Herr Kovce, Sie haben ein „Manifest zum Grundeinkommen“ geschrieben und zitieren darin unter anderem den amerikanischen Pastor Martin Luther King oder den Psychoanalytiker Erich Fromm, die beide Fürsprecher eines Grundeinkommens waren. Kann man sagen, wer die Idee erstmals aufbrachte?
Das, was wir heute Grundeinkommen nennen, verweist auf eine lange Geistesgeschichte. 1516 schreibt der britische Humanist Thomas Morus den genreprägenden Roman Utopia. Darin fragt er sich, warum Bettler eigentlich betteln und…
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Thomas Morus den genreprägenden Roman Utopia. Darin fragt er sich, warum Bettler eigentlich betteln und am Ende sogar stehlen müssen. Seine Antwort: Weil sie sonst verhungern würden. Morus schlägt nun vor, statt den Dieben erst die Hand und dann den Kopf abzuschlagen, sie mit einer Art Lebensunterhalt auszustatten. Morus denkt schon vor 500 Jahren pragmatisch an die innere Sicherheit und humanistisch an ein Menschenrecht. Über die britischen Liberalisten, die französischen Sozialisten sowie die deutschen Idealisten hat sich die Idee des Grundeinkommens schließlich bis in die heutige Zeit hinein entwickelt.
Was bedeutet die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens heute für Sie? Ich habe bisher verstanden: Geld für nichts.
Gemäß der Logik des Leistungslohns ist das Grundeinkommen Geld für nichts, weil es keine Leistung honoriert. Gemäß der Logik des Menschenrechts ist das Grundeinkommen Geld für alles, weil es die Existenz jedes Einzelnen sichert und damit Leistung überhaupt erst ermöglicht. Ich sehe darin die großen Ideale Freiheit und Solidarität vereint. Das Grundeinkommen ist sozial und liberal. Sozial, weil es für alle ist. Liberal, weil es bedingungslos ist.
Wie hoch müsste so ein Grundeinkommen sein?
Das Grundeinkommen müsste so hoch bemessen sein, dass man davon bescheiden, aber menschenwürdig leben kann. Es sollte die Existenz sichern und Arbeitszwang verhindern. Außerdem stellt das Grundeinkommen einen individuellen Rechtsanspruch dar. Damit befreit es die heutigen „Bedarfsgemeinschaften“ und beendet die ökonomische Sippenhaft für Familienmitglieder. Diese ist in Zeiten weltweiter Leistungsbeziehungen längst überholt. Schließlich können wir uns auch die Schnüffeleien des Überwachungssozialstaats sparen, wenn wir das Grundeinkommen als Grundrecht jedem Einzelnen gewähren.
Dann bekommt jeder dieses Grundeinkommen – der Arbeitslose, die Informatikerin und auch der Vorstandschef von VW?
Ja, unbedingt, sonst wäre es ja kein Grundrecht! Grundrechte gelten für alle. Jedoch gilt: Das Grundeinkommen ist kein zusätzliches, sondern ein grundsätzliches Einkommen. Es ersetzt den existenzsichernden Anteil der bestehenden Einkommen – und gewährt ihn bedingungslos. Das führt nicht zu einer Geld-, sondern zu einer Machtumverteilung.
Wenn ich einen Job habe und zusätzlich ein Grundeinkommen beziehe, dann habe ich mehr Geld. Woher kommt das Geld?
Das ist ein Irrtum. Das Grundeinkommen ist kein Lottogewinn. Es ist finanziell gesehen ein Nullsummenspiel. Sie werden mit einem Grundeinkommen nur dann über mehr Geld verfügen, wenn sie heute unterbezahlt sind. Weil wir heute arbeiten müssen, haben wir keinen freien Arbeitsmarkt. Das Verhältnis zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung kann sich nicht frei bilden. Mit einem Grundeinkommen wäre das anders: Wer ein Grundeinkommen erhält, der kann sich gut überlegen, wann er welche Arbeit übernehmen will. Sinnlose Arbeit wird dann teuer bezahlt werden müssen – und sinnvolle Arbeit kann sogar umsonst erledigt werden.
Das ist dann ehrenamtliche Arbeit?
Das ist dann Arbeit. Punkt. Jede Arbeit, die ich freiwillig ergreife, ist ehrenwert! Ganz unabhängig von der Bezahlung. Dass wir heute so pedantisch zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt unterscheiden, schmälert beides. Erwerbsarbeit, die bloß Dienst nach Vorschrift ist, benötigen wir ebenso wenig wie ehrenamtliche Tätigkeit, die bloß auf Schulterklopfer aus ist.
Wie kann das alles finanziert werden?
Wie gesagt: Das Grundeinkommen muss nicht finanziert, sondern verstanden werden. Es bedeutet nicht mehr Geld, sondern mehr Macht für den Einzelnen. Und es bedeutet für die Gemeinschaft, dass der Einzelne ihr besser dient, da er seinen Beitrag zum Gemeinwesen selbst bestimmt. Dabei sollten wir ihn auch steuerlich nicht behindern. Deshalb muss das Steuersystem der Zukunft nicht bei der Produktion, sondern beim Konsum ansetzen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft belaste ich die anderen ja gerade nicht, wenn ich etwas für sie tue, sondern wenn ich ihre Leistungen in Anspruch nehme.
