Familienritual Abendbrot

Gemeinsame Mahlzeiten sind der Inbegriff einer intakten Familie. Worauf es ankommt, wenn das Essen uns auch psychisch stärken soll.

Die Illustration zeigt eine Mutter und ihr Kind am Tisch beim Pizzaessen, während die Mutter dabei ein Glas Wein trinkt und liebevoll auf ihr Kind schaut
Wer nicht gemeinsam isst, ist keine Familie. © Sabine Kranz

In vielen Kinderbüchern spielt das Mittagessen eine zentrale Rolle: Kasperl und Seppel essen stets mit Kasperls Großmutter – jeden Donnerstag gibt es Bratwurst mit Sauerkraut. Der kleine Lord muss bei seinem Großvater an der langen Tafel vornehm mit Messer und Gabel speisen. Pippi Langstrumpf schneidet die langen Spaghetti einfach mit der Schere ab und legt beim Essen auch mal die Füße auf den Tisch. Die wohlerzogenen Nachbarskinder schauen erst entsetzt, bevor sie befreit bei diesen ungewöhnlichen…

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bevor sie befreit bei diesen ungewöhnlichen Tischsitten mitmachen.

Tischszenen stehen für so vieles – in ihnen spiegeln sich Werte, Herkunft und Zusammengehörigkeit. „In der Menschheitsgeschichte ist das gemeinsame Essen die soziale Erfahrung schlechthin“, formuliert es Christoph Klotter, Psychotherapeut und Professor für Ernährungspsychologie an der Hochschule Fulda. Schon immer festigen Menschen die Bande zu denen, die ihnen nahestehen, indem sie gemeinsam essen. Wer mit am Tisch sitzt, gehört dazu.

Das galt für die bäuerliche Familie vor 200 Jahren ebenso wie für Familien von heute. Damals hörte der Bauer vom Knecht, wie viel Milch die Kühe geben. Heute bekommen die Eltern bei Tisch mit, mit wem das Kind auf dem Schulhof gespielt oder gestritten hat. „Dieser Austausch von Erfahrungen und Erlebnissen ist der Kern dessen, was die Familie zusammenhält“, sagt Klotter. Man könnte auch sagen: Wer nicht gemeinsam isst, ist keine Familie.

Regelmäßig ist wichtig

Während früher das Mittagessen die wichtigste Familienmahlzeit war, ist es heute das Abendessen, stellt die aktuelle Umfrage des Deutschen Kinderhilfswerks aus dem Jahr 2020 Essensrituale von Familien in Deutschland fest. Sieben von zehn befragten Kindern und Jugendlichen essen täglich gemeinsam mit der Familie am Ende des Tages. In größeren Familien ist das Abendritual häufiger als in kleinen Haushalten. 90 Prozent nehmen zumindest an drei Tagen in der Woche mit der Familie das Abendbrot ein. An den Wochenenden sitzen 97 Prozent der Familien mindestens einmal am Tag gemeinsam am Esstisch.

„Wann man isst, ist irrelevant“, betont Ernährungspsychologe Klotter. Man müsse nicht einmal jeden Tag gemeinsam essen, wichtig sei vor allem eine gewisse Regelmäßigkeit. Viele Studien unterstreichen Klotters Aussage. Wenn Familien in einem festen Rhythmus gemeinsam essen, profitieren die Kinder sehr davon.

Das zeigt beispielsweise die aktuelle Übersichtsarbeit von Karen Glanz, Direktorin des Präventionsforschungszentrums an der University of Pennsylvania in Philadelphia. Für ihre Studie wertete die Verhaltensepidemiologin die Ergebnisse von 118 Studien aus, die sich mit der Frage beschäftigen, wie sich gemeinsame Familienmahlzeiten auf die körperliche und mentale Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auswirken.

Positive Langzeiteffekte

Wenn Kinder und Eltern regelmäßig zusammen essen, ernähren sich alle gesünder. Dieser Effekt hält auch auf Dauer an. Junge Erwachsene, die als Kinder häufiger mit ihren Eltern aßen, essen gesünder als ihre Altersgenossen. Sie nehmen beispielsweise weniger Softdrinks zu sich, essen mehr Obst und Gemüse und entwickeln seltener Übergewicht. Diese Vorteile lassen sich durch die Vorbildfunktion der Eltern und Gewohnheit erklären.

Überraschender ist, dass Kinder, die häufiger gemeinsam mit ihren Eltern essen, seltener Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie entwickeln. Sogar das Risiko für Rauchen und übermäßigen Alkoholkonsum ist geringer als bei jungen Erwachsenen, die als Kinder nur selten zu Hause mit der Familie speisten.

