Die frühe Erfahrung „Ich zähle nicht!“

Wenn Eltern ihr Kind nicht lieben: Wer als schwarzes Schaf der Familie aufwächst, hat es schwer, ein Gefühl für den eigenen Wert zu entwickeln.

Geben Sie einmal das Schlagwort „Familie“ bei Google ein und klicken Sie dann auf „Bilder“. Sie werden das sehen, was wir gemeinhin mit diesem Begriff verbinden: Glückliche Menschen. Eltern, Kinder, vielleicht auch noch die Großeltern dazu. Lachen, Sonnenschein, Gemeinschaft und Geborgenheit. So sollte es auch sein, sammeln die allermeisten von uns doch ihre ersten Beziehungserfahrungen in diesem Umfeld. Auch wenn natürlich nicht alle Tage die Sonne scheint, so ist doch die grundsätzliche Erfahrung, dass…

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Auch wenn natürlich nicht alle Tage die Sonne scheint, so ist doch die grundsätzliche Erfahrung, dass wir in der Familie Liebe, Verständnis und Förderung erleben.Oder ist das nur ein Slogan, ein auf Hochglanz poliertes Ideal, dem die wenigsten Familien gerecht werden?

In den letzten zwanzig Jahren habe ich mit sehr vielen Menschen über ihre Familien gesprochen. Einige berichteten voller Freude, dass sie glücklich und geliebt aufgewachsen sind, eingebettet in eine familiäre Gemeinschaft, die alles dafür getan hat, ihnen den Weg ins Leben so angenehm wie möglich zu machen. Andere meinen, dass sie auf eine „ganz normale“ Kindheit zurückblicken, ein Ausdruck, hinter dem sich nach meiner Erfahrung nicht selten bereits sehr „durchwachsene“ Erlebnisse verbergen. Und dann gibt es Berichte wie den von Claudia:

„So lange ich denken kann, hatte ich in meiner Familie nichts zu melden. Irgendwie lief alles an mir vorbei. Meine beiden Brüder wurden gefördert und geschätzt, während ich mir lediglich geduldet vorkam. Dass ich als Älteste mehr Pflichten als die beiden Kleinen hatte und sich die Eltern von mir Mitarbeit und Entlastung versprochen hatten, sehe ich ja noch ein. Aber dass mit den beiden geschmust wurde, dass man ihnen die Wünsche von den Augen abgelesen hat, während ich kaum Zärtlichkeit bekommen habe, und man mir Anweisungen wie einer Bediensteten gegeben hat, das tut mir bis heute weh. Das Schlimmste ist, dass ich das damals einfach so hingenommen habe. Ich kannte nichts anderes, dachte, das sei eben meine Rolle im Leben.“

Claudia ist 46 Jahre alt und wegen einer Depression in therapeutischer Behandlung. Sie hat etwas erlebt, das ihr Selbstwertgefühl erheblich beschädigt und ihr Schwierigkeiten in der Partnerschaft und Probleme im Beruf beschert hat: Sie ist das schwarze Schaf ihrer Familie.

Dieses Los teilt sie mit vielen anderen. Mit wie vielen genau, weiß keiner. Die Benachteiligung einzelner Familienmitglieder gehört zu den blinden Flecken gesellschaftlicher Wahrnehmung. Aber auch die Psychologie hat sich diesem Thema bisher nicht mit der Aufmerksamkeit zugewandt, die seiner Häufigkeit gerecht werden würde. Woran liegt das?

Schwarze Schafe wie Claudia leben von klein auf in einer Situation ständiger Beschämung. Das Erleben, nicht so viel wert zu sein wie andere, ist immer belastend. Tritt es innerhalb der eigenen Familie auf, wird es zum Lebensthema. Die Erfahrung von Ausgrenzung und Benachteiligung gegenüber den Geschwistern brennt sich tief in die Seele ein und erzeugt neben der bedrückenden Scham auch meist Schuldgefühle. Die entstehen bereits, wenn ich die ungleiche Behandlung hinterfrage. Habe ich das Recht, die Eltern für ihr Verhalten mir gegenüber zu kritisieren? Muss ich ihnen nicht vielmehr mein Leben lang dafür danken, dass sie mich zur Welt gebracht, mich aufgezogen haben?

