Herr Professor Pörksen, in Ihrem neuen Buch Die große Gereiztheit geht es um das Internet als „digitalen Pranger“. Was hat Sie bewogen, dieses Thema jetzt aufzugreifen?
Skandale und Berichte darüber gab es schon immer, sie haben ihre wichtige Funktion. Aber ich sehe heute eine neue Evolutions- und Eskalationsstufe der Skandalisierung, eine publikumsgetriebene Logik der Enthüllung. Heute besitzt jeder die Instrumente und die Möglichkeit, öffentlich zu machen und anzuprangern, was ihm missfällt, er kann Themen…
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Instrumente und die Möglichkeit, öffentlich zu machen und anzuprangern, was ihm missfällt, er kann Themen setzen, Normverletzungen skandalisieren – ohne die Vorfilterung durch den klassischen Journalismus. Auch deshalb ist die Netzöffentlichkeit so ungeheuer heterogen. Wir erleben die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen im digitalen Raum: Banales, Bestialisches, Relevantes, Schreckliches und Schönes – alles ist gleichzeitig sichtbar.
Das heißt, Menschen nutzen das Web, um andere anzuprangern und sich öffentlich aufzuregen?
Ja. Es trifft die grundsätzliche Entrüstungsbereitschaft des Menschen auf ein neues Medium, verbindet sich mit neuen medialen Möglichkeiten auf der Weltbühne des Netzes. Schon mit dem Smartphone tragen wir eine Allzweckwaffe der Skandalisierung stets am Körper, können live dokumentieren, was uns missfällt. Das kann der Nachbar sein, der seinen Müll falsch entsorgt, aber auch ein Fall von Polizeigewalt, der dokumentiert wird. Was ist das Smartphone? Ich würde sagen: Es handelt sich um ein im Wortsinne indiskretes Medium, das einst getrennte Sphären und Bereiche – nah und fern, hier und dort, die Welt des großen und des kleinen Ärgers – verschwimmen lässt. Jeder kann sich nun leichthändig in die Erregungskreisläufe einschalten.
Welche Motive gibt es für die Lust am Skandal und an der Empörung im Netz?
Es gibt eine Vielfalt von unterschiedlichen Motiven: zum einen die berechtigte Empörung über entsetzliche Ungerechtigkeit, zum anderen die Rache und schließlich der böse Spaß an der Diffamierung. Manche teilen aufwühlende Berichte jedoch auch schlicht aus Überforderung, verarbeiten so, was sie erschüttert – nur eben potenziell vor einem Riesenpublikum. Ein Motiv kann auch der Wunsch sein, sich ohne größere Unkosten über andere zu erheben und gleichsam mit dem Zeigefinger auf sie zu weisen: „So wie die sich benehmen, so benehmen wir uns aber nicht!“
Eine Folge dieser neuen Veröffentlichungsmacht ist, wie Sie schreiben, eine „Autoritätskrise“. Was genau verstehen Sie darunter?
Gemeint ist, dass Autoritäten und gerade noch verehrte Vorbilder – etwa Politiker, kirchliche und spirituelle Würdenträger, Sportler, Medienmacher – unter den neuen Transparenzbedingungen des digitalen Zeitalters in einer neuen Schärfe angreifbar werden, wenn alle senden, posten, filmen, permanent fotografieren. 40 000 Fotos werden jede Minute allein auf Instagram hochgeladen, 1,6 Milliarden Bilder in 24 Stunden über WhatsApp verschickt. Wenn die Welt immer strenger ausgeleuchtet wird, dann wird unabweisbar: Sichtbarkeit heißt Verwundbarkeit. Man sieht das gerade noch verehrte Vorbild jetzt eben auch auf YouTube mit Hängebauch in der Badehose am Strand, lacht darüber, wie dem Ministerpräsidenten plötzlich die Hose herunterrutscht, ein anderer im Zustand der Volltrunkenheit gefilmt wird. Was ist die Folge, worin besteht der grundsätzliche Effekt der Transparenz im digitalen Zeitalter? Autorität wird demontiert, Aura pulverisiert, Charisma verglüht im Licht des Banalen und Alltäglichen. Kurz und knapp: Wir kommen unseren jeweiligen Helden zu nah, um sie noch verehren zu können.
Wer Autoritäten als gewöhnliche Menschen vorführt, „entzaubert“ sie. Gibt es ein Bedürfnis danach?
