„Du hast es in dir“

Bei Freud stand die reale Mutter im Mittelpunkt, Jung hingegen schuf den Mutter-Archetypus. Aber was ist das? Fragen an den Experten Ralf T. Vogel.

Mutter mit Säugling auf einem Schaukelstuhl.
Woman rocking new baby in nursery © Lisa5201 // Getty Images

C. G. Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, hat sich den unbewussten Motiven gewidmet, die wir vom Mütterlichen haben, und den so genannten Mutter-Archetypus entwickelt. Wo liegt der Unterschied zwischen unserer persönlichen Mutter und dem Mutter-Archetypus bei Jung?

Der Mutter-Archetypus meint nicht einfach Bilder von Müttern, die wir unbewusst in uns tragen. Die archetypische Mutter bei Jung ist eine Formation innerhalb der Seele jedes einzelnen Menschen. Diese innerseelische Struktur ist geprägt durch Begriffe wie Versorgen, Halten, Bewahren, aber auch auf der anderen Seite Festhalten, Nichtloslassen, Verschlingen. Es sind also Motive, die mit Mütterlichkeit verbunden werden, die in allen Kulturen auftauchen – und die in jedem von uns zu finden sind, ob Mann oder Frau. Das ist der Unterschied zur Freudschen Auffassung der persönlichen Mutter, die es in Raum und Zeit tatsächlich gibt. Das Archetypische bei Jung wird anhand von realen Personen höchstens in Szene gesetzt. Aber es ist eigentlich nicht in der Realität vorhanden, sondern ein psychisches Prinzip.

Und dieses psychische Prinzip ist in uns allen von Anfang an verankert?

Ja, heute würde man sagen, dass dieser Mutter-Archetyp durchaus auch eine empirische Grundlage hat, dass dieses implizite Wissen bei den Menschen schon mit der Geburt vorhanden ist. Es gibt die amerikanische Säuglingsforschung, die erkundet, wie sich Babys gleich nach der Geburt verhalten. Und da stellt man fest, dass sie sofort in der Lage sind, ihre primäre Bezugsperson mit viel Charme und mit Lauten und Blicken so zu dirigieren, dass diese Bezugsperson sich so verhält, wie sich eine gute Mutter zu verhalten hat.

Die Bezugsperson könnte genauso gut auch ein Mann sein?

Ja, heute sagt man einfach „primäre Bezugsperson“. Die Frage ist gar nicht die Verwandtschaft oder das Geschlecht, sondern die emotionale Nähe und die Dichte. Man merkt es selbst: Wenn man lange genug in eine Wiege hineinschaut, macht man genau das, was das Kind braucht. Man nimmt den Tonfall an, man nickt, weil das eine schönere Bewegung ist für Kinder als den Kopf zu schütteln – man wird sozusagen eine gute Mutter. Und das muss man den Babys eben nicht beibringen. Die kommen auf die Welt und sagen quasi: „Ich weiß, wie eine gute Mutter zu sein hat. Und ich versuche jetzt, aus meinen primären Bezugspersonen dieses Mütterliche herauszuholen.“

Wie zeigt sich denn der Mutter-Archetypus in kulturellen Bildern oder in Träumen?

Wie er sich genau äußert, ist biografisch und von der jeweiligen Kultur mitgeformt. Bei uns ist es zum Beispiel die Maria mit dem Jesuskind. Aber es sind auch ganz abstrakte Bilder, die als mütterlich-archetypische Bilder in uns hochkommen können: ein Haus, eine Höhle, die Universität – Alma Mater heißt ja „gütige Mutter“. Bei Männern ist es auch oft die Firma.

Die Firma?

Ja, die Firma, die mich versorgt, die mich hält und strukturiert, die mich aber auch bindet und nicht loslässt. Denn ein Archetyp ist ja, wie alles Psychische, bipolar aufgestellt. Das heißt, wir haben in diesem Archetyp nicht nur die gütige Mutter, sondern immer auch: die Hexe, die Herrscherin der Unterwelt, die Spinne. Heutzutage übrigens finden wir das in Daenerys Targaryen, der Drachenmutter aus Game of Thrones. Sie ist eine ganz typische Darstellung des Mutter-Archetyps, geprägt vom Bipolaren. Auf der einen Seite ist sie die gute Mutter, die ganze Nationen rettet. Und auf der anderen Seite die Vernichtende und fast Verrückte, das wird ja sehr schön dargestellt.

Es ist übrigens eine Jungsche Idee, dass Hollywood tatsächlich eine Traumfabrik ist, das heißt, dass die guten Autoren und Filmemacher es schaffen, archetypische Traum-Motive in ihre Filme einzubauen, und dann gucken wir alle diese Filme. Wir wissen gar nicht warum, aber wir gucken.

Wir sehen unsere eigenen Träume in den Produkten der Traumfabrik – interessanter Gedanke. Sehr schön finde ich ja bei den Ausführungen von Jung, dass er so viele religiöse und mythologische Geschichten untersucht hat, um die Bilder zu identifizieren, in denen sich über Jahrtausende das Mütterliche manifestiert hat. Dadurch erlangt es eine große Tiefe, jenseits des einzelnen Menschen.

