Herr Martschukat, es ist Januar, der Monat der guten Vorsätze. Viele wollen im neuen Jahr mehr Sport treiben. Ist das ein Zeichen unserer Zeit?
Ja, das würde ich sagen. Wir nehmen Sport und Bewegung heute oft als selbstverständlich an oder als ein natürliches Bedürfnis, als Wunsch, der aus uns herauskommt. Tatsächlich ist dies aber Teil einer historischen Formation. Wir leben in einem Zeitalter der Fitness.
Woran machen Sie das fest?
Unter anderem an den vielen sporttreibenden Menschen und dem Ideal,…
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der Fitness.
Woran machen Sie das fest?
Unter anderem an den vielen sporttreibenden Menschen und dem Ideal, körperlich leistungsfähig zu sein. Nehmen wir zum Beispiel das Laufen. Heute hat jede mittelgroße Stadt ein Lauf-Event wie einen Halbmarathon, bei dem zehntausende Menschen starten. Das war noch in den 1970er Jahren anders. In New York beispielsweise sind damals zum Marathon ungefähr 100 Leute gestartet, mehr nicht. Auch die Gewohnheit, dass man abends noch mal im Park eine Runde laufen geht, ist für viele heute selbstverständlich, hat aber noch vor 50 Jahren keiner gemacht.
Es gibt noch weitere Hinweise: Überall können Leute Fitnessriegel und Fitnessgetränke kaufen. Es hat sich sogar ein bestimmter Look etabliert. Leggings und Jogginghosen sind beliebte Kleidungsstücke. Ich persönlich sitze heute hier in einem Kapuzenpullover, als Historiker vor 50 Jahren hätte ich das nicht gemacht. Sportstudios sind die Kathedralen der Moderne. Vor wenigen Jahrzehnten waren das muffige Hinterhofbuden, wo ein paar krude Typen an selbstgeschweißten Geräten ihre Muskeln stählten. Das war eine Subkultur, heute sind Fitnessstudios Mainstream.
Aber haben Menschen nicht schon immer Sport getrieben?
Nein – der moderne Sport ist eine Erfindung des 19.Jahrhunderts. Das heißt nicht, dass die Menschen sich früher nicht bewegt oder keine Spiele gespielt haben. Aber der heutige Sport, der in Ligen und Wettbewerben stattfindet, ist ganz klar als eine moderne Form anzusehen. Speziell der Fitnesssport – also Sport, den ich nicht betreibe, um für meinen Sportverein eine Medaille zu gewinnen, sondern um mich persönlich besser zu fühlen oder leistungsfähiger oder erfolgreicher sein zu können – ist neu.
Was hat uns dahin gebracht?
Ein wichtiger Wendepunkt war Mitte des 19. Jahrhunderts die Idee des Wettbewerbs, die sich immer fester in Gesellschaften einschrieb. Charles Darwin ebnete dem den Weg mit seinem Werk Über die Entstehung der Arten und der Ansicht, Wettbewerb sei eine natürliche Notwendigkeit für unser Überleben. Der eigentliche Startpunkt zu dem heutigen Zeitalter liegt aber in den 1970er Jahren, einer großen Umbruchphase in westlichen Ländern.
Damals beginnt der Umbau vom für- und versorgenden zum aktivierenden Sozialstaat, und der Markt wird mehr denn je zum zentralen Steuerungselement. Das verlangte zunehmend den autonomen und fitten Bürger, der für seine Leistungsfähigkeit und seine Leistung verantwortlich zeichnet.
Sie führen den heutigen Fitnessboom sogar bis auf die Unabhängigkeitserklärung der USA im Jahr 1776 zurück. Was steht da drin, dass wir heute so sportversessen sind?
Da steht nicht drin, dass wir alle Sport treiben sollen. Sie schreibt fest, dass es ein Recht der Menschen ist, nach Glück zu streben. Zusammen mit Freiheit und Selbstbestimmung war dies ein wichtiger Pfeiler. Wir kriegen demnach Glück nicht aus dem Füllhorn geschenkt, sondern müssen uns das erarbeiten. Man setzte auf die Selbstverantwortung der Individuen. Solch eine liberale Gesellschaft kann aber nur funktionieren, wenn sich möglichst alle anstrengen, ihr individuelles Glück zu erreichen.
So ist die Maxime. Die Gründungsväter haben uns also nicht dazu aufgerufen, Sport zu treiben, sondern für uns selbst Verantwortung zu übernehmen und aktiv zu sein. Der gesunde Körper ist eine Voraussetzung für individuellen Erfolg und damit für eine funktionierende Gesellschaft. Hier entsteht also die Forderung, unsere Freiheit produktiv zu nutzen.
Das klingt sehr wirtschaftlich.
