Heute eskortiere ich mein fünfjähriges Patenkind Ben zu seinen Großeltern, wir fahren mit dem Zug von Berlin nach Cottbus. Wie jedes Kind stellt auch Ben gern unvermittelt große Fragen, und als wir in der Schlange vor der Bahnhofsbäckerei stehen, die eigentlich keine Schlange ist, sondern ein unübersichtlicher Pulk, fragt mich Ben: „Wie fangen eigentlich Kriege an?“
Ich bin mit der Backwarenauslage befasst und sage etwas unbestimmt: „Kriege fangen an, wenn zwei Menschen in Streit geraten.“ Ben nickt. Eine…
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„Kriege fangen an, wenn zwei Menschen in Streit geraten.“ Ben nickt. Eine der Verkäuferinnen hinter der Theke schaut mich an und fragt: „Was darf’s denn sein?“
„Die beiden bitte“, sage ich und deute auf irgendwas mit Käse, und dann sagt ein Mann, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, dass ihn der Himmel oder sonst etwas Imposantes schickt, ziemlich laut: „Moment! Entschuldigen Sie mal.“ Ich drehe mich um. Der Mann steht schräg hinter mir und funkelt mich an. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind“, fragt er, „dass Sie die Stirn besitzen, sich hier einfach vorzudrängeln?“
„Ich habe mich nicht vorgedrängelt“, sage ich, „ich habe Sie nicht gesehen. Entschuldigung.“ Der Mann will das offenbar nicht hören, denn er legt sofort nach: „Finden Sie, dass Sie ein gutes Vorbild für Ihren Sohn sind, wenn Sie sich einfach so vordrängeln?“ „Das ist nicht mein Sohn, das ist mein Patenkind“, sage ich, als täte das irgendwas zur Sache, und der Mann sagt: „Sie sind wirklich kein gutes Vorbild“, dann schweigt er, und ich schweige auch.
Und die Pampe bleibt kleben
Manche Leute können, wenn sie angepampt werden, sofort und auf das schlagfertigste zurückpampen, und Minuten später ist die ganze Motzerei vergessen. An mir perlt derartige Pampe leider nicht ab. Wann immer mich jemand nebenbei und zu Unrecht beschimpft – entnervte Kassierer, maulende Busfahrer, wütende Bäckereikunden –, klebt das an mir wie Pech, und jedes Mal suche ich noch lang und mit empört auf der Stelle hüpfendem Herzen nach einer schlagfertigen Antwort, für die es längst zu spät ist.
Die schöne Kehrseite dieser Medaille ist: auch beiläufige Freundlichkeiten bleiben an mir kleben. Als ich letztens telefonisch ein Taxi bestellte und die Frau in der Taxizentrale sagte: „Sie haben eine wirklich schöne Stimme“, dachte ich noch Stunden später versonnen lächelnd daran zurück. Das geht nicht nur mir so. Vor ein paar Tagen bot ich einer klapprigen Dame an, ihr die Einkaufstüten ein Weilchen zu tragen, und hinterher sah sie mich an, als hätte ich ihr nicht ihre Tüten die Straße runter-, sondern sie selbst durchs Leben getragen. Nebenbei ausgeteilte Freundlichkeiten können sehr nachhaltig sein, nebenbei ausgeteiltes Gemotze leider auch.
Umstellt von vorwurfsvollen Konjunktiven
Ben und ich gehen zum Bahnsteig. „Was ist denn ein Vorbild?“, fragt Ben, weil auch er neben seinem Käsebrötchen noch den Mann aus dem Bäckereipulk mit sich herumträgt, den ganzen schweren Mann samt seinem Gepampe. „Ein Vorbild ist jemand, der Sachen gut macht, so dass man denkt: So will ich das auch mal machen“, sage ich. „Schmeckt’s?“ Ben nickt. Dann zeigt er hinter mich und flüstert erschrocken: „Schau mal. Da.“ Wir stehen im Gleisabschnitt B, und im Gleisabschnitt D steht der Mann aus dem Pulk, den wir immer noch mit uns herumtragen.
Ich nehme Ben und den Koffer an die Hand. „Komm, Patenkind“, sage ich, „wir gehen jetzt noch mal zu dem hin.“ „Lieber nicht“, sagt Ben, vermutlich weil er einen Krieg fürchtet. „Mach dir keine Sorgen“, sage ich, „das wird gut“, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt natürlich keine Ahnung habe, dass es tatsächlich gut wird, sehr gut sogar. Zu diesem Zeitpunkt kann es durchaus noch sein, dass wir erneut mit Pech begossen werden, dass der Mann noch einen Zahn zulegt, dass er herumhüpft wie ein Rumpelstilzchen, wie ein zu Unrecht angepamptes Herz.
„Na gut“, sagt Ben schließlich, und wir gehen hin. Wir gehen hin, weil mich der Mann an meine Vorbildfunktion erinnert hat. Wir gehen hin, weil ich dem Mann seine Unfreundlichkeit nicht durchgehen lassen will, weil ich seiner Erzählung dazwischenfunken will, einer großmäuligen Erzählung, die behauptet, dass er umgeben ist von einer sich immer vordrängelnden Welt. Wir gehen hin, weil ich heute Nacht nicht in die Dunkelheit starren und Sätze denken will, die mit „Hätte ich doch“ oder „Wäre ich doch“ anfangen, ich will mir das ersparen und dem Mann auch, denn vielleicht würde, wenn wir nicht hingingen, auch der Mann heute Nacht in die Dunkelheit starren und denken: „Wäre ich heute an der Bahnhofsbäckerei doch nicht so ein Arschloch gewesen.“ Und genau darum geht es doch, denke ich, als wir uns Gleisabschnitt D nähern: Tage so zu gestalten, dass man hinterher nicht in die Dunkelheit starren muss, umstellt von vorwurfsvollen Konjunktiven.
Gegen das Sodbrennen des Ärgers
Der Mann sieht nicht gewaltbereit aus. Er sieht aus, als säße ihm seine Pampigkeit in der Kehle wie Sodbrennen. Als wir plötzlich vor ihm stehen, lächelt er uns überrascht an. Ich lächle nicht zurück. „Was ich noch sagen wollte“, fange ich an. „Ich habe mich wirklich nicht vorgedrängelt. Ich habe Sie nicht gesehen. Sie haben mich vorhin zu Unrecht beschimpft.“
„Das stimmt“, sagt der Mann, er sagt es erleichtert, und mir wird klar, dass wir tatsächlich auch ihn vor dem nächtlichen Starren bewahrt haben. „Entschuldigung“, sagt er, „ich war eigentlich wegen etwas ganz anderem verärgert. Es tut mir leid, dass ich das an Ihnen ausgelassen habe.“ Und dann schütteln wir uns die Hände, ziemlich lange, wie zwei Staatsmänner für die Kamera, und die Kamera ist in dem Fall Ben. Er schaut von einem zum andern, als hätten wir soeben einen Krieg verhindert. „Auf Wiedersehen“, sagen wir schließlich alle drei, und auf dem Rückweg in unseren Gleisabschnitt kommen Ben und ich uns seltsam schwer vor, auf gute Weise sehr schwer, schwer wie der einfahrende Regionalzug.
Mariana Leky ist mit ihrem Roman Was man von hier aus sehen kann seit vielen Wochen in den Bestsellerlisten. In Psychologie Heute schreibt sie jeden Monat darüber, was die Menschen, die sie umgeben, bewegt. Mit psychologischen Themen kennt sich Leky aus: In ihrer Familie sind zehn Psychoanalytiker