Genau. Das ist das Schöne an dem Jungianischen Ansatz. Es geht in der Therapie eben nicht nur darum, wie ich so schnell wie möglich meine Angst wegbekomme. Sondern die Therapie verbindet immer das Thema, das der einzelne Patient mitbringt, mit uns als Menschen, mit der gesamten Menschheitsgeschichte. Das macht den Ansatz meiner Meinung nach bedeutsam.

Und es ist komplexer, als in der Therapie nur die jeweilige individuelle Mutter zu betrachten.

Genau. Wobei es natürlich auch Menschen gibt, die kommen zu einem jungianischen Analytiker, weil sie sich mit der individuellen Mutter gar nicht auseinandersetzen wollen. Die haben ein wenig Jung gelesen und denken, dass wir in der Therapie gleich mit den überindividuellen Bildern des Mütterlichen anfangen können, also quasi einen Bypass legen um die eigenen realen psychologischen Erfahrungen. Diese Patienten sind dann ganz enttäuscht, wenn sie mit mir auch erstmal durch die ganz normalen Erfahrungen, die man im Jungianischen „Komplexe“ nennt, durch müssen, bevor wir dann zu den archetypischen Bildern kommen.

Hat C. G. Jungs Interpretation der archetypischen Bedeutung der Mutter auch eine entlastende Funktion für Mütter heute? Weil neben ihrem persönlichen Einfluss auf ihr Kind auch eine archetypische Mutter eine Rolle spielt?

Ja, das würde ich schon sagen. Die Entlastung kann daher kommen, dass man weiß, dass etwas Mütterliches schon in jedem Menschen drin ist. Dass ich sozusagen nicht die einzige Mutter meines Sohnes bin. Meine Arbeit als Mutter ist es also auch, meiner Tochter oder meinem Sohn zu ermöglichen, einen guten Zugang zu dem zu bekommen, was in ihnen schon angelegt ist. Da merkt man, dass die analytische Psychologie durch die Archetypen eigentlich die historisch erste ressourcenorientierte Psychologie ist.

Ein Beispiel: Ich kann mich an eine Patientin erinnern mit einer verheerenden Missbrauchs-Anamnese, die überhaupt keine gute Beelterung erfahren hatte, die aber zwei Kinder hat. Jetzt kann man sich fragen: Wie kriegt so eine Frau einen Zugang zum Mütterlichen, wo sie überhaupt nichts Mütterliches erfahren hat? Und da würde eben der Jungianer sagen: Sie hat das schon in sich. Und die Aufgabe der Therapie ist es, einen Kontakt herzustellen zu diesen archetypischen Facetten in sich. Ich als Jungianer kann im Brustton der Überzeugung sagen: Das musst du nicht erwerben und das musst du auch nicht von deiner realen Mutter lernen. Sondern du hast es in dir drin. Und wir suchen das jetzt.

Und auf der anderen Seite könnte man auch sagen: Wenn ein Sohn mit mir als Mutter einen Konflikt hat, wurzelt der nicht nur in unserem persönlichen Verhältnis.

Richtig. Wenn es zum Beispiel alltägliche Konflikte in der Pubertät gibt, die plötzlich heftig werden, dann hat man immer so eine Daumenregel als Eltern: Geht es da wirklich um mich oder geht es da eigentlich um etwas viel Größeres? Die Kids kämpfen ja manchmal um Sein oder Nicht-Sein in den banalsten, alltäglichen Angelegenheiten. Die sind also, würde man sagen, mit einer archetypischen Motivation aufgeladen.

Mit der Frage nach dem Verhältnis von Mutter und Sohn ist ja auch der Begriff des Inzests verbunden. Sigmund Freud interpretiert den Inzestwunsch des Sohnes recht konkret: Der Sohn begehrt im Alter von drei bis vier Jahren die Mutter und entwickelt einen Hass auf den Vater. Wird die ödipale Phase gut bewältigt, gibt der Sohn den Kastrationswunsch gegenüber dem Vater irgendwann auf. Was bedeutet der Inzestwunsch bei Jung?

Für Jung war der Mutter-Archetypus auch ein Symbol für das Unbewusste, die Unterwelt. Und der Inzest ist damit ein Bild für die Verstrickung und die notwendige Ablösung vom Unbewussten, für das Sich-bewusst-Werden, das in der ersten Lebenshälfte des Menschen ansteht – und das tatsächlich im Alter von drei bis vier Jahren erst so richtig beginnt, wenn der Mensch anfängt, sich sprachlich ausdrücken zu können.

Um sich in das jungianische Denken einzulesen: Welche Bücher würden Sie unseren Lesern empfehlen?

Einer der Klassiker ist von Murray Stein, einem amerikanisch-schweizerischen Psychoanalytiker, mit dem Titel C.G. Jungs Landkarte der Seele: Eine Einführung. Und von mir selbst gibt es ein neueres Buch, es heißt Analytische Psychologie nach C.G. Jung und ist vor anderthalb Jahren erschienen.

Professor Dr. Ralf T. Vogel ist Lehranalytiker, Psychologischer Psychotherapeut in Ingolstadt und einer der profiliertesten deutschen Jung-Kenner.

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 5/2020: Männer und ihre Mütter
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