„Diese Kinder wirken immer, als seien sie auf dem Sprung“

Rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen in Armut auf. Die Familienforscherin Sabine Andresen findet das „alarmierend“.

Frau Andresen, Deutschland ist ein reiches Land. Würden Sie dieser Aussage zustimmen?

Ich glaube, das muss man. Gleichwohl gibt es auch in Deutschland Menschen, die unter Armutsbedingungen leben. Und dazu gehört auch ein recht großer Anteil an Kindern.

Was verstehen Sie in diesem Zusammenhang unter Armut?

In der Armutsforschung arbeiten wir mit unterschiedlichen Konzepten. In der absoluten Armut müssen Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Ihnen fehlt es an allem, was zur Befriedigung der…

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Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Ihnen fehlt es an allem, was zur Befriedigung der existenziellen Bedürfnisse beiträgt, Essen, warme Kleidung, ein Dach über dem Kopf. Wenn wir auf Länder wie Deutschland blicken, greift das Konzept der relativen Armut, das auf Basis des durchschnittlichen Einkommens einer Bevölkerung definiert wird – in Deutschland sind all jene betroffen, die 60 Prozent oder weniger davon zur Verfügung haben. Menschen erleben dann relativ zu den durchschnittlichen Möglichkeiten, die man in einem Land hat, einen Mangel.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem vergangenen Jahr, an der auch Sie mitgewirkt haben, ist das Ausmaß der Kinder- und Familienarmut in Deutschland „alarmierend“. Was bedeutet das?

Je nachdem, auf welche Altersgruppe man schaut und welchen Maßstab man anlegt, müssen wir davon ausgehen, dass jedes vierte oder fünfte Kind in Deutschland unter Mangelerfahrungen leidet und damit in einer prekären Lebenslage aufwächst – rund zwei Millionen insgesamt. Das ist alarmierend und wird durch die Flüchtlinge noch alarmierender, die hier zunächst vermutlich auch in einer Armutslage leben werden, weil sie erst Fuß fassen müssen.

Was ist der gravierendste Mangel, an dem sich Kinderarmut in Deutschland festmachen lässt?

Am gravierendsten sind die eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten zu allen gesellschaftlich relevanten Bereichen. Der verfügbare Wohnraum ist deutlich kleiner, viele Kinder haben keinen ruhigen Arbeitsplatz und fühlen sich in der Umgebung nicht sicher. Sie haben nicht die Möglichkeit, wenigstens eine Woche im Jahr Ferien außerhalb der elterlichen Wohnung zu machen. Und sie können keiner kostenpflichtigen regelmäßigen Freizeitbeschäftigung nachgehen. Jetzt kann man fragen: Ist gerade das wirklich notwendig für ein gutes Kinderleben? Aber wenn wir sehen, dass das den etwa 76 Prozent der unter 15-Jährigen, die in Deutschland nicht unter Armutsbedingungen aufwachsen, möglich ist, ist das schon eine einschneidende Erfahrung. Hinzu kommt, dass viel Wissen außerhalb der Schule erworben wird. Wenn ein Kind da keine Anregungen bekommt, ist es eklatant benachteiligt.

Gibt es eigentlich das typische arme Kind?

Kinderarmut hat natürlich viele Gesichter, aber man kann sicherlich typisieren. Das typische Grundschulkind in Armut etwa ist eines, das sich im schulischen Kontext deutlich weniger zutraut, aber gleichwohl über viele gute Freunde verfügen kann. Es verbringt in der Freizeit zwangsläufig eher Zeit vor dem Fernseher, weil die Eltern keine finanziellen und zeitlichen Ressourcen haben, um mit ihm beispielsweise in den Zoo zu gehen. Es lebt in der Peripherie einer Stadt, kennt aber deren Sehenswürdigkeiten nicht und war noch nicht im Zentrum. Die Mutter ist oft alleinerziehend und erwerbstätig. Mit mehr als drei Geschwistern aufzuwachsen ist auch eine Risikolage, genau wie Eltern oder Großeltern mit Migrationshintergrund und einer niedrigen Qualifikation zu haben.

Wie erleben solche Kinder ihre Situation?