Unbedingt. Und hier zeigt sich eine eigentümliche Ambivalenz des Menschen, eine Art Spaltung der Ansprüche: Wir wollen einerseits verehren, andererseits entzaubern; wir wollen Aura, Charisma, Distanz – und gleichzeitig Nähe, Authentizität, Berührbarkeit. Die modernen Helden sollen ganz anders sein und doch so wie wir, Kaiser und Kumpel gleichermaßen. Im Moment gerät die vernetzte Gesellschaft, wie ich in meinem Buch zeige, auch deshalb in einen Zustand der großen Unruhe, Verstörung und Gereiztheit, weil sie noch verehren will, gleichzeitig jedoch permanent entzaubert und unter selbstproduzierten Schmerzen der Sichtbarkeit leidet. Das ist die merkwürdige Spannung, die entstanden ist. Wir wünschen uns in einem manchmal infantilen Glauben den Helden, die Lichtgestalt, das Vorbild: den Politiker und Manager, der scheinbar perfekt ist, den Heiligen, den Guru, der durch seine Makellosigkeit erlöst. Wir wollen diese Form von Vorbild und Autorität. Aber unter den Sichtbarkeitsbedingungen der Gegenwart und in einer Phase der allgemein schwindenden Informationskontrolle im digitalen Zeitalter ist diese Verehrungsfähigkeit nicht mehr durchhaltbar: Wir wissen zu viel, um selbst eine radikal ernüchterte Verehrungsfähigkeit und Idealisierung noch irgendwie zu bewahren.
Was hat das für Folgen?
Ich sehe sechs mögliche Konsequenzen. Erstens stürzen gerade noch verehrte Vorbilder in immer schnellerer Folge, sie werden zu Instant-Ikonen und Augenblicks-Autoritäten, die sehr rasch wieder verglühen. Zweitens leiden Prominente heute unter einem enormen Beobachtungsdruck, einer medialen Überbelichtung ihrer Existenz. Drittens versuchen manche dieser Verunsicherung zu entkommen, indem sie sich als Helden der Gewöhnlichkeit präsentieren, Autorität durch Authentizität ersetzen, sich kumpelhaft und nahbar zeigen. Denken Sie nur an die YouTube-Stars, die dem Motto folgen: „Seht her, ich bin doch einfach nur normal!“ Viertens wollen beispielsweise Politiker im Inszenierungsgeschäft doch noch irgendwie gewinnen, indem sie sich online und offline konstant um ihr Image kümmern, sich endlos coachen und beraten lassen. Fünftens zeigt sich: Es gibt auch – man denke nur an Donald Trump – den skrupellosen Antihelden, der seine Anhänger begeistert und aufputscht, indem er verkündet: „Die allgemeine Moral ist mir egal!“ Sechstens und zum Schluss – aber das ist noch Zukunftsmusik – könnte die Autoritätskrise auch die Geburtsstunde einer neuen Toleranz sein und die erlebbare Gereiztheit und Verstörung allmählich einer anderen Gelassenheit weichen. Das Motto wäre dann: „Alle Menschen sind gewöhnlich, haben Fehler! Lasst uns aufhören, jeden Stilbruch, jede Ungeschicklichkeit und jede Geste zu skandalisieren!“
Bekannte Politiker, Unternehmer, Chefärzte oder Sportmanager haben mehr Verantwortung und Vorbildfunktion, aber auch mehr Einfluss und Macht. Muss man ihnen nicht diese erhöhte Sichtbarkeit zumuten?
Sie haben recht. Natürlich ist Transparenz ganz entscheidend, um Macht und illegitime Formen der Machtausübung zu kontrollieren. Sie kann illegitime Netzwerke der Macht zerstören, sie kann helfen, Ungerechtigkeiten zu entlarven. Und auch die leichthändige Skandalisierung hat ein Doppelgesicht: Sie hilft zum einen dabei, entsetzliches Unrecht bekanntzumachen, Folter, Missbrauch, rassistische Attacken. Und sie erzeugt zum anderen eine neue Kleinmut, führt zu einer Dauererregung über Nichtigkeiten, die eine digitale Normpolizei mit klammheimlicher Freude an der Menschenjagd publiziert. Entscheidend ist die Frage der Relevanz: Geht es tatsächlich um eine bedeutsame Ungerechtigkeit, die es verdient, enthüllt zu werden?
Wird diese Frage nach der Relevanz nicht gestellt?
Diese Gefahr besteht. Ich würde sagen: Wir leben in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medien. Mit dem Netz haben wir ein fantastisches, plastisches, ungeheuer formbares Medium, das uns in eine Welt des Informationsreichtums hineinkatapultiert hat. Ich profitiere als Wissenschaftler an jedem einzelnen Tag von diesem Reichtum. Aber wir haben eben auch ein Medium zur Verfügung, das ungeheuer mächtig ist und dessen Macht wir uns noch nicht richtig vorstellen können. Das heißt, wir müssen unsere ethisch-moralische Fantasie im Umgang mit den neuen Möglichkeiten schulen und sensibler werden für das, was wir an Fernwirkungen auslösen können mit einer Sofortattacke auf der Weltbühne des Öffentlichen.
In welcher Situation sind Autoritäten oder Prominente nach der Aufdeckung eines vermeintlichen oder tatsächlichen Vergehens?
