Wer glaubt denn so etwas?

Paul McCartney ist tot, und Lady Di wurde ermordet. Verschwörungstheorien üben eine enorme Faszination aus. Warum aber können sich gerade heute so viele Menschen mit schlichten Weltsichten identifizieren?

Paul McCartney ist tot. Und zwar schon seit über vierzig Jahren. Wer genau hinschaut, erkennt es sofort: Auf dem Cover des Albums Sgt. Pepper’s trägt der Sänger einen Aufnäher mit der Aufschrift „OPD“, einer kanadischen Abkürzung für den Begriff officially pronounced dead. Der ebenfalls abgebildete VW Käfer hat das Nummernschild „28 IF“, genau das Alter, das McCartney erreicht hätte, wäre er noch am Leben gewesen. Und ein letzter Beleg: Der Song I Am The Walrus endet mit den Worten „Sit down father, rest…

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Und ein letzter Beleg: Der Song I Am The Walrus endet mit den Worten „Sit down father, rest you …“, was rückwärts gespielt als „Ha! Ha! Paul is dead!“ erkennbar ist. Es liegt auf der Hand: Paul McCartney starb bei einem Autounfall. Seine verzweifelten Bandkollegen ersetzten ihn durch einen Doppelgänger.

Diese Geschichte ist eine der hartnäckigsten und zugleich absurdesten Verschwörungstheorien der Gegenwart. Schon seit vierzig Jahren macht sie die Runde, McCartney sah sich mehrfach gezwungen, die Geschichte zu dementieren. Gleichermaßen verfestigt sind die Theorien, wonach Lady Diana vom britischen Geheimdienst MI6 ermordet wurde oder die US-Regierung das HI-Virus erschuf, um Homosexuelle oder Schwarze zu töten. Alles längst widerlegt. Fakt ist lediglich: Verschwörungstheorien üben eine enorme Faszination aus und können in der Regel nicht durch rationale Argumente entkräftet werden. Denn für ausgewiesene Verschwörungstheoretiker ist jeder Widerlegungsversuch ein Beleg dafür, dass die Kritiker entweder den Ernst der Lage nicht verstehen – oder gar mit dem Bösen unter einer Decke stecken.

Verschwörungstheoretiker sind keine Minderheit. Der Soziologieprofessor Ted Goertzel von der Rutgers University in New Jersey fand in einer Umfrage heraus, dass ungefähr die Hälfte der US-Amerikaner an mindestens eine Verschwörungsgeschichte glaubt – etwa die, dass der Mord an John F. Kennedy nicht auf das Konto eines Einzeltäters ging, sondern die Folge eines Komplotts war. Verschwörungstheorien dienen dazu, Wissenslücken zu schließen, erklärt Goertzel: Empfinden Menschen Situationen oder Ereignisse als wenig verständlich, entwerfen sie neue Szenarien, um die Komplexität zu reduzieren.

Inzwischen wissen Forscher, welcher Typ Mensch besonders zu Verschwörungstheorien neigt. Einer aktuellen Untersuchung der University of Kent zufolge glauben gerade Menschen mit geringer Selbstwirksamkeit und dem Gefühl, benachteiligt zu sein, an die abstrusen Geschichten. „Menschen halten eher an Verschwörungstheorien fest, wenn sie sich als Opfer unverständlicher Vorgänge fühlen“, so der Studienleiter und Psychologe Michael J. Wood. „Eine Verschwörungstheorie kann da beruhigend wirken.“ Auch der Bildungsgrad scheint einen gewissen Einfluss zu haben: Je geringer der Bildungsgrad, umso höher die Neigung, komplexe Phänomene mit abenteuerlichen Theorien zu erklären. In vielen Verschwörungstheoretikern brodelt also eine Mischung aus Angst, Ohnmacht und Kontrollverlust.

