Sie haben für Ihre Doktorarbeit eine Staffel von The Voice Kids, einem Ableger der Fernsehsendung The Voice of Germany, und drei Finalshows des österreichischen Gesangswettbewerbs Kiddy Contest analysiert. Warum haben Sie sich ausgerechnet Casting-Shows ausgesucht?
Die Medien beeinflussen uns, sind aber gleichzeitig auch vom Zeitgeist geprägt. Deshalb sind sie so interessant für Soziologinnen und Soziologen. Casting-Shows sind besonders spannend für die Erforschung gesellschaftlicher Trends, weil sich das…
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Soziologen. Casting-Shows sind besonders spannend für die Erforschung gesellschaftlicher Trends, weil sich das Echte mit dem Inszenierten mischt. Es treten reale Personen auf, die bewusst auf ganz bestimmte Art dargestellt werden.
Vieles, was hier als echt ausgegeben wird, ist in Wahrheit inszeniert. Die Art und Weise, wie Kinder in diesen Shows präsentiert werden, schafft ein bestimmtes Bild von Kindheit, an dem sich die Zuschauer – auch die Kinder selbst – orientieren: Wozu müsste ich in meinem Alter schon fähig sein? Wie sollte ich meine Freizeit und meine Beziehungen gestalten? Was ist normal?
Was konnten Sie beobachten?
Als Erstes fällt die extreme Professionalität auf, mit der die Kinder auftreten – vor allem bei The Voice Kids. In Gesang, Bühnenpräsenz, Styling und Eloquenz kommen die Kandidatinnen und Kandidaten tatsächlich erwachsenen Musikstars gleich. Fast könnte man vergessen, dass es sich um Kinder handelt. Dabei geht es stark um Leistung. Den Grundstein für die Karriere kann man nicht früh genug legen, so der Tenor.
Ist das denn schlimm? Immerhin müssen Kinder auch in der Schule Leistung bringen und werden ständig bewertet.
In diesen Shows findet aber nur vordergründig ein Talentwettbewerb statt. Das Fortkommen oder Scheitern beruht weitgehend auf Willkür. Die Kriterien sind dabei weder für die Kinder noch für die Zuschauer ersichtlich, was dem Aufbau von Spannung dient. Auch wenn alle Kinder einen perfekten Auftritt hingelegt haben, muss eine bestimmte Anzahl von ihnen gehen. Scheitern wird dabei immer wieder künstlich erzeugt.
Der Hintergrund ist ein zutiefst ökonomischer: Die dramatische Inszenierung des Scheiterns der Kandidatinnen und Kandidaten fördert den Erfolg der Sendung. Zwar wird bei The Voice Kids und beim Kiddy Contest anders als bei Formaten wie Deutschland sucht den Superstar auf Spott und Erniedrigung verzichtet, aber manchen der jungen Kandidaten sieht man die Betroffenheit an, wenn sie ausscheiden.
An beiden Shows können Kinder ab acht Jahren teilnehmen. Sind die dem Stress überhaupt schon gewachsen?
Der Druck, immer wieder vor Fernsehkameras aufzutreten, perfekt zu singen, sich routiniert auf der Bühne zu bewegen und – wie es in diesen Shows heißt – „eine tolle Performance abzuliefern“, kann sehr groß sein. Aus einer Befragung von Erwachsenen, die an einer Casting-Show teilgenommen haben, weiß man: Auch von den Teilnehmenden, die nicht lächerlich gemacht werden, sind manche überfordert und entwickeln psychische Probleme.
Die Auswirkungen auf Kinder hat man noch nicht systematisch untersucht. Wenn aber schon Erwachsene negative Folgen aus der Showteilnahme davontragen können, ist das bei den Kindern wahrscheinlich nicht anders.
Was ist Ihnen neben dem Leistungsdruck aufgefallen?
Kinder sind nicht nur Akteure dieser Sendungen. Bei meinen Analysen ergab sich öfter der Eindruck, dass sie als Mittel zum Zweck der Unterhaltung Erwachsener eingesetzt werden. Da kann man sich schon fragen: Ist das ethisch in Ordnung? Auffällig war zudem, dass Kommerzialisierung und Mediatisierung als gesellschaftliche Trends auch diese Shows prägen.
Wie äußert sich das?
In den Casting-Shows, die ich mir angeschaut habe, gab es zum Beispiel sehr viel Product-Placement – eine Werbemaßnahme, bei der ein Produkt scheinbar beiläufig im Bild platziert wird. Kinder werden heute gezielt mit subtilen Marketingstrategien angesprochen, die es ihnen erschweren, Werbung als solche zu erkennen. Ähnlich ist es, wenn Influencerinnen und Influencer auf Social Media von Produkten schwärmen oder in sogenannten „Unboxing-Videos“ vor der Kamera Pakete auspacken.
