Ich habe William Goldings Buch Herr der Fliegen gelesen, als ich 15 war. Am Anfang der Erzählung von den schiffbrüchigen Jungen, die ins Verderben geraten, steht eine Wahl. Die Jungen können zwischen Ralph und Jack wählen. Ralph ist respektvoll, ruhig und körperlich beeindruckend, während Jack besessen von Waffen und Stammeszeichen ist. Die Jungen wählen Ralph und fangen an, eine Gesellschaft mit demokratischen Diskursen, Regeln, Plänen und Aufgabenverteilungen aufzubauen. Es ist jedoch nur eine Frage der…
Sie wollen den ganzen Artikel downloaden? Mit der PH+-Flatrate haben Sie unbegrenzten Zugriff auf über 2.000 Artikel. Jetzt bestellen
und Aufgabenverteilungen aufzubauen. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis Jack die Macht ergreift. Er bringt immer mehr Jungen auf seine Seite, die von der Kriegsbemalung seines Clans fasziniert sind. Jack erzieht seine Anhänger mit Schlägen. Seine Schreckensherrschaft eskaliert.
Goldings Buch fußt auf einem Gedankenexperiment, das sich mit dem menschlichen „Naturzustand“ befasst und zuerst von Thomas von Aquin vor 800 Jahren beschrieben wurde: Was wird aus Menschen, die man aus ihrem zivilisatorischen Kontext reißt und sich verhalten lässt, wie es die Natur fordert? Für viele zeigen die Ergebnisse solcher Gedankenexperimente, dass Machiavelli recht hat: Ohne die Strukturen und Einschränkungen der Gesellschaft setzen sich unsere tiefsitzenden Gewalttendenzen durch.
Tatsächlich wird das Machtverständnis unserer Kultur stark und nachhaltig von dem Florentiner Niccolò Machiavelli bestimmt, der 1513, also im Zeitalter der Renaissance, ein Buch mit dem Titel Il Principe (Der Fürst) verfasst hat. Dort argumentiert er, dass Macht im Wesentlichen mit Stärke, Betrug, Unbarmherzigkeit und strategischer Gewalt zu tun hat. In der Nachfolge Machiavellis setzte sich die Haltung durch, Macht mit Akten von Zwang und Härte gleichzusetzen. Macht ist demnach das, was die „großen“ Diktatoren ausüben. Macht verkörpert sich in Generälen, die auf dem Schlachtfeld ihre Befehle geben, in Geschäftsleuten, die feindliche Übernahmen planen, in Mitarbeitern, die auf Kosten ihrer Kollegen ihre eigene Karriere vorantreiben, und in Raufbolden auf dem Spielplatz, die kleinere Kinder quälen.
Dieses Bild der Macht lässt sich allerdings bei sorgfältiger Analyse heute nicht mehr halten. Es hat sich in der Forschung als falsch erwiesen.
Vor etwa 20 Jahren hatte ich die Gelegenheit, in einem Internat an der University of Wisconsin ein Feldexperiment mit Collegestudenten im ersten Studienjahr zu initiieren. Einige der Studenten stammten aus reichem Hause, andere gehörten zur Mittelschicht, und einige waren arm – ein Querschnitt der Bevölkerung. Mein Plan war, analog zu den Gedankenexperimenten zum „Naturzustand“, auf empirischem Weg herauszufinden, wer von den frisch zusammengewürfelten Internatsbewohnern Macht erlangte und welche Eigenschaften dazu beitragen.
Am Anfang des Semesters besuchte ich das Internat und befragte die Studenten darüber, wie viel Einfluss jeder bei ihnen hatte. Sie füllten auch einen Fragebogen aus, der die fünf großen Persönlichkeitsdimensionen (Big Five) erfasste. Nach vier und neun Monaten kam ich zurück, um die Teilnehmer ein weiteres Mal nach der Macht ihrer Kameraden im Internat zu befragen. Ich fand heraus, dass die Macht sehr schnell bestimmten Studenten zufloss. Schon nach zwei Wochen hatten diese Studenten mehr Macht als die anderen. Und ich stellte fest, dass alles im Fluss war: Bei allen Internatsbewohnern fluktuierte während des Studienjahrs das Niveau der Macht im Spiegel der Kommilitonen.