Wenn in Dresden Zehntausende fahnenschwenkende Bürger gegen eine Islamisierung Deutschlands auf die Straße gehen, ist das eigentlich nicht nachvollziehbar. Denn in Dresden sind gerade mal 0,1 Prozent der Einwohner Muslime, weder in Sachsen noch bundesweit kann ansatzweise von einer „fortschreitenden Islamisierung“ die Rede sein. Dennoch haben die Demonstrationen, organisiert von Pegida, ungebrochen Zulauf. Experten und Medien bemühen sich, die Argumente zu widerlegen, finden bei den Demonstranten aber kein Gehör. Denn Pegida unterstellt der „Lügenpresse“ pauschal mangelnde Glaubwürdigkeit, auch die etablierten Parteien werden von Demonstranten als „Volksverräter“ beschimpft. Das Weltbild vieler Pegida-Unterstützer scheint geschlossen und der Schritt zu verschwörungstheoretischem Gedankengut nicht weit. Tatsächlich steckt hinter Pegida eine große Unzufriedenheit mit Politik und Medien. Eine Umfrage des Sozialwissenschaftlers Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) ergab, dass über 90Prozent der Demonstranten „wenig“ oder „überhaupt kein“ Vertrauen zu Parteien, Bundestag, Bundesregierung, Fernsehen oder Zeitungen hatten. Die Kundgebungen seien vor allem eine Ausdrucksmöglichkeit für tiefempfundene Ressentiments gegenüber der politischen und meinungsbildenden Elite.

Gesamtgesellschaftlich ist die Akzeptanz von verschwörungstheoretischen Ideen gestiegen, das haben die Forscher der University of Kent belegen können. Auch ein Blick auf die deutschen Bestsellerlisten stützt diesen Eindruck: Seit vielen Monaten hält sich der Journalist Udo Ulfkotte mit seinem Sachbuch Gekaufte Journalisten in den Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste, ein Werk, in dem der Autor „enthüllt, wie Politiker, Geheimdienste und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken“. Verschwörungstheorie trifft hier auf Medienkritik, tatsächlich arbeitet Ulfkotte dabei vor allem mit Unterstellungen. Der Literaturkritiker Denis Scheck beschrieb das Buch im Deutschlandfunk deshalb als eine „für die übelste Version des deutschen Stammtischs geschriebene Tirade eines gekränkten und verängstigten Kleinbürgers, ein Amoklauf in Buchform“. Das Werk findet dennoch eine riesige Leserschaft in unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft.

Michael J. Wood von der University of Kent glaubt, dass der Anstieg verschwörungstheoretischer Ideen vor allem mit der zunehmenden Bedeutung des Internets zu tun habe, also der Möglichkeit, abstrusen Ideen unzensiert eine große Öffentlichkeit bieten zu können. Auch der Netzaktivist und Blogger Sascha Lobo warnt in seiner Spiegel-Online-Kolumne „Die Mensch-Maschine“ vor einer modernen Medienmaschinerie, die „im Verbund mit dem Internet einen schlechten Bastard der Skepsis ans bildschirmfahle Licht gebracht hat: die bitterfalsche Pseudoskepsis. Nichts glauben, schon gar nicht denen da oben, drei Ausrufezeichen, ‚Lügenpresse‘, noch mehr Ausrufezeichen … Das Internet mit seinen Echokammern und Filterblasen ist hervorragend als Nährboden für Pseudoskepsis und Verschwörungstheorien geeignet.“