Viel hängt von den Beziehungen zu den Eltern, Verwandten und Geschwistern ab. Wie viel Sicherheit gibt das den Kindern, wie gut sind sie eingebunden, wie gut schaffen es Eltern, die materielle Situation zu erklären und pädagogisch aufzufangen? Hinzu kommen die Fähigkeiten der Erzieherinnen und Lehrkräfte: Wie sensibilisiert sind sie für die Lage der Kinder? Wie gelingt es ihnen, durch ihre Art des Unterrichtens, der Ansprache die Mangelerfahrung und damit verbundene negative Gefühle nicht zu verstärken? Gerade Kinder in Armut brauchen Erwachsene, die sich um sie kümmern. Wenn sie den Tag über auf sich allein gestellt sind und kein sicheres Umfeld erleben, in der Ganztagsschule, im Hort, in einem Verein oder einem Kinderhaus, dann leiden sie.

Wie groß ist der Anteil der Kinder, die leiden?

Das wissen wir nicht genau. Die Zufriedenheit mit dem Leben ist bei Kindern in Armut geringer als beim Durchschnitt, aber ich scheue mich zu sagen, dass diese Kinder generell leiden. Sie sind auch fröhlich, haben schöne Momente und können das Leben genießen, wie es ist. Aber was wir feststellen, ist, dass ihr Wohlbefinden im Vergleich zu anderen Kindern in nahezu allen Bereichen niedriger ist. Sie haben zudem deutlich ausgeprägter Angst – zum Beispiel vor der Möglichkeit, dass hier ein Krieg ausbrechen könnte, aber auch vor schlechten Noten und davor, dass ein Elternteil oder beide arbeitslos werden.

Als Kind denkt man ja oft, dass jede Familie so ist wie die eigene. Ich stelle es mir schwierig vor, wenn die Betroffenen in Kindergarten und Schule permanent daran erinnert werden, dass andere doch über Dinge verfügen, die sie nicht haben.

Sie merken es zum Beispiel deutlich regelmäßig einmal im Jahr: Viele Kinder in Armutslagen feiern keinen Geburtstag mit Freunden und dürfen diese auch sonst nicht mit nach Hause nehmen. Nicht weil die Eltern das per se nicht wollen, sondern weil der Platz nicht ausreicht oder sie es sich nicht leisten können. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen ist die Wirkung sozialer Vergleiche nicht zu unterschätzen.

Was interessiert Sie bei Ihrer Forschung am meisten?

Mein allererstes Interesse und Ziel ist, den Erfahrungen und Sichtweisen von Kindern auf der Spur zu sein und anzusetzen an dem, was sie als Expertinnen und Experten wissen und zu sagen haben. Bestimmte Strategien zur Bekämpfung der Armut gehen heute immer noch komplett an Kindern vorbei – auch weil wir die Lage aus einer Erwachsenenperspektive betrachten.

Inwiefern?

Durch die Armutsmessungen, die auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens erhoben werden, bekommen wir zwar wichtige Hinweise, was einer Familie generell zur Verfügung steht und wofür das Geld insgesamt ausgegeben wird. Aber wir wissen nicht, wie die Mittel innerhalb des Haushalts verteilt werden, wer das bestimmt und welche Einflussmöglichkeiten Kinder haben. Wir nehmen den Erwachsenen zum Maßstab, statt zu fragen, was es heißt, heute Kind zu sein in Deutschland. Wir müssen die Erfahrungen der Kinder rekonstruieren und davon ausgehend das kindliche Existenzminimum berechnen, unabhängig vom Status der Eltern. Jedes Kind sollte die Zugänge und Möglichkeiten haben, die eine durchschnittliche Kindheit bei uns ausmachen. Wenn eine Familie das nicht leisten kann, muss der Staat einspringen.

Wie erleben Sie persönlich die Begegnungen mit betroffenen Kindern?

Das hängt von der Untersuchung ab. Man bleibt den Kindern ferner, wenn man eine Fragebogenerhebung macht. Dann hat man die Daten, aber kein Gesicht dazu. Anders ist es, wenn wir mit qualitativen Forschungsmethoden arbeiten. In manchen Studien haben wir Kinder über Wochen, Monate und einmal sogar über zweieinhalb Jahre begleitet. Da sind wir immer involviert, sie haben uns Dinge gefragt, wollten spielen, etwas erzählen. Wir erleben dabei natürlich Szenen, die uns die Not sehr nahebringen.

Zum Beispiel?