Die Reaktionen erinnern an diejenigen von Todkranken auf ihre Diagnose, die die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross in einem Phasenmodell beschrieben hat. Am Anfang stehen Leugnung und Zorn, es folgt die Abwehr, der Versuch, irgendwie zu entkommen, schließlich die Depression, ganz selten – das ist die letzte Phase bei Kübler-Ross – schließlich gelassene Akzeptanz des Unvermeidlichen. Man kann sagen: Der Skandal endet nie, er bleibt als offene Wunde und permanenter Schmerz, auch wenn das allgemeine Publikum das Geschehen längst vergessen haben mag. Ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die in Skandale verwickelt waren. Selbst wenn sie zu Recht angegriffen wurden, weil sie Steuern hinterzogen, gedopt, als Stasispitzel gearbeitet oder sich der Korruption schuldig gemacht hatten, empfanden sie die Wucht der öffentlichen Anprangerung als so massiv, als so ungerecht, dass sie mit großer Verzweiflung und einem ohnmächtigen Zorn reagierten.
Wie können Betroffene aus einer solchen Situation wieder herauskommen?
Es gibt kein Patentrezept, weil die Situationen so unterschiedlich sind und die Art der Reaktion zum eigenen Image und der medialen Vorgeschichte passen muss. Aber in jedem Fall gilt: Man muss schnell reagieren, weil sich Meinungsbilder innerhalb von wenigen Wochen stabilisieren. Und in der Regel braucht man in einer solchen Situation der Totalanspannung und der Zeitknappheit Berater und den schonungslosen Blick von außen. Mal hilft die öffentliche Ad-hoc-Entschuldigung, das große Reuebekenntnis. Dann wieder ist es der Versuch der Wiedergutmachung, der imponiert; schließlich kann auch das umfassende Geständnis die Empörungswelle brechen, weil es dann schon bald nichts Neues mehr zu berichten gibt – nur darf dann auch wirklich nichts mehr herauskommen. In den USA ist der Auftritt mit der Ehefrau, die publikumswirksam verzeiht, ein gängiges Muster. Auch die Umdeutung des eigenen Vergehens zur Krankheit ist ein fest etabliertes Schema: Der Star, der als Ehebrecher angeprangert wird, checkt in eine Klinik ein, um seine angebliche Sexsucht behandeln zu lassen. Und um dann – nach diesem öffentlich zelebrierten Reinigungsritual – als geheilt entlassen zu werden.
Sind auch unbekannte Menschen von der potenziellen Sichtbarkeit im Netz betroffen und damit von der Gefährdung ihres Images?
Absolut. Auch der Nichtprominente ist unter den gegenwärtigen Medienbedingungen skandalisierbar geworden; die massenmedial bedeutsame Frage nach der Fallhöhe – wie tief stürzt jemand? – ist kein Schlüsselkriterium mehr. Die Folge ist, dass heute jeder eine Medienstrategie braucht, sich überlegen muss, wie er die eigene Geschichte erzählt. Was soll öffentlich werden, was privat bleiben? Am Rande: Bei Unternehmen lässt sich beobachten, dass man sich hier zunehmend auf die allgegenwärtigen Reputationsrisiken einstellt – und versucht vorzubeugen.
Worauf müssen wir achten, wenn wir uns eine persönliche Medienstrategie überlegen?
Der kategorische Imperativ der digitalen Kommunikation lautet: „Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen.“ Was man postet, was man sagt, was man in die Öffentlichkeit gibt, sollte auf Dauer und in unterschiedlichen Kontexten akzeptabel scheinen. Allerdings darf ein solches Plädoyer nicht zu Überängstlichkeit und totaler Verzagtheit führen, zu dem Gefühl, man könne sich nur in einem engen Korridor des gerade noch Erlaubten bewegen. Kurzum: Es geht nicht um ein neues Anpassertum, sondern um das Bemühen, zu einer anderen Nachdenklichkeit anzuregen.
Gibt es darüber hinaus allgemeine Prinzipien, die die digitale Kommunikation fairer und verträglicher machen könnten?
Diese Regeln liegen bereits vor, so würde ich sagen. Es sind die des guten Journalismus, die auf dem Weg zu mehr Medienmündigkeit an den Schulen gelehrt werden sollten. Sie lauten in der Kurzfassung: „Arbeite wahrheitsorientiert! Sei skeptisch gegenüber deinen eigenen Vorurteilen und gegenüber dem, was vorschnell als richtig und unbedingt gültig erscheint! Versuche, die Zahl deiner blinden Flecken zu minimieren und dich aus dem Gehäuse großer und kleiner Ideologien herauszukatapultieren! Lerne Quellen einzuschätzen! Höre immer auch die andere Seite! Mache Relevantes bekannt und lasse Unwichtiges weg! Kontrolliere Mächtige und kritisiere Ungerechtigkeit!“ Ich denke, dass sich in der Ethik und den Werten des guten Journalismus allgemeine Regeln verbergen, um die Kommunikation zu verbessern, einen Wandel des Diskursklimas zu befördern – auf dem Weg zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft. Hier liegt ein publizistisches Wertegerüst vor, das heute ein Element der Allgemeinbildung werden sollte.
PH
Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Bekannt wurde er durch seine Arbeiten zur Skandalforschung. Soeben erschien im Hanser-Verlag sein neues Buch Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, in dem er den kommunikativen Klimawandel analysiert