Seit ich Vater geworden bin, passiert Wundersames. Klar, werden Sie sagen, das ist normal. Doch dass ich mit meiner notorischen Abneigung gegen Gesellschafts- und Videospiele plötzlich wieder Lust am scheinbar sinnlosen Spielen bekomme, so ganz ohne Ziel und ohne Gedanken an Sieg oder Niederlage, überrascht mich doch. Sie wissen schon: mit den ersten Legos hantieren, sie mehr oder minder sinnvoll zu Gebilden zusammenfrickeln, einfach so im Sand buddeln und so weiter. Was eines beweist: Die Lust am Spiel mag…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
Was eines beweist: Die Lust am Spiel mag im Lauf des Lebens zwar verschüttgehen. Aber sie stirbt nicht und kann jederzeit reaktiviert werden.
Ja, Erwachsene spielen. Viele entdecken, so wie ich, ihren Spieltrieb irgendwann wieder, nachdem er mit dem Eintritt ins Berufsleben dem Effizienzstreben zum Opfer gefallen war. Aber eben oft nicht auf Dauer, denn Spielen gehört zu unserer Natur. Es ist die Urkraft unserer intrinsischen, von innen kommenden Motivation, auch jenseits der Kindheit.
Vielleicht ist das ein Grund, weshalb diese klassischen Spiele, bei denen gewürfelt und Figuren verschoben werden, ungeachtet der ebenfalls boomenden Videospiele beliebter sind denn je, viele Jahrtausende nach Erfindung der ersten Brettspiele. Erst kürzlich hat der amerikanische Archäologe Walter Crist in Aserbaidschan ein 4000 Jahre altes Muster in einem Steinboden entdeckt, das als „58 Löcher“ bezeichnet wird. Crist vermutet in dem Relikt die Überbleibsel eines Spiels, denn er entdeckte in dem Muster deutliche Ähnlichkeiten mit altägyptischen Brettspielen. Spielen ist eines der ältesten Kulturgüter des Menschen.
Ein analoges Plus in digitalen Zeiten
Selbst die Digitalisierung konnte dem klassischen Spiel am Tisch nichts anhaben. Im Gegenteil: „Seit 2015 verzeichnet die Branche der Gesellschaftsspiele ein Plus von 50 Prozent“, sagt Hermann Hutter, Vorsitzender des Verbandes Spieleverlage. Vor allem Spiele für Erwachsene treiben den Umsatz. 2019 wurden über 50 Millionen Exemplare abgesetzt. 6000 bis 7000 Spiele bestücken den Markt und jedes Jahr kommen rund 1000 hinzu. Die Coronakrise, so besagen erste Schätzungen, hat den Trend weiter befeuert.
Was finden wir im Spiel, was wir im Alltag vermissen? „Echtes Spielen ist genussvoll und freiwillig“, sagt Dave Neale von der Universität Cambridge in England, „und nicht ergebnisorientiert.“ Auf Leistungsspiele wie Profifußball trifft das nicht zu. Spielende um des Spielens willen hingegen erkunden eine andere Welt. Beim wahren Spiel gibt es de facto kein Richtig und kein Falsch, sondern nur die Erkenntnis des Fortschritts und das Feedback aus dem Versuch. Spielen bedeutet Versenkung. Es lindert Stress, stimmt uns ausgeglichen, es regt das Denken an, verzögert geistigen Verfall.
Üblicherweise spielen Erwachsene allein oder in der Familie, mit Freundinnen und Bekannten in einem vorgegebenen Rahmen. Oder sie zeigen im Alltag in vielen Situationen eine Verspieltheit. „Verspieltheit bedeutet nicht nur Herumblödeln oder Herumalbern“, sagt René Proyer von der Universität Halle-Wittenberg, „es ist nach unseren Erkenntnissen eine Persönlichkeitseigenschaft, mit der wir unseren Alltag anregend gestalten können, so dass wir ihn als unterhaltsam und interessant erleben.“
Verspieltheit und andere Typen
Das Team des Psychologen hat vier Grundtypen verspielter Erwachsener beschrieben: „Manche Leute albern tatsächlich gerne mit Bekannten herum. Das bezeichnen wir als Verspieltheit, die auf andere ausgerichtet ist.“ Leichtherzig verspielte Menschen sehen ihr ganzes Leben dagegen eher als Spiel, in dem man durch Improvisation jede Hürde nehmen kann. Die dritte Kategorie – Menschen, die gerne mit Ideen und Gedanken spielen – beschreibt die intellektuelle Verspieltheit. Diese Personen könnten auch eintönige Aufgaben für sich interessant gestalten. In der vierten Gruppe finden sich „extravagant Verspielte“, die sich für seltsame und groteske Dinge interessieren und sich an kleinen Beobachtungen im Alltag amüsieren.