Enthusiasmus, Ruhe, Zuwendung
Wer aber erlangte Macht? Wem verlieh die Gruppe Einfluss und Ansehen? Wir haben die tief verankerte Vorstellung, dass nette Menschen zuletzt ans Ziel kommen, dass man nach unten treten muss, um aufzusteigen, und dass Machterwerb damit verbunden ist, kaltblütig alle Rivalen und sogar die Freunde abzuservieren. Aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein! Bei meiner Studie war Enthusiasmus das stärkste Anzeichen dafür, wer unter den Internatsneulingen in der ersten Woche an die Spitze rücken würde und wer diese Stellung über das gesamte Studienjahr behielt. Auch die anderen der fünf großen Persönlichkeitsmerkmale spielten eine Rolle und trugen zur Macht bei: Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Entspanntheit (geringer Neurotizismus) sowie Offenheit.
Andere Sozialpsychologen haben in Finanzinstituten, Kliniken und Fabriken die Spuren derer verfolgt, die in Positionen im höheren Management aufstiegen oder als effiziente Führungskraft eingeschätzt wurden. In Colleges haben sie analysiert, wer im Studentenparlament mitarbeitete, wen die Mitstudenten als Anführer ansahen und wer beliebt war. Beim Militär untersuchten sie, welche Rekruten Offizier wurden. Die gewählten Szenarien unterschieden sich in sozialer Klasse, Geschlecht und ethnischer Herkunft der Teilnehmer. Doch die Ergebnisse waren ähnlich: Über alle 70 Studien hinweg erlangten diejenigen eine Machtposition, die über bestimmte Persönlichkeitseigenschaften verfügten.
Gruppen verleihen uns Macht, wenn wir begeistert und enthusiastisch sind, das Wort ergreifen, starke Aussagen machen und uns für die anderen interessieren. Unsere Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, nimmt zu, wenn wir freundlich sind, andere anerkennen, kooperieren und achten, was andere sagen und tun. Es ist wahrscheinlicher, dass wir etwas in der Welt verändern können, wenn wir konzentriert sind, klare Ziele und Handlungsweisen haben und andere bei der Stange halten. Wir steigen zu mehr Macht auf, wenn wir Ruhe und Gelassenheit verbreiten, den anderen in Stresszeiten den Tunnelblick nehmen und sie an die übergeordnete Perspektive des Ganzen erinnern, wenn wir Geschichten erzählen, die inmitten der Anspannung beruhigen, und wenn wir uns bemühen, höflich zu sprechen. Unser Einfluss wächst, wenn wir offen sind und große Fragen aufwerfen, wenn wir anderen aufmerksam zuhören und wenn wir spielerische Ideen und Sichtweisen entwickeln.
Während nach Machiavellis Vorstellung die Einzelnen ihre Macht mit Gewalt, strategischen Täuschungen und dem Untergraben der Position der anderen erreichen, zeigen diese wissenschaftlichen Untersuchungen, dass in einer Gruppe die Macht nicht ergriffen, sondern von den anderen Gruppenmitgliedern verliehen wird. Unsere Möglichkeiten, in der Welt etwas zu bewirken, hängen davon ab, was die anderen von uns denken und wie sehr sie uns vertrauen. Unsere Macht ist das Ergebnis der Urteile und Handlungen der anderen.