Luxusgüter wie Kaffee, Flugreisen oder Autos mit Allradantrieb würden dann stärker besteuert als die Grundnahrungsmittel?
Wer den Konsum besteuert – was wir ja auch heute schon tun –, der hat dort alle steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Er kann erwünschten Konsum schwächer und unerwünschten Konsum stärker besteuern. Aber noch mal: Das Grundeinkommen fordert uns nicht zuerst zum Zählen, sondern zum Denken auf! Wir leben heute in einer Gesellschaft, die an ihrem eigenen Überfluss zugrunde geht. Es gibt genügend Güter und Dienstleistungen, um mehr als die gesamte Weltbevölkerung zu ernähren. Aber es mangelt uns an Fantasie, mit dieser Situation sinnvoll umzugehen!
Na, dann denken wir mal! Ich kann mir gut vorstellen, dass Philosophen und Journalisten – Menschen mit attraktiven Berufen – auch mit einem Grundeinkommen weiter arbeiten wollen. Aber wird es noch Menschen geben, die Lkw fahren oder an der Supermarktkasse Waren kassieren?
Es zeugt von intellektueller Arroganz, dass sich die sogenannten schöngeistigen Berufe meist für besonders beliebt und wichtig halten – und anderen Faulheit unterstellen. Dabei lautet die Frage schlicht und einfach: Wie gehen wir künftig mit den unliebsamen, aber wichtigen Tätigkeiten um, auf die wir nicht verzichten wollen? Variante eins lautet: automatisieren. Alles, was berechenbar ist, lässt sich automatisieren. Jedoch gibt es Tätigkeiten, die wir nicht automatisieren wollen, weil die menschliche Begegnung dabei wesentlich ist – etwa in der Krankenpflege, Altenpflege, Erziehungs- und Bildungsarbeit. Hier gilt Variante zwei: motivieren. Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern, wenn wir wollen, dass andere diese Aufgaben weiterhin für uns übernehmen. Und wenn auch das nicht gelingt, dann bleibt Variante drei: engagieren. Das heißt: selbst machen. Auch künftig wird also alles getan werden, was wir wollen: von Maschinen, von unseren Mitmenschen oder, wenn sich kein anderer findet, von uns selbst.
Dann frage ich anders: Wenn Menschen vom Arbeitszwang befreit sind, besteht dann nicht die Gefahr, dass alle nur noch machen, was ihnen gefällt – unabhängig davon, ob es bezahlt oder gebraucht wird?
Ich halte die Vorstellung, dass mit einem Grundeinkommen alle nur noch dichten oder musizieren wollen, für weltfremd. Mit einem Grundeinkommen kommt auch die Wahrheit über die eigenen Fähigkeiten und Unfähigkeiten besser ans Licht. Das würde viele Lebensträume als Hirngespinste entlarven, denen man nur nachsinnt, solange man nicht in die Verlegenheit gerät, sie verwirklichen zu können. Wer heute ein ungelebtes Leben als Maler, Schriftsteller oder Komponist vor sich herträgt, der wird mit einem Grundeinkommen keine Ausreden mehr haben, dieses Leben nicht zu führen. Er wird aber womöglich schon bald erkennen, dass sein angeblicher Traum gar nicht den eigenen Fähigkeiten oder dem Bedarf der anderen entspricht.
Rauben Sie Menschen nicht die Illusionen, sie könnten noch etwas anderes im Leben sein?
Im Gegenteil. Ich finde es skrupellos, dass wir heute bewusst Illusionen nähren und die Wirklichkeit fliehen. Wir verhindern, dass der Einzelne in Ruhe entdecken kann, was er wirklich tun will. Das führt dazu, dass wir das mehr oder weniger Erstbeste tun und zugleich glauben, wir könnten eigentlich noch etwas ganz anderes tun. Das Grundeinkommen wirkt hier erhellend und entschleunigend: Es gibt uns die Zeit, Illusionen aufzugeben und in der Wirklichkeit anzukommen. Wir können uns in Ruhe fragen: Was will ich eigentlich tun? Wie will ich tätig sein? Und für wen? Diese Selbsterkenntnis kann sich nur allmählich entwickeln. Sie ist ein Prozess, ein Bildungsweg. Ebenso wie das Grundeinkommen selbst. Deshalb kommt das Grundeinkommen auch nicht von heute auf morgen, sondern mit der Zeit.
Viele fühlen sich heute durch die Arbeit gestresst, sie leiden unter den steigenden Leistungsanforderungen. Wenn wir das Grundeinkommen haben, kann man dann noch klagen? Heißt es dann nicht: „Du kannst ja kündigen. Wenn es dich stresst, ist es wohl nicht der richtige Job.“
Das Grundeinkommen führt dazu, dass wir einander auf Augenhöhe begegnen. Im Büro. In der Familie. Unter Freunden. Da jeder Einzelne finanziell unabhängiger ist, müssen wir in Sachen Kritik auch keine falsche Rücksicht nehmen. Wir können also sehr wohl klagen und uns beschweren – wenn wir etwas verbessern wollen. Und wenn wir das gar nicht wollen oder können – dann können wir einfach kündigen. Den Arbeitsvertrag. Den Ehevertrag. Die Freundschaft. Die Motive, sich mit anderen zu verbinden und sich auch wieder von ihnen zu lösen, werden dank des Grundeinkommens weniger finanzieller, mehr existenzieller Art sein.
