Das können Eltern-Selbsthilfegruppen sein, aber auch Beratungsangebote von Institutionen.

Auch Geschwister mobben sich – wer als Kind davon betroffen ist, hat ein hohes Risiko für eine spätere psychische Störung, ergab eine Studie. Wie sollten Eltern darauf reagieren?

Fegert: Sie sollten darauf verzichten, alle gleichbehandeln zu wollen, denn das gemobbte Kind braucht Hilfe und Unterstützung. Die mobbenden Geschwister hingegen benötigen klare Regeln und Sanktionen. Eltern müssen klarmachen und auch sicherstellen, dass Gewalt in der Familie keinen Platz hat. In einem Gefühl der Überforderung sind hier aber viele Eltern wie gelähmt und handeln nicht oder zu spät.

Das Thema Ungleichheit in Familien wurde in der Forschung bisher stiefmütterlich behandelt. Was sind die Gründe dafür?

Diewald: Vor allem hat man traditionell den Blick stark darauf gerichtet, welche sozialen Ungleichheiten es zwischen Familien gibt. Dabei gerieten Unterschiede innerhalb von Familien aus dem Blick. Wir müssen weg von der alleinigen Fokussierung auf Familienmerkmale wie elterliche Armut und Bildung und stärker hin zu Prozessen innerhalb von Familien, die vielfältig und differenziert sind.

Welche Aspekte müssten aus Ihrer Sicht noch genauer erforscht werden?

Fegert: Alle Formen von emotionaler Gewalt innerhalb von Familien sind nicht gut genug erforscht, vor allem emotionale Misshandlung durch Eltern sowie Bullying, Konflikte oder Rivalität zwischen Geschwistern. Und all das ist für Kinder besonders schwer zu ertragen, weil Familie ein sicherer Ort und Rückzugsraum sein sollte.

Welche Konsequenzen sollten aus Ihren bisherigen Erkenntnissen gezogen werden?

Fegert: Wichtig ist zunächst die Enttabuisierung des Themas. Dass es Ungleichbehandlung in Familien gibt, ist kein Naturgesetz. Es muss ein Bewusstsein dafür entstehen, dass das „schwarze Schaf“ oder der „Sündenbock“ einer Familie – also etwa Betroffene von emotionaler Vernachlässigung – vergleichbare Langzeitfolgen wie etwa ein ähnlich erhöhtes Suizid- und Mortalitätsrisiko haben können wie Betroffene, die sexualisierte Gewalt erlebten. Wir müssen uns die psychischen und körperlichen Schäden viel stärker bewusstmachen, die Ungleichbehandlung in der Familie hat. Und darüber muss öffentlich geredet werden.

Wie könnte man Familien bei einer gerechten und fairen Behandlung aller Kinder unterstützen?

Diewald: Es braucht mehr präventive Beratungsangebote. Ebenso wichtig sind personalisierte Bildung und Förderung. In Schulen etwa sollte viel stärker darauf geschaut werden, ob Kinder Auffälligkeiten zeigen oder vernachlässigt sind. Hier müssten Institutionen kompensatorisch reagieren und Ungleichheiten ausgleichen. Dabei ist insbesondere an psychologische und sozialpädagogische Dienste innerhalb der Schule zu denken. Außerdem sollten Lehrer und in der vorschulischen Erziehung die Erzieher beim Umgang mit solchen Auffälligkeiten nicht allein gelassen werden. Zudem sollten präventive Beratungsangebote für Eltern auch aktiv beworben werden. Das ist wichtig, damit die Inanspruchnahme solcher Beratungen nicht als Eingeständnis individueller Unzulänglichkeit erlebt wird. Diese Angebote sollten kommunal mit Unterstützung des Bundes und der Länder eingerichtet werden.

Welche Konsequenzen sollte Ihrer Meinung nach die Politik ziehen?

Diewald: Die Politik sollte sich viel stärker auf die Frage konzentrieren, wie man Gleichheit innerhalb von Familien fördern kann. Es geht nicht nur um Fragen wie ökonomische Ressourcen und wie man die innerhalb einer Gesellschaft gerecht verteilt, sondern auch um Chancengleichheit und Gerechtigkeit innerhalb der Familie. Man muss viel genauer hinsehen, was innen abläuft. Und hier müsste es deutlich mehr Angebote, Beratung und Unterstützung geben.

Was sich innerhalb von Familien abspielt, gilt in Deutschland als Privatsache, der Staat greift nur ein, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Warum ist das so?

Fegert: In Deutschland haben zwei diktatorische Systeme massiv in Familien eingegriffen. Als Reaktion wurden Abwehrrechte der Familie gegenüber dem Staat ins Grundgesetz eingeführt, und es entstand die Grundhaltung, dass sich der Staat aus dem Familienleben herauszuhalten hat, es sei denn, das Kindeswohl ist gefährdet. Doch viele Familien brauchen und wollen Unterstützung.

Der Kinder- und ­Jugendpsychiater und Psychotherapeut Jörg M. Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für ­Kinder- und Jugendpsychiatrie/­Psychotherapie der Uniklinik Ulm

Martin Diewald ist Professor für ­Soziologie an der Universität Bielefeld

Jörg M. Fegert und Martin Diewald gehören beide dem ­Wissenschaftlichen Beirat für ­Familienfragen des Bundesfamilienministeriums an. Sie ­organisierten im ­November 2017 eine von der DFG ­geförderte internationale Tagung zum ­Thema Ungleichheit in Familien

Literatur

Slava Dantchev u.a. Sibling bullying in middle childhood and psychotic disorder at 18 years: a prospective cohort study. Psychological Medicine, 2018; 1. DOI: 10.1017/S0033291717003841

Michael Grätz, Florence Torche: Compensation or Reinforcement? The Stratification of Parental Responses to Children’s Early Ability, Demography, 53/6, 2016

Martina Stotz: Lieblingskinder in Familien. Eine empirische Studie zu emotionspsychologischen Bedingungen und Folgen elterlicher Bevorzugung von Geschwistern, Dissertation, München 2015

P. L. Plener, A. Ignatius, M. Huber-Lang, J. M. Fegert: Auswirkungen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung im Kindesalter auf die psychische und physische Gesundheit im Erwachsenenalter, Nervenheilkunde 36, 2017;

Thomas Boll, Dieter Ferring, Sigrun-Heide Filipp: Struktur und Folgen elterlicher Ungleichbehandlung von Geschwistern: Forschungsstand und -desiderate, Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie 33/4 2001

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 7/2018: Kann ich mich ändern?