Auf den ersten Blick ist das oft nicht als Werbung auszumachen. Gerade Kinder können den Unterschied zwischen Werbung und anderen Inhalten noch nicht gut erkennen. Eine Studie aus Großbritannien zeigte, dass selbst 15-Jährige bei verdecktem Marketing damit noch Probleme haben.
Was meinen Sie mit „Mediatisierung“?
In den Shows werden Kinder – sowohl teilnehmende als auch zusehende – zum Beispiel recht unreflektiert zum Teilen von Fotos und Privatem auf Social Media animiert. Es gibt da eine Szene in The Voice Kids, in der He/Ro, zwei YouTuber, die unter dem Namen Die Lochis bekannt wurden, Kandidatinnen sogar raten: „Postet alles, was geht. Man kann nicht zu viel posten.“
Neben vielen Möglichkeiten gibt es aber auch Gefahren in der Onlinewelt, etwa Cybermobbing oder Cybergrooming, bei dem Personen mit sexuellen Absichten im Internet Kontakt zu Minderjährigen suchen. Solche Risiken werden in den Shows aber nicht angesprochen.
Sie konnten beim Kiddy Contest und bei The Voice Kids auch Anzeichen für eine Sexualisierung von Kindern feststellen.
Ja, im Styling der Mädchen lassen sich teils sexualisierende Elemente finden. Sie sind oft geschminkt oder tragen teils relativ kurze Röcke. Die Sexualisierung hält sich diesbezüglich aber in Grenzen. Problematischer ist ein Muster, das den Kiddy Contest prägt: Dort wird es durch verschiedene Anspielungen als normal dargestellt, dass 10- bis 12-jährige Kinder schon romantische Erfahrungen gemacht haben müssen – und als problematisch, wenn das nicht der Fall ist. Die Normen, die dadurch gesetzt werden, können junge Zuschauerinnen und Zuschauer unter Druck setzen.
Haben Sie ein Beispiel?
Elfjährige, die eigentlich zufrieden mit sich waren, schämen sich dann vielleicht, dass sie dahingehend noch unerfahren sind. Im Kiddy Contest, wo Popsongs nicht im Original gesungen, sondern für die Kinder auf Deutsch umgetextet werden, singt zum Beispiel ein Zehnjähriger über Geheimnisse, die man besser für sich behält. In einer Zeile geht es darum, dass er noch nie ein Mädchen geküsst hat. Das kommt nicht von diesem Buben selbst, sondern ein Erwachsener hat diesen Text für ein Kind geschrieben.
Ähnlich macht es die Moderatorin: Eine beliebte Frage an die Kinder ist, ob sie schon einen Freund oder eine Freundin haben – und wenn nicht, wird wiederholt nach den Gründen gefragt und dann nach Lösungen gesucht. Manchmal wird sogar romantisches Interesse gegenüber Erwachsenen suggeriert. Als ein männlicher Stargast die Bühne betritt, heißt es: „Väter, haltet eure Töchter fest!“ Und als eine Kandidatin den Prominenten umarmt, erscheint ein großes Herz um die beiden. All das sind Botschaften, die hängenbleiben – bei den Teilnehmenden und den Zusehenden zu Hause.
Werden Mädchen und Jungen unterschiedlich dargestellt?
Man sieht, dass klassische Geschlechterrollen für die Kinder selbst kaum mehr relevant sind. So singen Buben gefühlvolle Balladen, weinen aus Freude oder Traurigkeit oder erzählen, wie wichtig es ihnen ist, dass ihre Frisur sitzt, während Mädchen Fußball spielen oder sich für Astronomie interessieren.
Stereotype kommen vor allem im Kiddy Contest vor, werden aber hauptsächlich von den Erwachsenen eingebracht, zum Beispiel in den Songtexten. Im Lied Tag und Nacht der elfjährigen Helena wird eine ganze Kaskade an Klischees durchdekliniert: Mädchen lieben Shoppen und machen sich hübsch, Buben schauen Fußball und weinen nicht.
Sie sprechen in Ihrem Buch von einer „Entgrenzung von Kindheit“, die Sie in den Casting-Shows erkennen. Was meinen Sie damit?
Entgrenzung von Kindheit heißt, dass sich Grenzen zwischen den Lebensphasen Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter auflösen oder verschieben. All die genannten Aspekte – Wettbewerbsorientierung, die Bedeutung von Medien und Werbung sowie Sexualisierung – kennzeichnen das 21. Jahrhundert. Sie prägen das Leben von Erwachsenen, aber auch das von Kindern.