Andere Studien zeigen, dass die gemeinsamen Mahlzeiten sogar die Kraft haben, den gesamten Tag der Familie in guter Weise zu strukturieren: In einer Untersuchung mit 337 Vorschulkindern konnte der Gesundheitspsychologe Blake L. Jones von der Brigham Young University in Provo in den USA zeigen, dass die Kinder, die gemeinsam mit den Eltern aßen, häufiger die nötigen zehn Stunden Nachtschlaf bekamen.

Andere Erhebungen wiesen auch in großen Kohorten mit bis zu 5000 Probanden und über Zeiträume von bis zu zehn Jahren nach, dass Kinder, die häufiger mit ihren Familien den Esstisch teilten, bessere Bewältigungsstrategien für fordernde Situationen entwickelten, besser mit den Eltern kommunizierten, wenn sie in die Pubertät kamen, und dass sie seltener straffällig oder physisch gewalttätig wurden.

Wenn die Atmosphäre nicht stimmt

Auch die amerikanische Soziologin Ann Meier stellte positive Langzeiteffekte durch gemeinsame Mahlzeiten fest. Allerdings mit einer großen Einschränkung: Wenn die Atmosphäre am Tisch nicht stimmt, wenn die Jugendlichen sich ständig bevormundet oder kritisiert fühlen, nutzt das beste Essensritual nichts: „Bei einer schwachen Eltern-Kind-Beziehung sind Familienmahlzeiten kaum von Nutzen“, erklärt Meier. Ihre Erkenntnisse beinhalten insofern auch eine Kritik an Programmen, die beispielsweise Familien mit sozialen Problemen dazu anhalten, gemeinsame Mahlzeiten zu etablieren. Denn ohne das Gefühl von Gemeinschaft bringt das Ritual offensichtlich wenig.

Doch was macht die gute Atmosphäre am Abendbrottisch aus? Es gehe dabei nicht um den gelegentlichen Streit oder die Diskussion, ob der Aufstrich vegan sein muss oder Leberwurst auf den Tisch darf, erklärt Dagmar von Cramm, Ökotrophologin, Autorin von Familienkochbüchern und Mitwirkende an der Studie des Kinderhilfswerks zu familiären Essensritualen. Für sie ist die Basis des Erfolgs das Zusammengehörigkeitsgefühl: „Gemeinsame Mahlzeiten sind eine gemeinsame Aufgabe.“ Mit anderen Worten: Die beste Atmosphäre entsteht, wenn sich alle für das Gelingen des Rituals verantwortlich fühlen.

Jedes Familienmitglied zählt

Das fängt beim Mitbestimmen des Speiseplans an, führt über das gemeinsame Einkaufen bis zum arbeitsteiligen Tischdecken. „Vorab zu besprechen, was man essen möchte und wie eine gemeinsame Mahlzeit gelingen kann, bringt viel Ruhe an den Esstisch“, erklärt von Cramm. Dann hat man vorher diskutiert, wie die vegane Tochter mit dem wurstliebenden Vater am Tisch auskommt. Oder welche Arten von Gemüse für alle akzeptabel sind.

Aber was, wenn das Kind nur Milchreis will? „Hier hilft Pragmatismus: Dann gibt es eben einmal in der Woche Milchreis oder jeden Tag eine kleine Portion als Nachtisch“, schlägt von Cramm vor. „Am Esstisch zeigt sich, wie ehrlich es gemeint ist, dass jedes Familienmitglied zählt“, sagt die Ökotrophologin.

Das gilt auch, wenn Konflikte auftreten. Ein Kind matscht mit dem Essen, das andere will am liebsten sofort aufstehen, wenn sein Teller leer ist. Wie sollten Eltern damit umgehen? Von Cramm rät: „Durchatmen und Ruhe bewahren.“ Und sie erklärt: „Der Familientisch ist keine Heile-Welt-Veranstaltung. Denn wo sonst treffen sich alle?“ Jedoch rät von Cramm zu Toleranz: „Tischrituale helfen, dass auch kleine Kinder eine Weile ruhig sitzen. Und wenn sie satt sind, sollten sie aufstehen dürfen – wenn sie die anderen nicht stören.“

Die Eltern sollten darauf achten, dass der Esstisch nicht zum Kampfplatz wird: „Wenn es um grundlegende Probleme geht wie die schulischen Leistungen des Kindes oder wenn der Konflikt zwischen einem Kind und einem Elternteil hochkocht, sollten die Eltern sich dafür extra Zeit nehmen.“

Ein Anker für die Pausenkultur

Partizipation ist auch das Ziel, wenn es darum geht, das Essen auf den Tisch zu bringen: Schon die ganz Kleinen bekommen etwas vom Essen der Großen, auch wenn sie selbst eigentlich noch Brei essen. „Eine gedünstete Möhre, eine Nudel – sobald die Kinder greifen können, sollte man sie mitessen lassen“, empfiehlt von Cramm. „Mit jeder Altersstufe übernimmt das Kind mehr.“ Rohkost schnippeln oder Salatsoße rühren, auf- und abdecken. Größere Kinder bereiten vielleicht den Nachtisch vor oder kochen auch mal für alle. „Der Gewinn an Selbstwirksamkeit für die Kinder ist enorm, wenn sie wissen, wie es geht“, sagt von Cramm.