Frauen und Männer, die mit diesen Scham- und Schuldgefühlen durchs Leben gehen, offenbaren sich nicht. Sie leben in einer Welt des ständigen Defizits, fühlen sich dumpf und unzufrieden und gehen davon aus, dass mit ihnen „irgendetwas nicht stimmt“. Kommen sie zur Therapie, so werden die Kindheitserinnerungen oft nicht spontan berichtet, manchmal auch schamhaft verschwiegen. Man will sich schließlich nicht selbst bemitleiden, anderen die Schuld zuschieben, sich selbst „in die Opferrolle flüchten“. Diese selbstverneinenden Floskeln dienen indes nur dazu, die schmerzvolle Zurücksetzung durch die eigene Familie zu verdrängen.

Nachdem ich auf das Prinzip des schwarzen Schafes aufmerksam geworden war und gezielt nach diesen Erfahrungen fragen konnte, sah ich mich mit einer Flut von Schilderungen konfrontiert, die sich um dieses Phänomen drehten. Die Spannbreite der Thematik erstreckt sich dabei von subtiler Benachteiligung bis hin zu brutaler Ausgrenzung.

Bin ich undankbar? Oder bilde ich mir das alles nur ein?

Nicht wenige der schwarzen Schafe leben in ständiger Ungewissheit, ob sie sich „das alles nicht nur einbilden“, erleben sich als „undankbar“ und versuchen über viele Jahre hinweg, doch noch in die Familie integriert zu werden, obwohl sie erkennen müssen, dass diese Tür für sie verschlossen bleibt. Andere werden sich der Benachteiligung erst bewusst, wenn sie im Erwachsenenalter enterbt werden. Der damit einhergehende Akt des „Entliebens“, in dem die Eltern ihrem Kind das Signal geben, kein Mitglied der Familie mehr zu sein, hat für viele eine traumatisierende Wirkung. Allen gemeinsam ist die schmerzliche Erfahrung des Ausschlusses aus der ersten, wichtigsten und prägendsten Gemeinschaft ihres Leben: der Familie.

Aber nicht nur eine vordergründig erkennbare Benachteiligung führt zu diesem Drama. Mitunter läuft die ungleiche Behandlung ganz anders ab. Wie zum Beispiel bei Paul. Er hat erst mit Anfang 50 erkannt, dass auch er aus der Familie ausgegrenzt ist. Nur wurde er nicht offen benachteiligt, sondern gnadenlos ausgenutzt. Weit über ein zu erwartendes Maß an Hilfe und Unterstützung hinaus wurde ihm die Rolle des „Retters“ aller anderen Familienmitglieder zugewiesen. Als Einziger, der es „zu etwas gebracht“ hatte, wollte er seinen Geschwistern und auch den kranken Eltern Unterstützung geben. Die Folge dieser jahrzehntelangen Überforderung sind bei ihm Depression, Erschöpfung und Burnout.

Es gibt mehr solcher untypischer Benachteiligungen. Überflieger etwa, die sich aus den begrenzten Verhältnissen ihres Elternhauses nach oben arbeiten, vielleicht als Einzige aus der Familie ein Studium beginnen oder zu Geld kommen, werden als „hochnäsig“ oder arrogant geschmäht. Ihr Erfolg wird ihnen als „Verrat an der Familie“ ausgelegt, wiederum mit der Konsequenz eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft. Oder die von mir so bezeichneten „bunten Schafe“: Künstlertypen, die nicht den Weg gehen wollen, den die Eltern für sie vorgesehen haben: Sie schreiben Romane, statt eine Banklehre zu machen, sie singen in der Band, statt die Beamtenlaufbahn einzuschlagen, sie geben ihr Geld für Ölfarben und Leinwand aus statt für den ersten Bausparvertrag. Ein klassischer Weg, um in den entsprechenden Familien ausgegrenzt und als Familienmitglied verleugnet zu werden. Ebenso peinlich und unangenehm sind vielen Familien psychisch kranke Töchter oder Söhne. Zur gesellschaftlichen Stigmatisierung dieser Menschen, die auch heute noch eher die Regel als die Ausnahme ist, kommt die Ausgrenzung aus der Familie. Ob sie nun nicht ernst genommen oder bevormundet werden, das Gefühl, ein vollwertiges Familienmitglied zu sein, wird sich so oder so nicht einstellen.