Dass Kinder und Erwachsene vieles gemeinsam haben, ist allerdings nicht unbedingt schon Entgrenzung. In meiner Arbeit zeige ich, dass vielfach der Begriff der Zeitgenossenschaft, den der Kulturwissenschaftler Heinz Hengst geprägt hat, treffender ist. Aber Zeitgenossenschaft kann eine Entgrenzung von Kindheit anschieben.
Wo verläuft denn diese Grenze?
Das lässt sich gar nicht so einfach sagen, wie es der Entgrenzungsbegriff nahelegt. Es gibt zwar bestimmte Meilensteine der biologischen oder kognitiven Entwicklung – aber auch die können sich von Kind zu Kind unterscheiden oder auch je nach Entwicklungsmodell. Vor allem ist Kindheit eine soziale Konstruktion: Jede Zeit und jede Kultur definiert sie anders.
Was ist typisch für unsere Gegenwart?
Die Jugend als Lebensphase hat sich stark ausgeweitet. Der Übergang von Kindheit zu Jugend verlagert sich nach vorne.
Wie kommt das?
Schon ab etwa acht Jahren orientieren sich Kinder zunehmend an der Jugendkultur, was Mode, Interessen und Konsum betrifft. Die ist in den Medien und der Werbung sehr präsent. Die gleiche Jugendkultur beeinflusst heute aber auch Erwachsene, wodurch in vielerlei Hinsicht die Grenzen verschwimmen. Generell gilt heute Jugendlichsein und alles, was mit Jugend zu tun hat, als besonders attraktiv – in allen Generationen.
Gab es Hinweise auf diese Entwicklung in den Casting-Shows?
Ja, Kandidatinnen und Juroren treten erstaunlich ähnlich auf, was etwa das Styling oder die Sprache betrifft. So sind die Juroren in The Voice Kids zum Beispiel oft „geflashed“ von den „krassen“ Auftritten der Kinder. Manchmal sitzen sie auch betont lässig im Schneidersitz auf dem Jurysessel. Teils hat das Jurorenverhalten sogar eher kindliche Züge: Einmal schlägt die Sängerin Nena vor Begeisterung einen halben Purzelbaum nach hinten.
Wollen wir heute nicht mehr erwachsen werden?
Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Die Jugend wurde erst ab etwa 1950 als eigene Lebensphase angesehen. Noch um 1900 unterschied man nur Kindheit und Erwachsenenalter. Später erst wurde jungen Menschen ein sogenanntes Moratorium zugestanden, in dem sie nicht erwerbstätig sein mussten und sich der Bildung und Entfaltung widmen durften.
Zu Anfang galt die Jugend als eine kurze Übergangsphase von wenigen Jahren ab etwa 15. Heute beginnt die Jugend früher und endet später. Ausbildungen dauern länger, der Eintritt in den Arbeitsmarkt ist für junge Menschen schwieriger geworden. Die Jugend ist zu einem eigenständigen Lebensabschnitt geworden, der 10 bis 20 Jahre umfasst.
Wenn die Jugend langsam die Kindheit verdrängt, dürfen Kinder dann immer weniger Kind sein?
So pauschal kann man das nicht sagen. Dass die Kindheit eine Zeit ist, die eines besonderen Schutzes bedarf, ist sogar eine vergleichsweise junge Einstellung.
Früher war also nicht alles besser?
Nein, denken Sie zum Beispiel an die Kinderarbeit. Die europäische Kindheit war lange davon geprägt – bis in das 20. Jahrhundert hinein. Erst allmählich hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Kinder die Möglichkeit haben sollten, in die Schule zu gehen und sich in Ruhe zu entfalten und entwickeln. Bis diese Überzeugung dann im Alltag der meisten Kinder wirksam geworden ist, hat es noch einmal gedauert. Und in manchen Teilen der Welt gibt es Kinderarbeit nach wie vor.
Wofür braucht es Grenzen zwischen Kindsein und Erwachsensein?
Auch wenn viele Grenzen nicht so fix oder klar sind, wie man vielleicht glauben könnte, gibt es doch Bereiche, wo Kinder in ihrer Entwicklung überfordert oder unter Druck gesetzt werden. Sexualisierung, verdeckte Werbung oder das Anlegen erwachsener Leistungskriterien an Kinder sind Beispiele für solche Formen der Entgrenzung. Da sollte man kritisch hinschauen – in den Medien und auch abseits davon.
Dr. Astrid Ebner-Zarl ist Soziologin und Medienwissenschaftlerin an der österreichischen Fachhochschule St. Pölten. Ihr Buch Die Entgrenzung von Kindheit in der Mediengesellschaft erschien 2021 bei Springer.