Die moderne Wirtschaft ist ein ganz zentraler Motor für den Fitnesshype. Wir leben in einem flexiblen Kapitalismus, in einer Gesellschaft des Marktes. Alles, was wir tun oder lassen, wird auf Marktförmigkeit und auf Wettbewerbsfähigkeit überprüft. Dieses Denken aus der Ökonomie hat sich in sehr viele Lebensbereiche eingeschlichen. Für den Sport bedeutet das, sich körperlich stark und leistungsfähig zu machen. Fitness ist folglich mehr als die Fähigkeit, erfolgreich Sport treiben zu können und Spaß an der Bewegung zu haben, sie bedeutet, ein erfolgreiches Leben führen und auch in einem Wettbewerb bestehen zu können.
Im Nationalsozialismus wurde großer Körperkult betrieben. Hat das in unserer heutigen Sportbegeisterung ebenfalls Spuren hinterlassen?
Ich möchte niemanden, der intensiv Sport treibt oder bestimmte Wettkämpfe besucht, in eine falsche Ecke stellen. Wenn ich mir jedoch die Werbung von manchen Fitnessstudios angucke, meine ich, wieder einen stärkeren militarisierten Ton zu erkennen. Es gibt den Warrior Workout, Fitness-Bootcamps, Wettkämpfe wie Tough Mudder, wo man einen Parcours bewältigt, der doch sehr stark an militärische Übungseinheiten erinnert.
In Deutschland denkt man da sehr schnell an den Nationalsozialismus, vor allem wenn zusätzlich das Heroische beschworen wird, was viele Studios tun, also das „Zum-Helden-Werden“ und die eigene Leistungsbereitschaft stählen. Gleichzeitig gibt es einen großen Unterschied: Im NS-Staat stand das Stählen des Körpers im Dienst des Völkischen, heute hat es individualistische Ziele.
Es gibt aber heute auch sehr viele Menschen, die keinen Sport treiben. Fitnessstudios beherbergen unzählige Karteileichen, Kinder und Jugendliche hocken heute vor dem PC daheim, statt wie früher auf der Straße Ball zu spielen. Wo sehen Sie hier dennoch das Fitnesszeitalter?
Das stimmt, widerspricht aber nicht der These vom Zeitalter der Fitness. Die Unbeweglichkeit und den „sitzenden Lebensstil“ in weiten Gesellschaftsteilen zu diagnostizieren ist eine ganz wesentliche Triebkraft des Fitnesshypes. Das Fitnessideal, das demjenigen Vorteile verschafft, der es lebt, kann nur dann funktionieren, wenn es auch Trägheit gibt. Zudem operiert Fitness nicht über Zwang, sondern über Anreize zu freiwilliger Aktivität. Da gibt es immer auch Enthaltung oder Scheitern, wie etwa bei den Karteileichen im Fitnessstudio.
Was ist Ihrer Meinung nach kritisch an der Entwicklung zu mehr Fitness? Früher haben sich die Menschen im Alltag und Beruf viel bewegt, heute sitzen sie nur noch. Ist es da nicht geradezu notwendig, dass sich ein Ausgleich entwickelt?
Wo Menschen versprochen wird, dass es eine Gesellschaft geben kann, in der wir alle zu Schmieden unseres eigenen Glückes werden, hat das zwei Seiten. Die Botschaft hat grundsätzlich etwas Gutes, geht aber auch mit einer Verpflichtung einher. Natürlich ist es gut, wenn wir zur Bewegung animiert werden. Wir wollen ja alle gesund bleiben. Zugleich sagen uns diese Aufforderungen aber, wie wir sein sollen, sogar wie wir sein wollen sollen.
Sie sind in einem gewissen Maße normativ geworden und auf diese Weise auch ausgrenzend und moralisierend. Sie suggerieren eine Unterscheidung zwischen schlechtem und gutem Verhalten, zwischen schlechten und guten Menschen. Das kann zu Diskriminierung führen.
Die Botschaft „Nimm dein Leben in die eigene Hand!“ ist doch aber ein guter Ratschlag, der Menschen ermutigt und sowohl von Ärzten wie auch Psychotherapeuten gegeben wird.
Es ist geradezu ein Glücksversprechen, dem wir anhängen und das wir gerne befolgen wollen. Doch es ist ein sehr schmaler Grat. Selbstverantwortlich und selbstbestimmt sein Leben führen zu können ist sicherlich eine gute Sache. Die Maxime, in der wir heute leben, weist aber auch Schuld zu, etwa an Menschen, die es nicht schaffen, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.
Sie sprechen in Ihrem Buch sogar von „Lifestyle-Rassismus“. Was meinen Sie damit?
Die Körperform funktioniert als Diskriminierungsmechanismus ähnlich wie „Rasse“ und Geschlecht. „Rasse“ und Geschlecht als Kategorien galten lange als Faktoren, die unveränderlich sind und bestimmen, wer wir sind und was wir können. Zum Beispiel hieß es lange: „Frauen sind zu diesem und jenem fähig, Männer zu anderem.“
Körperform funktioniert ähnlich, sie teilt auch in Kategorien ein, die angeblich etwas über die Fähigkeiten der Menschen aussagen, aber sie gilt als flexibler. Für unseren Körper sind wir nach heutiger Maxime selbst verantwortlich und wir können etwas daran ändern, wenn wir wollen – das wird zumindest in unserer Gesellschaft suggeriert und eingefordert. Dicke Menschen werden auf diese Weise diskriminiert.