Verspielte Menschen können „leicht die Perspektive wechseln, wenn es um komplexe Problemstellungen geht“, sagt Proyer. „Dadurch finden sie ungewöhnliche und neue Lösungen.“
Vor allem in jungen Jahren scheinen wir uns verspielte Partnerinnen und Partner zu wünschen. Das gilt als sexy. Tatsächlich sei Verspieltheit im Alltag der Partnerschaft hilfreich, meint Proyer, „weil verspielte Menschen eher aus dem Trott rauskommen, den Partner öfter mal überraschen“. Auch dass sie in der Partnerschaft nicht alles zu ernst nehmen, sei ein Plus für eine Langzeitbeziehung.
Alternativen ohne Monitor
Dass in diesem Sinne verspielte Menschen sich öfter Computer- oder Gesellschaftsspielen hingeben als andere, hat die Forschung nicht festgestellt. Ein Grund könnte sein: Personen dieses Typs mögen es oft nicht, starre Regeln zu befolgen. „Computerspiele zum Beispiel verlangen genau das“, sagt Dave Neale, „da hat man keine Chance auf großartige Improvisation, anders als bei klassischen Brett-, Würfel- und Kartenspielen.“
Wahrscheinlich hat der aktuelle Spieltrend nicht nur die Verspielten erfasst. Neale sieht ein „goldenes Zeitalter“ des Spielens bei Erwachsenen und nennt Gründe, gerade auch für die Renaissance des Brettspiels.
Erstens: Die Menschen verbringen – vor allem seit der Coronakrise mit den unzähligen Videokonferenzen – inzwischen so viel Zeit vor dem Bildschirm, dass viele nach Alternativen ohne Monitor suchen.
Zweitens: Spielen eröffnet idealerweise neue Welten, neues Denken, man testet neue Wege – und zwar entspannter als im realen Leben. „Es ist unterhaltsamer und stressfreier, im Spiel einen Jaguar im Dschungel zu suchen oder eine Firma in den Bankrott zu treiben“, so Neale. „Man kann sich voll auf ein Sujet konzentrieren und die Quadratur des Kreises schaffen: gelassen angespannt sein.“
Drittens: In unseren westlich geprägten Gesellschaften ging in den vergangenen Jahrzehnten viel Stabilität verloren. Stete Veränderung bestimmt das Leben. „Gerade diese Kultur der Veränderung können wir in Gesellschaftsspielen trainieren“, spekuliert Neale, „so wird das Spiel zu einem psychologischen Werkzeug.“
Viertens: Zu spielen macht einfach Spaß. Der Genussfaktor ist in etlichen Studien beschrieben worden. Zum Beispiel schüttet das Gehirn beim Spielen Opiate aus, die ein gutes Gefühl schaffen.
Fünftens: Brettspiele sind ein Gruppenerlebnis. Studien bezeugen, wie die Gehirne der Spielenden bei einem guten Gesellschaftsspiel synchron schwingen. „Der intensive Augenkontakt forciert dieses Phänomen“, sagt Neale, „darin spiegeln sich die Emotionen. Das kann einen wunderbaren Flow in der Gruppe schaffen.“
Ein Medaillon
Ein gutes Brettspiel absorbiert die Aufmerksamkeit. Es ist eine Art Meditation: Alle Gedanken jenseits des Spielflusses werden sofort verworfen, man vergisst Raum und Zeit und fokussiert sich auf das Brett und die Mitspielenden. „Gleichzeitig ist man durch die Endorphine entspannt und empfänglich“, so Neale.
Dieser Bewusstseinszustand erleichtert es, im Spiel Gelerntes ins reale Leben zu überführen. Am besten klappt das, wenn die Spielenden an ihre Grenzen stoßen – etwa in Strategiespielen – und in ihrem Denken über sich hinauswachsen müssen. Doch „die Herausforderung muss gut dosiert sein und darf nicht überfordern“, sagt Neale.