Viele Experimente zum „Naturzustand“ zeigen, dass sich – anders als im Herr der Fliegen – Jacks Mobbing, seine Gewalt und seine aufgezwungenen Strategien letztlich nicht durchsetzen. Stattdessen zeigen Gruppen eine instinktive Tendenz, denen Macht zu verleihen, die der Gruppe und damit allen den größten Nutzen und den geringsten Schaden bringen, die also das Gemeinwohl fördern. Um Machtmissbrauch weniger wahrscheinlich zu machen, beschränken Gruppen die Einflussmöglichkeiten eines Gruppenmitglieds, indem sie sein Ansehen in dem Maß wachsen lassen, in dem er zum Gemeinwohl beiträgt. Gruppen belohnen die, die gut für die Gruppe sind, indem sie ihnen einen höheren Status verleihen und ihnen mehr Achtung entgegenbringen. Und wenn ein Einzelner gegen das Gemeinwohl handelt, also gegen die Vorstellungen der Gruppe vom kollektiven Wohlergehen, wird die Gruppe zu Klatsch und anderen Mechanismen greifen, die sein Ansehen und damit seinen Einfluss vermindern, und ihn bestrafen.
Klatsch, das Kontrollinstrument
Klatsch ist ein uraltes und universelles Mittel, mit dem Gruppen Macht verleihen und entziehen, indem sie bestimmte Mitglieder als Zielscheibe aussuchen und die Machtinhaber unter Kontrolle halten. Klatsch besteht darin, die Fähigkeit einer Person, für das Gemeinwohl zu sorgen, zu formulieren und dies den anderen mitzuteilen. Klatsch ist die Art und Weise, wie ein soziales Netz die Reputation einer Person beurteilt und herausbildet. Er zielt insbesondere auf die, die nach Macht streben und Einfluss im Sinne Machiavellis nehmen wollen.
So sind beispielsweise die Kampagnen zur amerikanischen Präsidentschaftswahl von sorgfältig abgestimmten, mithilfe von Gerüchten ausgetragenen Schlachten bestimmt, die jeden Kandidaten in Atem halten und schließlich auch jeden Präsidenten in irgendeiner Weise aufs Korn nehmen. Der politische Klatsch schießt sich darauf ein, ob ein Politiker Dinge tut, die gegen die Kultur und damit die Grundlage des Gemeinwohls gerichtet sind. Während der Prohibition beispielsweise forschten die Verbreiter von Klatsch nach Alkoholismus und zielten damit auf die Scheinheiligkeit beim Verbot von Alkohol. Während des war on drugs unter Reagan, Bush senior, Clinton und Bush junior wurde aufgedeckt, wer von den Politikern süchtig war.
Thomas Jefferson hatte klare Vorstellungen davon, wie machtvoll Gerüchte den politischen Ruf beeinflussen. Er kam zu dem Schluss, dass es bei dem vernichtendsten Klatsch um Selbstsucht, Verrat und um sozial zerstörerische Handlungen geht. Um Jeffersons Überlegungen auf eine soziale Gruppe des 21. Jahrhunderts zu übertragen, habe ich die Strukturen von Klatsch in einer Studentinnenvereinigung an der University of California in Berkeley untersucht. Ein häufiges Ziel von Klatsch waren, wie sich herausstellte, junge Frauen, die das Wohl der Vereinigung bedrohten: Alle kannten sie, und die Betreffenden hatten in der Eingangsbefragung auch keinen Hehl daraus gemacht, grausam und höchst machiavellistisch gesinnt zu sein. Nach eigener Aussage würden sie nicht zögern, anderen weh zu tun, zu lügen und zu manipulieren, um mehr Macht zu gewinnen.
Die meisten von uns waren schon einmal das falsche Ziel von Klatsch und haben darunter gelitten. Soziale Mechanismen wie Klatsch, Beschämung und Ausschluss sind in der Tat schmerzhaft und können leicht missbraucht werden – insbesondere von denen, die die Macht haben. Sie sind aber auch machtvolle soziale Praktiken, die es in allen Kulturen gab und gibt, mit denen die Gruppenmitglieder den Status derer heben können, die für das Gemeinwohl wirken, und gleichzeitig die anderen, die gegen es handeln, daran hindern, Macht zu erlangen.
Wer dient dem Gemeinwohl?