In einem Kapitel beobachten Sie, dass Dicksein als Zeichen des Scheiterns gelte. Woran machen Sie das fest?
Historisch stand Dicksein lange für Wohlstand und die Fähigkeit zum Genuss. Das ist heute überhaupt nicht mehr so. Dicksein steht für Armut und Scheitern. Wer es nicht schafft, fit und schlank zu sein, dem wird individuelles Versagen vorgeworfen. Hier sind die Anrufungen zu Selbstverantwortung in Kritik an einer gesellschaftlichen Gruppe gekippt.
Man kann das in der Berufswelt genauso sehen wie in der Bildung: Die Diskriminierung dicker Menschen durchzieht den ganzen Alltag. Mittlerweile zeigen das zahlreiche Studien. Sie offenbaren das Vorurteil, dass Dicksein für weniger Engagement stehe und Dicke deshalb weniger erfolgreich im Berufsleben seien. Gleichzeitig konnten andere zeigen, dass übergewichtige Menschen im Beruf stigmatisiert werden und es daher für sie deutlich schwieriger ist, erfolgreich zu sein.
Wo geht es mit unserer Fitnessbesessenheit hin, wo stehen wir in 20 Jahren?
Das ist schwer zu sagen. Ich beobachte einerseits mehr Stimmen, die größere Distanz zu den regulierenden Effekten des Fitnesshypes, also eine entspanntere Haltung einfordern. Gleichzeitig nimmt die Selbstquantifizierung zu, also Schrittzähler in unseren Handys oder andere Gadgets – unter anderem auch von Krankenkassen unterstützt –, mit denen ich mich selbst und meine Lebensführung kontrollieren und beziffern kann. Hier spielen sich neue Verhaltensweisen ein, die ich problematisch finde.
Wie können wir uns dem Strudel des Fitnesshypes entziehen?
Ich weiß nicht, wie ein Sichentziehen aussieht – und wenn, dann würde ich hier ja auch einen Verhaltensratschlag geben, und das möchte ich eigentlich nicht tun. Aber ich traue den Menschen zu, in der Nutzung von solchen Zählinstrumenten durchaus kritisch zu sein, also zu schauen, wie viele Schritte sie am Tag gemacht haben, und das dann auch mal spaßig zu finden, wenn es an einem Tag nur 130 Schritte waren, weil sie auf der Couch herumgelegen haben.
Ich traue Menschen auch zu, ein Leben im Fitnesshype zu leben und gleichzeitig Burger zu essen und ein Bier dazu zu trinken. Andererseits ist das auch wieder ein gesellschaftlicher Trend, der uns suggeriert, dass wir genießen können, aber auch gleichzeitig an uns arbeiten.
Also müssen wir uns gar nicht entziehen?
Wenn wir das versuchen, also Widerstand leisten, ist das nicht auch ein Verhalten, das nur entsteht, weil wir uns in diesem Fitnesszeitalter befinden? Das Trickreiche an dieser Macht ist, dass ich weiß, dass diese Verhaltensweisen an sich gut für mich sind.
Doppelt trickreich wird es, weil mir viele dieser Verhaltensweisen sogar Spaß machen. Ich fühle mich ja auch wirklich besser, wenn ich etwas für meine Beweglichkeit getan habe, wenn ich meinen Körper trainiert habe. Gleichzeitig ist genau das Teil dieser Fitnessformation. Die Macht ist perfide und Widerstand deshalb schwierig.
Sie selbst sind passionierter Radfahrer. Sind Sie auch Opfer des Fitnesshypes?
Ich bin mit Sicherheit von einer bestimmten Kultur geprägt, die es mir nahelegt, zum Training zu gehen und mich um meinen Körper zu kümmern. Ich sehe mich aber nicht als Opfer – und wenn, dann bin ich Opfer und Täter zugleich. Ich bin Teil des Systems, weil ich durch meine sportliche Tätigkeit zu der Kräftigung dieses Ideals beitrage.
Haben denn Ihre Recherchen zu dem Buch Ihr Sporttreiben verändert?
Nein. Ich liebe Sport immer noch, ich bewege mich gerne und mag ehrlich gesagt auch den sportlichen Wettbewerb, sowohl als Teilnehmer als auch als Zuschauer. Und ich möchte auch nicht, dass andere weniger Sport treiben. Ich denke nur mehr darüber nach, in welchem Kontext mein eigenes Sporttreiben stattfindet.
Jürgen Martschukat ist Historiker an der Universität Erfurt, lehrt nordamerikanische Geschichte und wollte seineigenes Sporttreiben historisch-kritisch hinterfragen. Entstanden ist das Buch Das Zeitalter der Fitness