Für diejenigen, die solche Spiele austüfteln, ist das alles keine einfache Aufgabe. „Menschenkenntnis hilft dabei ganz sicher“, sagt Spieldesigner Thomas Sing, der das „Kennerspiel des Jahres 2020“ entworfen hat: Die Crew (siehe Spielübersicht auf Seite 71). Beim Design achtet er stets darauf, Komponenten einzubauen, die Denken und Vorausplanen erfordern, das gemeinsame Erleben des Spiels beflügeln, Spannung und Entspannung in ausgewogenem Maße ermöglichen – und vor allen Dingen die Kommunikation: „Wenn ich Leute an den Spieltisch bringe, müssen Unterhaltung und Austausch entstehen. Das ist das A und O. Aus dem Reden kommt man auf neue Gedanken, dann entwickeln sich Spiele in eigener Dynamik und in andere Richtungen, als man selbst gedacht hat. Das funktioniert manchmal sogar über Blicke.“
Spiele als Übungseinheiten
Immer wieder in der Entwicklung eines Spiels lässt Sing seine Entwürfe von „Probanden“ testen. Dann beobachtet er sehr genau, was passiert. Das sei faszinierend. Wann genau kochen die Emotionen hoch? Wann lachen die Spielerinnen? Wann fangen sie an zu reden und worüber? Wann zieht sich ein Spiel in die Länge und die Ersten gähnen? „Es gibt viele Momente, in denen man merkt: Das Spiel steht auf der Kippe“, erklärt Sing. „Wenn jemand zu lange überlegt, werden die anderen ungeduldig. Da sollte man dann mit Regeln eingreifen, ob man zum Beispiel einen Timer mitlaufen lässt, um das Spiel schneller und gleichmäßiger zu machen.“
Diese Testläufe ähneln fast einem psychologischen Experiment. Denn gute und fesselnde Spiele als Übungseinheiten des wahren Lebens enthüllen den Charakter eines Menschen eindrucksvoll. Es zeigt sich etwa sehr rasch, wie risikofreudig jemand an die Sache rangeht, wie schnell sich jemand ärgert und streitet oder wie ehrgeizig die Leute sind. „Verspieltheit“, sagt Thomas Sing, „ist auch beim Spielen eine gute Eigenschaft.“
Stuart Brown stimmt da zu. Für den US-Psychiater und Gründer des National Institute of Play ist Spielen „so nötig für unser Wohlbefinden wie Schlafen“. Wer dieses Bedürfnis nicht oder kaum befriedige, werde oft hart oder verbittert und fühle sich als Opfer des Lebens, ohne viel Spaß. Brown empfiehlt, sich wöchentlich mehrfach zu erinnern, wie man als Kind gespielt hat – mit Eltern und Gleichaltrigen, in den Ferien, an den Geburtstagen –, und an diese genussvollen Erlebnisse in der Gegenwart anzuknüpfen.
Die Bienenkönigin umzingeln
7 Empfehlungen für innovative Spiele
Pictures
Bauklötze, Schnürsenkel, Symbolkarten und mehr. Die insgesamt fünf in Pictures enthaltenen Materialsets könnten auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein. Trotzdem dienen sie alle demselben Zweck: Mit ihnen sollen die Spielenden Fotomotive so darstellen, dass die anderen diese in der großen Gesamtauslage der Bilder wiederfinden können. Ein abstraktes Erklärspiel für drei bis fünf Personen.
Hive
Auf Holzspielsteinen in Sechseckform sind Aufkleber angebracht, die verschiedene Insekten zeigen. Die Insekten bilden im Spiel einen Schwarm. Aufgabe der beiden Spielenden ist, mit den eigenen Insekten die gegnerische Bienenkönigin zu umzingeln, bevor die eigene ihrerseits umzingelt wird.
Modern Art
Neuauflage eines sehr erfolgreichen Auktionsspiels aus den 1990ern mit viel Verhandlungsgeschick und Kunstverständnis. Jede der drei bis fünf Spielerinnen ist sowohl Auktionatorin als auch Bieterin und muss versuchen, möglichst die Bilder zu ersteigern, die bald gefragt sein werden. Es gibt fünf verschiedene und etwas außergewöhnliche Auktionsarten.
Letter Jam
Ein kooperatives Buchstabierspiel für zwei bis sechs Spielende, bei dem sie gemeinsam versuchen, Wörter zu entschlüsseln, die von den anderen vorgegeben worden sind.
Fog of Love
Eine Beziehung mit Höhen und Tiefen – das erwartet die beiden Spielenden bei Fog of Love. Sie erschaffen und spielen zwei Charaktere, die sich treffen, ineinander verlieben und ihre ungewöhnliche Beziehung am Laufen halten müssen.
Perfect Match
Ein Kommunikationsspiel für zwei bis vier Spielende. Die genaue Position eines verdeckten Ziels kennt nur eine oder einer von ihnen. Diese wissende Person muss nun dem Team vermitteln, wo sich das Ziel befindet – und darf dafür nur einen einzigen Hinweis geben. Das Team muss sich in den Tippgeber hineinversetzen und überlegen, wie der Hinweis zu verstehen ist. Da wird heftig diskutiert und interpretiert.
Die Crew reist gemeinsam zum 9. Planeten
Als Teil einer Raumschiffcrew reisen die drei bis fünf Spielenden zu einem vermuteten neunten Planeten weit draußen am Rand des Sonnensystems. Dabei begegnen ihnen gefürchtete Probleme der Raumfahrt: Defekte Triebwerke oder Sauerstoffmangel dienen als thematische Aufhänger für ein kooperatives Spiel, das in 50 immer kniffligere Missionen führt.
Beratung: Nadine Pick, Spielbrett Köln
Zum Weiterlesen
Stuart Brown, Christopher Vaughan: Play. How It Shapes the Brain, Opens the Imagination, and Invigorates the Soul. Avery, New York 2010