Im Allgemeinen haben die Menschen ziemlich ausgeprägte Vorstellungen davon, ob Handlungen für das große Ganze gut oder schlecht sind. Jede Handlung, die jemand ausführt, kann mit einer „Maßzahl des Gemeinwohls“ markiert werden. Das ist der Grad, in dem die Handlung anderen nützt (oder zumindest nicht schadet). Diejenigen, die bessere Wertungen erhalten, fördern die Interessen vieler und verursachen wenig Leid: eine ältere Frau, die eine lokale Recyclingaktion gründet, ein Kind, das ein anderes Kind tröstet, das tyrannisiert wird, ein Manager, der die Ressourcen so steuert, dass damit die Ausdehnung und Gewinnerwartung seines Unternehmens verbessert wird. Umgekehrt erzielen Handlungen, die vielen Leid zufügen und nur wenigen nützen, niedrige Wertungen: Hasspredigten, ein ins Netz gestelltes beleidigendes Video, ein Finanzprodukt, das bewusst die Ersparnisse vieler vernichtet.
Agieren Individuen so, dass das Gemeinwohl gefördert wird, statt ihren eigenen Profit auf Kosten der anderen zu maximieren, geht es ihren Gruppen besser. Solche Aktionen führen zu größerem Vertrauen zwischen den Gruppenmitgliedern, ermöglichen eine verlässliche Kooperation, erlauben sachkundige Aktionen und machen Gruppen konkurrenzfähig. Menschen mit Macht, die das Gemeinwohl fördern, bewirken in der Regel auch, dass die von ihnen Beeinflussten erfolgreich sind – seien es kleine Gruppen (Schulfreunde, Komitees, Arbeitsgruppen, Teams oder Nachbarschaftsinitiativen) oder größere (Parteien, Verbände, Staaten, Nationen). Gruppen aller Art geht es letztlich besser, wenn ihre Mitglieder so handeln, dass es dem Gemeinwohl dient.
Mehr überrascht, wie ausschlaggebend die Förderung des Gemeinwohls für die Verteilung von Macht innerhalb von sozialen Gruppen ist: Sie ist der zentrale Faktor, wenn es darum geht, einzelnen Gruppenmitgliedern Macht zu verleihen. Alle in einer Gruppe achten argwöhnisch auf machiavellistische, Zwang ausübende Gestalten wie Jack in Herr der Fliegen. Der Grund für dieses Misstrauen ist einfach: Werden diese Personen nicht ausreichend kontrolliert, untergraben sie das reibungslose Funktionieren der Gemeinschaft. Gruppen nehmen Machtmissbrauch aufmerksam wahr und sind sich bewusst, dass Menschen, die Macht haben, schnell zu „Maschinen“ werden, die nur ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen wollen und für das Erreichen ihrer Ziele auch anderen Leid zufügen.
Macht ergreift man nicht
Ausbeuterisches, selbstsüchtiges und gewalttätiges Handeln vernichtet den Zusammenhalt starker Gruppen. Gruppen wissen das und kennen auch Geschichten von Menschen, die die Macht missbraucht haben und habgierig und unbeherrscht handelten. Gruppen verleihen die Macht daher an die, die Begeisterung verbreiten und freundlich, zielorientiert, ruhig und offen sind. Mit dem Ansehen, das sie einer Person verleihen, zeigen sie an, dass diese fähig ist, für das Wohl der Gruppe zu handeln.
Gruppen verlassen sich auf diesen Ruf, wenn es darum geht, zusammenzuarbeiten, zu kooperieren, Bündnisse zu schließen und starke Bindungen einzugehen. Gruppen erhöhen den Ruf derer, die bereit sind zu teilen, und sie schädigen mit deftigen Klatschgeschichten den Ruf derer, die selbstsüchtig sind und sich als Machiavellisten aufführen. Macht ergreift man nicht, sie ist ein Geschenk.
Dacher Keltner ist Psychologieprofessor an der University of California in Berkeley. In seinen Arbeiten untersucht er die Bedeutung von Emotionen für die moralische Intuition und den sozialen Zusammenhalt. Dieser Text ist ein redigierter Auszug aus Keltners neuem Buch, dessen deutsche Ausgabe soeben beim Campus-Verlag, Frankfurt erschienen ist: Das Macht-Paradox. Wie wir Einfluss gewinnen – oder verlieren (204 Seiten, € 22,95).