Was sind die Folgen dieser Erfahrung? Das Lebensgefühl mit einer Mischung aus Scham und Schuld wurde bereits erwähnt. Hinzu kommt die fatale Tendenz, sich mit anderen zu vergleichen, die vermeintlich besser, schöner, erfolgreicher sind. Eine unbewusste Falle, in die sehr viele tappen. Schwarze Schafe sind Meister darin, sich selbst ab- und andere aufzuwerten. Auch das Gefühl, irgendwie immer dem Glück hinterherzulaufen und es doch nie zu fassen zu kriegen, prägt das Erleben der Frauen und Männer, die in ihren Familien benachteiligt wurden und werden. Eine innere Ruhelosigkeit führt zu aktivistischer Lebensführung oder lähmender Apathie. Im Hier und Jetzt fühlen sie sich nicht wohl, viele berichten, sie könnten „nichts mit sich anfangen“.

Große Gefahren lauern für Menschen, die sich als schwarze Schafe empfinden, auch am Arbeitsplatz. Als Kompensation zu den seit der Kindheit erlebten Defiziten stürzen sie sich in die Arbeit, um dort Anerkennung zu finden. Eine fatale Konstellation, die nach Jahren der Verausgabung in Erschöpfung und Burnout mündet.

Wie sehen die Partnerschaften schwarzer Schafe aus? Nach meiner Erfahrung haben viele von ihnen herzliche und zugewandte Partner. Aber auch dieses Glück können viele nicht genießen, andere überfordern die Beziehung, indem sie unbewusst vom Gegenüber fordern, sie oder er solle all das ausgleichen, was in der Kindheit zu kurz gekommen ist. Ihre Kinder erziehen die meisten schwarzen Schafe liebevoll und gerecht. Die Angst, es genauso falsch zu machen wie die eigenen Eltern, führt in den meisten Fällen dazu, dass die Kinder mit Anerkennung und Förderung aufwachsen. Über diesem sicher positiven Bestreben sind aber die Frauen und Männer mit der Erfahrung von Benachteiligung und Ausgrenzung in ihrer Familie wiederum in Gefahr, sich selbst zu übersehen. Anstatt auch für sich zu sorgen und sich aus der Rolle des schwarzen Schafes herauszuentwickeln, stecken sie alle Energie in das Wohl der Kinder und bleiben so erneut auf der Strecke.

Wir sehen, dass die Erfahrung, das schwarze Schaf der Familie zu sein, umfassende Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen nach sich zieht. Viele der genannten Konstellationen und Mechanismen kennen wir auch aus anderen Bereichen psychosozialer Belastung. Aber Ausgrenzung aus der eigenen Familie sehe ich als eine prinzipielle und existenzielle Erfahrung, die kaum jemanden unbeeindruckt lassen wird.

Bevor ich Hinweise zum Umgang mit dieser Situation und zu möglichen Auswegen gebe, möchte ich zunächst noch einen Blick auf die Ursachen werfen. Wie ist so etwas überhaupt möglich, dass ein Kind schlechter behandelt wird als seine Geschwister? In unseren Köpfen existiert ein Bild von Familie, das durch eine weitreichende Idealisierung geprägt ist. Hin und wieder nehmen wir schaudernd zur Kenntnis, dass es auch wahre „Horrorfamilien“ gibt, aber die kennen wir nur aus den Medien. Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt – betrifft das nicht nur einige seltene Fälle, in denen offensichtlich irgendetwas gewaltig schiefgelaufen ist? Aber dieses Bild ist nicht richtig. Sieht man genau hin, so erkennt man, dass unsere Familien nicht selten höchst ungerechte Gemeinschaften sind, in denen wie auch in anderen Gruppen Neid, Missgunst, Ablehnung und Berechnung vorherrschen können.