Dass manche Kinder in Armutslage ganz schlechte Zähne haben. Dass sie immer wirken, als seien sie auf dem Sprung, als säßen sie auf gepackten Koffern, weil die Situationen unsicher und unklar sind. Was mich persönlich sehr berührt, ist auch, wie lange Kinder in Gruppendiskussionen erst einmal über „Arme“ an sich sprechen, denn über sich selbst wollen sie in der Regel gar nichts sagen; indirekt kommt aber natürlich viel über ihren Alltag heraus.

Beeindruckend ist, wie stark sie an sozialen Bedürfnissen, sozialer Gerechtigkeit orientiert sind und was sie überlegen, wie man sich wechselseitig helfen kann. In einer Untersuchung sagte ein Mädchen einmal, wenn es viel Geld hätte, würde es jeder Familie 20 Euro geben. Daraufhin ein anderes: „Wie blöd ist das denn? Nimm mal ein Baby, da reicht das nicht mal für die Windeln.“ Die Kinder kennen die Preise von Gütern sehr genau. Und sie wissen auch ganz genau, wann im Monat sie ihre Eltern noch um Geld bitten können für den Schulausflug und wann das nicht mehr geht.

Ist Armut für Kinder eigentlich schlimmer als für Erwachsene?

Da bin ich mir nicht sicher. Strukturell, gesellschaftlich und entwicklungsbezogen ist es sicher schlimm, wenn Kinder über einen langen Zeitraum Armut erleben, weil sie in allen Entwicklungsbereichen gehemmt sein werden und viel Kraft brauchen, um das nachzuholen. Insofern sind die Konsequenzen für das Individuum, die Familie und die Gesellschaft schwerwiegender. Bislang sind wir in der Kindheitsforschung aber zu stark davon ausgegangen, dass Kinder und Erwachsene zwei Welten darstellen. Wenn ich mir angucke, was Kinder in Armut mit privilegierten Kindern teilen, ist das häufig wenig. Mit Erwachsenen in Armut haben sie dagegen viel gemein. Der Mangel an Spielräumen ist für eine Mutter mit drei Kindern nicht weniger dramatisch als für einen Jugendlichen.

Was unterscheidet Kinder, die später ein besseres Leben führen, von anderen, die das nicht erreichen?

Bildung ist ein entscheidender Indikator: Kinder, deren Eltern einen niedrigen Schulabschluss haben, sind häufig auch diejenigen, die in Deutschland von Armut betroffen sind. Und viele von ihnen tendieren dazu, sich selbst ebenfalls eher mit einem niedrigen Schulabschluss zufriedenzugeben. Bildung spielt aber eine große Rolle bei der Frage, ob ich später ein Einkommen haben werde, von dem ich leben kann. Insofern ist die Prognose da relativ kritisch.

Was kann sich positiv auf die Entwicklung auswirken?

Zunächst bringt jedes Kind eine Persönlichkeit mit, die sich nur bedingt beeinflussen lässt. Manche haben unglaublich viel Energie, die teils auch in Aggressivität umschlagen kann, wenn sie zornig werden. Aber wenn diese Kraft gut gelenkt wird, schaffen sie es, auch aus einer schwierigen Situation herauszukommen. Andere sind schon als Kind kraftloser, schüchtern und weniger extravertiert. Wenn solche Persönlichkeiten auf soziale Umstände stoßen, in denen ihr Selbstbewusstsein systematisch unterminiert wird, und sie ein deprimierendes Erlebnis nach dem anderen haben oder sich gar bedroht fühlen, erleben sie Diskriminierung und Benachteiligung stärker. Die Umstände sind also sehr wichtig. Ein ganz zentraler stärkender Faktor ist dabei, wie schon erwähnt, die Qualität der Beziehungen. Schon eine einzelne Person kann in der Biografie eines Kindes entscheidend sein: Der Mathelehrer, der sagt, ich glaube an dich, du schaffst das. Oder Paten, wie es sie in vielen Projekten gibt. Die Kinder erleben, dass da jemand Verlässliches ist, der etwas kann und mit ihnen etwas unternimmt, ohne die Situation auszunutzen.

Sendhil Mullainathan und Eldar Shafir, zwei Forscher, die sich mit dem Einfluss von Mangel beschäftigen, schreiben in ihrem Buch Scarcity, dass die Erfahrung von Knappheit mehr sei als das unangenehme Gefühl, wenig zu haben: „Sie ändert, wie wir denken.“ Arme Eltern etwa hätten gar nicht die innere Freiheit, gute Eltern zu sein – weil sie so damit beschäftigt seien, den Mangel zu organisieren. Was bedeutet Armut für die Erziehung?