Warum aber können sich gerade heute so viele Menschen mit Verschwörungstheorien und schlichten Weltsichten identifizieren? Ist unsere Welt zu komplex für differenzierte Blickweisen? Tatsächlich führen viele politische und gesellschaftliche Entwicklungen – Globalisierungsprozesse, die Finanzkrise, der Expansionshunger Russlands, der islamistische Terrorismus, der Zustrom von Flüchtlingen – dazu, dass alte Ordnungen ihre Gültigkeit verlieren und die Zukunft unsicher scheint. Auch erdgeschichtlich stehen wir in einer rabiaten Umbruchphase. Die amerikanische Journalistin Elizabeth Kolbert skizziert in ihrem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Buch Das sechste Sterben höchst überzeugend, wie wir Menschen den aktuellen Niedergang der Biosphäre vorantreiben: Während die letzten fünf großen Artensterben der Vergangenheit durch Eiszeiten oder Meteoriteneinschläge verursacht wurden, beruht das aktuelle sechste Massensterben allein auf dem demografischen und wirtschaftlichen Expansionsdrang des Menschen. In der Welt liegt also vieles im Argen, und das Bedürfnis nach guten Erklärungen und politischen Lösungen ist hoch.

Der Psychologe Thomas Kliche, Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal und ehemaliger Vorsitzender der Sektion Politische Psychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, findet, dass unsere Art zu leben grundsätzlich infrage gestellt ist – und die Politik nur wenig Antworten zu geben weiß. „An der Oberfläche läuft es wahnsinnig gut, aber dass das so weitergeht, glaubt kein Mensch“, sagt Kliche. „Wir stehen vor Fragen, die wir vollkommen neu denken müssen. Aber momentan entscheiden alles die Marktkräfte. Und das gibt ein tiefes Gefühl von Misstrauen. Manche Menschen stellen sich dann lieber vor, dass statt abstrakter Börsenprogramme die Illuminaten uns in der Hand haben.“

Doch was tun, wenn Verschwörungstheoretiker in unserer Gesellschaft zunehmend an Grund gewinnen? Wenn Zehntausende auf die Straßen gehen, um ihre Angst nach außen zu kehren? Wenn Bürger sich pauschal abwenden von den etablierten Parteien und den Medien? Sicher ist kritische Skepsis gegenüber Politik und Medien per se zu begrüßen, als Ausdruck politischer Mündigkeit und auch als gesellschaftliches Korrektiv. Dennoch offenbaren Verschwörungstheoretiker nicht nur die Bereitschaft zur extremen Reduktion von Sachverhalten – sondern oftmals auch eine gewissen Denkfaulheit. „Die Gefühlsleistung ist: Wir sind nicht die Täter, sondern die Opfer und damit an nichts schuld“, sagt Thomas Kliche, „Es entlastet enorm, auch von der Mühsal, politisch auf dem Laufenden zu sein und differenziert zu denken.“ Es gebe keine Bereitschaft, sich mittels der Vernunft auf ein gemeinsames Regulativ einzulassen. Stattdessen sei es hoffähig geworden, sich frei nach dem Motto „Jeder hat seine Wahrheit“ vor niemandem verantworten zu müssen. „Das Andersdenken ist keine Einladung mehr zu einem gemeinsamen Erkennen, sondern etwas Lästiges“, beobachtet Kliche. „Wir sind zu einer Spaßgesellschaft geworden, der erstens Wahrheit und Vernunft zum Opfer fallen und zweitens die Printmedien, weil es so anstrengend ist, das Zeug zu lesen. Es ist ein Versagen unserer Gesellschaft, unser Bildungsethos zu verteidigen.“

Wie geht das überhaupt, differenziert zu denken?

Also eine politische Meinung zu entwickeln, die auf der Abwägung von eigenen Ängsten oder Vorurteilen mit politischen und gesellschaftlichen Realitäten beruht? Das geht nicht ohne Anstrengung. „Es hat schon immer der kognitiven Mühe und eines gewissen Zeitaufwands bedurft, sich eine differenzierte Auffassung zu politischen Fragen zu bilden“, sagt Ingo Juchler, Professor am Lehrstuhl für Politische Bildung der Universität Potsdam. Gerade der Schule kommt deshalb eine wichtige Aufgabe zu. „Mit der politischen Bildung wird versucht, die Schüler auf Erfahrungen von Ambiguität vorzubereiten, sodass sie bei möglichen politischen Fehlentscheidungen nicht gleich ‚die Politiker‘, ‚die Medien‘ oder die Demokratie als Regierungssystem insgesamt infrage stellen“, erklärt Ingo Juchler, der auch im Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung sitzt. „Sie sollen dazu befähigt werden, die Pluralität von politischen Auffassungen zu tolerieren und die unterschiedlichen Positionen reflektiert abzuwägen.“