Um die Opferrolle zu verlassen, muss ich zunächst akzeptieren, dass ich ein Opfer bin

Einer der häufigsten Gründe für die Entstehung schwarzer Schafe in der Familie ist schlicht die Vernachlässigung. Die Kinder sind sich selbst überlassen und entwickeln nach dem Prinzip des Rechtes des Stärkeren eine Hierarchie, die die Robusten und Durchsetzungsfähigen bevorzugt. Die Eltern sind zu schwach, zu krank, zu sehr von eigenen Sorgen und Nöten abgelenkt, um dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten. In anderen Familien sind die Eltern unreif, groß gewordene Kinder, die– teils unbedarft, teils mehr an ihren eigenen Interessen orientiert – nicht eingreifen, wenn eine Tochter oder ein Sohn in die Außenseiterrolle gedrängt wird. Eine häufige Konstellation ist auch ein Kind mit einer Erkrankung, die alle Energie, die den Eltern zur Verfügung steht, absorbiert, während für die Schwester oder den Bruder keine Kraft und keine Liebe mehr übrig ist.

An diesen Beispielen sehen wir schon, dass Benachteiligung in der Kindheit auch schicksalhafte und tragische Züge haben kann. Familien, in denen es niemandem gutgeht, in denen aber ein Kind zum typischen schwarzen Schaf wird.

In vielen Fällen jedoch stehen andere Motive hinter der Ausgrenzung. Der Vater, der (zu Recht oder zu Unrecht) vermutet, das eine Kind sei nicht von ihm, und dieses „Kuckuckskind“ schikaniert, bis es alt genug ist, dass er es aus dem Haus jagen kann. Die Mutter, die noch einen „Nachzügler“ bekommt, der ihr den geplanten Wiedereinstieg ins Berufsleben vermasselt. Die Tochter oder der Sohn, die das Pech haben, die Mutter an den Vater zu erinnern, der sie in der Schwangerschaft hat sitzenlassen. All das sind Konstellationen, die zu unterschwelliger Benachteiligung oder zu offenkundiger Ablehnung führen können.

Was ist zu tun, wenn ich erkenne, dass ich das schwarze Schaf in meiner Familie bin? Der erste Schritt ist sicherlich, sich in diesem Punkt nichts vorzumachen. Um von der Opferrolle weg zu kommen, muss ich zunächst akzeptieren, dass ich Opfer bin. Bereits dieser Schritt fällt vielen schwer, leben wir doch in einer Gesellschaft, die uns ständig Unabhängigkeit und Autarkie als Ideal suggeriert. Das Ziel für das schwarze Schaf sollte stets sein, in die innere wie die äußere Beziehung zur Familie mehr Distanz zu bekommen. Das Loslassen eigener auf die Familie gerichteter Wünsche oder Forderungen ist eine der schwierigsten Aufgaben, die schwarzen Schafen bevorsteht. Dies ist aber erforderlich, um nicht ein Leben lang voller Hoffnung und Sehnsucht den falschen Menschen hinterherzulaufen.

Gleichzeitig ist es wichtig, sich selbst neu zu orientieren. Hier scheinen mir Maßnahmen besonders geeignet, die wir aus der Resilienzforschung kennen: Aufbau eines positiven Selbstbildes, achtsamer Umgang mit eigenen Bedürfnissen, Abbau selbstschädigender Verhaltensweisen gehören ebenso dazu wie die Schaffung eines positiven Freundeskreises und die Kontrolle eigener Impulse. Und ein Prinzip, das vielen mit am schwersten fällt: Geduld. Was ein Leben lang schief läuft, kann nicht innerhalb weniger Wochen oder Monate abgelegt sein.

Peter Teuschel ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Nach seiner Tätigkeit als Chefarzt einer psychiatrischen Fachklinik ist er nun in eigener Praxis niedergelassen als Psychiater, Psychotherapeut und Coach. Dieser Artikel basiert auf seinem aktuellen Buch Das schwarze Schaf. Benachteiligung und Ausgrenzung in der Familie. Klett-Cotta, Stuttgart 2014

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2015: Muss ich perfekt sein?