Es dauert nicht lange, und die junge Frau mit den lockigen dunklen Haaren und dem gepflegten Äußeren fängt an zu weinen. Ihr Anliegen ist selten, aber nicht ungewöhnlich: Vor vielen Jahren hat Dora ein heute über 20 Jahre altes Kind geboren und auf Druck der Eltern zur Adoption freigegeben, da sie selbst erst 15 Jahre alt war. Wie es so oft der Fall ist, hat sie das später, als sie älter war, bereut, und sie versuchte herauszufinden, wo das Mädchen hingekommen war. Doch das gelang nicht, denn in aller Regel…
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wo das Mädchen hingekommen war. Doch das gelang nicht, denn in aller Regel dürfen die Behörden der leiblichen Mutter keine Informationen über die Adoptiveltern weitergeben.
Einige Zeit später geschah etwas, das sie nicht erwartet hatte: Da es Adoptivkindern unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht wird, Kontakt zu ihren leiblichen Eltern aufzunehmen, meldete sich die Tochter Sonja von sich aus bei ihrem leiblichen Vater. Der verweigerte sich jedoch dem Kontakt. Daraufhin nahm Sonja Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter auf. Obwohl die Begegnung entspannt und ohne Vorwürfe seitens der Tochter verlief, kämpft Dora auch jetzt mit ihren Schuldgefühlen.
Soll sie ihren Ehemann einweihen?
Ihr Mann weiß von jenem Kind nichts. Würde die Ehe, die bislang kinderlos geblieben ist, solch ein Geheimnis verkraften? Oder soll Dora ihm gestehen, was damals geschehen war, nun da die Tochter sich gemeldet hat? Mit diesen Fragen wendet sie sich an mich. „Ich kann und werde Ihnen keine Antwort auf diese Fragen geben“, gebe ich zurück. „Ich unterstütze Sie aber gern dabei, das selbst herauszufinden.“ An ihrem Gesicht stelle ich fest, dass sie im Grunde nichts anderes erwartet hat.
„Das weiß ich“, antwortet sie. „Aber es ist so verdammt schwer. Ich will meinen Mann nicht verlieren, denn er hat so viele gute Eigenschaften. Ich kenne es ja auch ganz anders“, bricht es aus ihr heraus. „Der Vater von Sonja hat mich sitzen lassen, als er von der Schwangerschaft erfuhr. Das würde Georg, mein Mann, niemals tun. Das weiß ich.“ „Was vermuten Sie denn, wie würde er reagieren, wenn er von Sonjas Existenz erfahren würde?“, werfe ich ein. „Er hätte mit Sicherheit Verständnis für meine damalige Entscheidung“, antwortet sie. „Was also macht Ihnen so große Angst?“, frage ich. Sie denkt nach.
Dann: „Gute Frage. Im Moment weiß ich das nämlich gar nicht.“ Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass sie der Tochter gegenüber Schuldgefühle hat. Denkt sie womöglich, dass sie ihrem Kind diesen wunderbaren Vater, der jetzt ihr Mann ist, vorenthalten hat? Sollte die Klientin ihren Ehemann lieber einweihen? Warum fühlt sie sich so schuldig?
Die Beziehung zu den eigenen Eltern
„Mit 15 Jahren konnten Sie solch eine weitreichende Entscheidung doch nicht gegen den Willen Ihrer Eltern treffen. Sie hätten sie wahrscheinlich irgendwie gebraucht. Was wäre wohl aus Ihnen und was aus Sonja geworden, wenn Sie sie selbst großgezogen hätten?“ Diese Frage macht Dora nachdenklich.
„Was aus mir geworden wäre, kann ich mir vorstellen. Ich hätte natürlich die Schule abbrechen müssen, kein Abitur machen können, hätte keinesfalls studiert und auch keine so gute Stelle. Und was aus Sonja geworden wäre? Keine Ahnung. Immerhin hat sie ihr Abitur gemacht und wird wahrscheinlich sogar studieren.“ Dann kommen wir auf ihre Geschichte zu sprechen. Ich frage Dora, wie die Beziehung zu ihren Eltern war.
„Was mich wirklich plagt, ist, dass ich als Mutter genauso schlimm war wie meine eigene Mutter. Ich habe das Kind weggegeben. Dabei wollte ich niemals so hartherzig sein. Ich finde meine Mutter nämlich hartherzig“, äußert Dora nach einer Weile. „Und jetzt stellen Sie fest, dass auch Sie hartherzig waren, indem Sie der Adoption zugestimmt haben?“, äußere ich meine Überlegungen. „Überhaupt – wie war denn Ihre Mutter in Ihren Augen insgesamt, welche guten Seiten hatte sie?“, frage ich die Klientin.
Bloß kein Mittelmaß
„Dazu kann ich gar nichts sagen, denn wir hatten nie ein gutes Verhältnis“, antwortet Dora. „Sie war extrem streng und verlangte stets Höchstleistungen. Ich durfte nicht mittelmäßig sein. Immer musste ich Klassenbeste sein. Das war ihr das Wichtigste.“ Gute Eigenschaften ihrer Mutter fallen ihr in dem Moment also nicht ein.
„Geht es vielleicht darum, dass Sie noch darunter leiden, wie Ihre Mutter Sie behandelt hat?“ Ich denke, dass das ein Thema für ein Gespräch zwischen Mutter und Tochter wäre. Mitsamt der Frage, welche Bedeutung dabei Doras Vater hatte. Den Vater können wir bei der Geschichte nicht außen vor lassen, denn er spielte schließlich auch eine Rolle bei der Adoption. Und sei es nur, dass er seine Frau bei der Entscheidung unterstützt hat. Möglicherweise überträgt Dora etwas von seinem Verhalten auf ihren Mann. Das könnte erklären, warum sie sich so schwertut, ihrem Mann von Sonja zu erzählen.
Doch all das können wir nicht in dieser ersten Stunde besprechen. Zunächst sollte die Klientin mit ihrer Mutter ein ausführliches Gespräch führen. Mit diesem Vorschlag entlasse ich sie fürs Erste.
Margarethe Schindler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Tübingen