Ein interessantes Projekt ist in diesem Zusammenhang das Bildungsprogramm „Dialog macht Schule“, das vor allem an Schulen mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern aus Zuwandererfamilien angeboten wird. Denn gerade viele muslimische Jugendliche finden in Verschwörungstheorien kurze Antworten auf komplexe gesellschaftliche Ereignisse wie den 11. September, den IS-Terror oder die Anschläge von Kopenhagen. Auch hier ist das Internet eine ergiebige Quelle für Halbwahrheiten oder Fantastisches: In einschlägigen Foren werden die Anschläge auf das World Trade Center oder auch Charlie Hebdo als Taten von CIA und Mossad gehandelt, mit der Begründung, dass die USA und Israel Hass gegen Muslime hervorrufen wollten, um ihren Kreuzzug gegen die muslimische Welt zu rechtfertigen. Die Moderatoren von „Dialog macht Schule“ – meist Studierende mit Migrationshintergrund – versuchen dann, den Schülern die Fähigkeit zum Perspektivwechsel beizubringen und ihnen so die Möglichkeit zu bieten, über verschiedene Auffassungen des Konflikts zu reflektieren. Dabei sollen die Schüler selbst nachforschen, welche Beweise hinter den Behauptungen stecken könnten – und zur Abwechslung mal eine eigene Verschwörungstheorie entwerfen.

Der niederländische Sozialpsychologe Jan-Willem van Prooijen von der Universität Amsterdam konnte in mehreren Studien belegen, dass ein enger Zusammenhang zwischen ideologischem Extremismus, politischer Radikalisierung und dem Glauben an Verschwörungstheorien existiert. „All diese Phänomene sind recht natürliche Antworten auf die Unsicherheit und Angst, die belastende sozioökonomische Entwicklungen hervorrufen können“, schreibt er. Letztlich sind wir also alle gefordert, uns gegen den Sog der Verschwörungstheorien und eine simple Einteilung der Welt in Gut und Böse zu stemmen: Die Politik muss bessere sozialpolitische Lösungen finden, die Medien müssen differenzierter berichten und die Bildungseinrichtungen stärker auf die Ausbildung der reflexiven Fähigkeiten setzen. Und wir selbst müssen uns täglich bemühen, die eigenen Ängste wahrzunehmen und zu reflektieren, damit wir nicht in Wut und Frust steckenbleiben. Dann kann die dumpfe Wut nämlich etwas Besserem weichen, neuen Handlungsstrategien oder Lösungsvorschlägen zum Beispiel. Wie schrieb Robert Musil in seinem Roman Mann ohne Eigenschaften: „Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie.“

Literatur

  • Karen M. Douglas, Mike J. Wood: What about building 7? A social psychological study of online discussion of 9/11 conspiracy theories. Frontiers in Psychology, 4/2013, 409
  • Ted Goertzel: Belief in conspiracy theories. Political Psychology, 15/1994, 731-742
  • Ingo Juchler: Narrationen in der politischen Bildung. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2015
  • Sascha Lobo: Zweifeln ist ja so geil. Spiegel Online, 4.2.2015
  • Jan-Willem van Prooijen: Mutual suspicion at the political ex­tremes: How ideology predicts conspiracy beliefs. In: M. Bilewicz, A. Cichocka und W. Soral (Hg.): The Psychology of Conspiracy, Routledge 2015
Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 2/2016: Sprich mit Dir!