Für Eltern, die arm sind, sind verschiedene Punkte wirklich schwierig. Sie haben immer das Gefühl, dass der Mangel ihre Erziehung regiert. Sie müssen viel Zeit darauf verwenden, den Kindern zu erklären, warum etwas gerade nicht geht, und sie müssen sich überlegen, welche schönen Handlungsalternativen sie in ihrem begrenzten Spielraum für ein gutes Familienleben haben. Und wenn die Wohnverhältnisse sehr beengt sind und sich im Winter nur wenige Möglichkeiten ergeben, mit den Kindern länger nach draußen zu gehen, steigen der Stress- und der Konfliktpegel.

Wie überträgt sich das auf die Kinder?

Die betroffenen Eltern haben häufig das Gefühl, dass die Kinder sich um sie sorgen, manchmal tritt ein Parenting-Effekt ein. In einer unserer Studien wollten viele Kinder auf die Frage, was sie mit genügend Geld tun würden, zum Beispiel ihrer Mutter etwas Hübsches kaufen. Das ist natürlich rührend, aber wenn das Gefühl der Fürsorge so umschlägt, dass sich das Verhältnis verkehrt, ist das für beide Seiten problematisch.

Auch die Schule stellt für diese Familien ein besonderes Problem dar, weil immer wieder unerwartete Ausgaben anfallen. In einem Interview hat eine Mutter erzählt, dass die Tochter wieder zurückgeschickt wurde, weil der rote Ordner für den Mathekurs der alte Ordner vom Vorjahr war und das falsche Rot hatte. Das sind Dinge, über die man lachen kann, wenn man keine finanziellen Probleme hat. In einer Armutslage ist das existenziell.

Was können Eltern tun, um ihren Kindern die Situation leichter zu machen?

Zuallererst möchte ich betonen, dass die Mehrheit der Eltern sowieso zunächst bei sich spart und erst, wenn es gar nicht mehr geht, bei den Kindern. Sie versuchen ganz viel von ihnen fernzuhalten. Das kann eine gute Strategie sein, aber irgendwann kommt häufig der Punkt, an dem sich die Lage nicht mehr verbergen lässt oder das Verbergen mehr Stress verursacht, als dass es etwas bringt. Dann ist ein offenes Gespräch gut: In den Bereichen, die das Kind überschauen kann, sollte die Familie sich gemeinsam Lösungen überlegen, das Kind also einbinden, ihm aber zugleich auch Sicherheit geben. Kinder sind die Ersten, die die Belastung vielleicht nicht ansprechen, sie aber sehr genau wahrnehmen. Bevor das in Ängste umschlägt, ist es gut, darüber zu reden.

Worauf sollte man im alltäglichen Miteinander achten – als Lehrer, Mitschüler, Normalbürger?

Fachkräfte sollten sich sensibilisieren für die Frage, was es heißt, unter Armutsbedingungen Kinder großzuziehen – auch weil die meisten in diesen Berufen aus anderen Milieus kommen. Dazu gehört, mit den eigenen Vorurteilen vorsichtig zu sein und die Schuld nicht immer bei den Familien zu suchen. Stattdessen sollte man überlegen, was man persönlich tun kann, wo aber auch die Schule in der Pflicht ist. Wie kann ich erreichen, dass auch die Kinder, bei denen klar ist, dass das Geld dafür nicht da ist und dass die Eltern den Förderantrag nicht stellen werden, einen Ranzen bekommen, ohne dass die Familien beschämt werden?

Wir dürfen Armut generell nicht als etwas diskutieren, das primär mit individuellem Verhalten zu tun hat. Die ganze Debatte um „die Unterschicht“ geht in die Richtung, dass die Probleme, die man bei Kindern und Jugendlichen beobachtet, auf ein Fehlverhalten der Eltern zurückgeführt werden, nicht auf die strukturellen Bedingungen, unter denen diese Familien ihren Alltag managen müssen. Diese Beschämung ist unwürdig für die Eltern, aber auch für die Kinder. Und vor allem bei denen kommt sie an.

Prof. Dr. Sabine Andresen ist seit 2011 als Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt tätig. Die Kindheits- und Familienarmutsexpertin ist unter anderem Vizepräsidentin des Deutschen Kinderschutzbundes und veröffentlicht seit 2007 gemeinsam mit Klaus Hurrelmann die World-Vision-Kinderstudien.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2016: Eigensinn