Maike Ehrlichmann ist Ökotrophologin und hilft Menschen dabei, wieder zu einem gesunden Essverhalten zu kommen. Dabei setzt sie auf die Idee, dass Menschen letztlich intuitiv wissen, was sie gut nährt: „Menschen spüren sehr genau, welche Nahrungsmittel ihnen gut bekommen und wann sie genug gegessen haben“, erklärt Ehrlichmann.

Allerdings funktioniere dieses intuitive Essverhalten nur, wenn wir uns mit Ruhe und Aufmerksamkeit dem Essen widmen, erklärt die Ökotrophologin. „Wenn Stress und Anspannung im Vordergrund stehen, greifen wir vorzugsweise zu fettigen und süßen Speisen.“ Wenn es uns gelingt, das gemeinsame Essen zu einer guten Familienzeit zu machen, fördert das insofern auch das gesunde Essverhalten.

Diesen Effekt der gemeinsamen Mahlzeit sieht auch Ernährungspsychologe Christoph Klotter als wichtiges Merkmal einer gelungenen Mahlzeit. „Traditionell strukturierten Mahlzeiten den Tag, auch im Job“, erklärt Klotter. Man arbeitete nach Magenzeit: Frühstück, Mittagspause, Abendessen – und dann Feierabend. In der heutigen Zeit ist das gemeinsame Essen daher auch ein guter Anker, um eine Tagesstruktur und Pausenkultur zu pflegen – und seinen Kindern mitzugeben. Klotter hält es heute so wie früher: „Nach dem Abendessen bleibt mein Handy aus, ich checke keine E-Mails mehr und bin nicht mehr erreichbar für die Arbeitswelt – das wissen auch alle.“

Den Überfluss wertschätzen

Psychologe Klotter interessiert sich dabei nicht nur für den Umgang mit dem Essen in unseren modernen Zeiten, sondern er hat auch die letzten Jahrhunderte im Blick. Und dieser Fokus macht ihn zutiefst dankbar: „In der gesamten Menschheitsgeschichte bestimmten Hungerkrisen das Leben.“

Die Menschen hatten fast immer Angst, nicht genug zu essen zu haben. „Zusammen zu essen ist auch eine Wertschätzung für den Überfluss und die relative Sicherheit, in der wir heute leben“, sagt Klotter. Für ihn ist die gemeinsame Mahlzeit insofern auch ein wichtiger Ort der Herzensbildung: „Rund um das Essen vermitteln sich eigentlich alle Werte.“ Und Eltern, die mit ihren Kindern gemeinsam Mahlzeiten vorbereiten, zubereiten und in Ruhe verspeisen, haben schon viel getan, um ihnen das nötige Rüstzeug für das Leben mitzugeben.

Literatur

Christoph Klotter: Einführung Ernährungspsychologie. utb, Stuttgart 2020

Karen Glanz u. a.: Diet and health benefits associated with in-home eating and sharing meals at home: A systematic review. International Journal of Environmental Research and Public Health, 18, 2021, 1577. DOI: 10.3390/ijerph18041577

Dagmar von Cramm, Inga Pfannebecker: Express for Family. Lecker und gesund – fertig in 30 Minuten. GU, München 2021

Maike Ehrlichmann: Einfach ehrlich essen. Warum wir uns auf unseren Appetit verlassen sollten. Hirzel, Stuttgart 2017

Blake L. Jones u. a.: Parent routines, child routines, and family demographics associated with obesity in parents and preschoolaged children. Frontiers in Psychology, 5, 2014, 374. DOI: 10.3389/fpsyg.2014.00374

Samantha Goldfarb u. a.: Family structure and risk behaviors: The role of the family meal in assessing likelihood of adolescent risk behaviors. Psychology Research and Behavior Management, 7, 2014, 53–66. DOI: 10.2147/PRBM.S40461

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Debra L. Franko: What mediates the relationship between family meals and adolescent health issues. Health Psychology, 27/2, 2008, 109–117, DOI: 10.1037/0278-6133.27.2(Suppl.).S109

Ann Meier u. a.: Variation in associations between family dinners and adolescent well-being. Journal of Marriage and Family. 76/1, 2014. DOI: 10.1111/jomf.12079

Holger Hofmann u.a.: Essensrituale von Familien in Deutschland: Ernährungssoziologische Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche innerhalb der Familie. Deutsches Kinderhilfswerk e.V., Berlin 2020.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2022: Für sich einstehen