Was ist mit der Motivation – was werden Menschen tun, wenn sie nicht arbeiten müssen?
Wenn wir nicht arbeiten müssen, wollen wir arbeiten. Wenn wir allerdings zur Arbeit gezwungen werden, werden wir faul. Faulheit ist keine anthropologische Konstante, sondern eine menschliche Reaktion auf unmenschlichen Zwang. Psychologische Studien zeigen immer wieder, dass Zwang der größte Motivationskiller ist. Besonders perfide sind die als Anreize getarnten Zwänge. Sie sind derzeit weit verbreitet und vergiften das Arbeitsleben. Sie unterstellen uns Unlust und führen dazu, dass wir tatsächlich die Lust verlieren. Ein tragisches Beispiel: das Hartz-IV-Regime. Es unterstellt flächendeckend Faulpelzerei und droht ununterbrochen mit Sanktionen. Mittels schwarzpädagogischer Maßnahmen erstickt diese neoliberale Besserungsanstalt noch den letzten Funken Freiwilligkeit – um genau daraus die eigene Notwendigkeit abzuleiten. Das ist zynisch – und einer freien Gesellschaft nicht würdig.
Wie würde denn unsere Gesellschaft aussehen nach zehn Jahren mit einem Grundeinkommen?
Ich weiß es nicht. Die Zukunft ist offen – und das ist auch gut so!
Aber wenn Sie keine schöne Utopie malen, weiß ich gar nicht, ob ich für so ein Grundeinkommen bin.
Das Grundeinkommen wird erst dann kommen können, wenn ich anzuerkennen bereit bin, dass die Ziele der anderen tatsächlich andere sein können, als mir lieb sind. Solange ich meine, ich müsste die anderen noch wie Schäfchen einhegen, damit es einigermaßen nach meinem Plan läuft, bin ich gut beraten, mit dem heutigen System vorlieb zu nehmen. Wenn ich meine Fantasie nicht auf meine Zukunftsvorstellungen, sondern auf die unverfügbare Freiheit der anderen richte, dann weiß ich zwar nicht, wie die Zukunft aussehen wird, aber immerhin, aus welcher Kraft heraus sie gestaltet werden kann.
Sie werben für die Idee des Grundeinkommens, ohne einschätzen zu können, wohin unsere Gesellschaft damit steuert? Das ist ja wie bei Kolumbus – der losfährt und nicht weiß, wo er landet.
Und was hat er entdeckt? Amerika!
Er hätte aber auch untergehen können!
Das können wir auch. So oder so. Wollen wir also zu Hause bleiben – oder Amerika entdecken? Dabei sollten wir die Möglichkeit, auch zu Hause unterzugehen, nicht unterschätzen. Als ob wir dieser Tage mit unseren überkommenen Institutionen aus dem Industriezeitalter auf der sicheren Seite wären! Das Grundeinkommen verlässt aus guten Gründen den Weg der Sozialbürokratie des 19. Jahrhunderts und wappnet uns für die individualisierte und globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts. Dass dieser neue Weg kein vorgeschriebenes Ziel hat, mag beunruhigen. Aber das Grundeinkommen ist gerade nicht Opium fürs Volk, keine Beruhigungs- und keine Glückspille. Es freut sich über die Freiheit des Einzelnen. Deshalb ist es keine Ideologie, sondern eine gute Idee.
Ist das Wagnis nicht zu groß? Mit dem Grundeinkommen ließen wir die Menschen frei, ohne zu wissen, was dabei herauskommt.
Das Grundeinkommen setzt auf die Selbstbestimmung des Einzelnen, die in der Demokratie bereits verankert ist. Sie basiert darauf, dass mündige Bürger willens sind, für das Gemeinwesen verantwortlich zu handeln. Die zeitgemäße Weiterentwicklung der Demokratie liegt in der Mitbestimmung mündiger Bürger mittels Volksabstimmungen. Diese direkte Demokratie scheint vielen alten parlamentarischen Würdenträgern noch ebenso unvorstellbar wie das Grundeinkommen. Dabei erneuern beide das Fundament der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die schon immer auf Freiwilligkeit und Vertrauen fußte. Kurzum: Mit einem Grundeinkommen und direkter Demokratie würde gar nicht alles anders, aber vieles besser werden.
Philip Kovce, geboren 1986, ist Ökonom und Philosoph. Er ist Mitbegründer der Berliner Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen, forscht am Basler Philosophicum und gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome an. Veröffentlichung zum Thema: Daniel Häni, Philip Kovce: Was würdest du arbeiten, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre? Manifest zum Grundeinkommen. Ecowin, Salzburg 2017