„Merkwürdig zufrieden“

Die Jugend von heute ist mehrheitlich sympathisch – und erschreckend angepasst, sagt die Entwicklungspsychologin Andrea Kleeberg-Niepage.

Jugendliche heute konzentrieren sich eher auf sich selbst, statt Kritik an den Umständen zu üben. © Plainpicture

Frau Professor Kleeberg-Niepage, schon 1999 erschien eine Titelgeschichte des Spiegel mit der Überschrift „Die jungen Milden“. Hat sich seitdem nichts verändert?

Damals war der Fokus etwas anders. Da hieß es, die Jugend beharre auf ihrem Recht, ihr Lebensglück zu verwirklichen. Aber nach unseren neuen Daten geht es den jungen Menschen gar nicht darum, ein glückliches Leben nach ihren individuellen Ansichten zu führen. Die Vorstellungen wirken vielmehr funktionalistisch: Ich mache jetzt einen guten Abschluss und studiere Informatik oder Jura. Dann habe ich einen guten Job und kann mir Haus, Auto, Familie und Reisen leisten.

Das klingt ernüchternd. Was genau haben Sie in Ihrer Studie untersucht?

Wir haben Kinder und Jugendliche gefragt: Wie stellt ihr euch euer Leben als Erwachsene vor? Dazu haben 200 Jugendliche, aber auch Kinder ab zehn Jahren Essays geschrieben. Die Kleineren ab sechs Jahren haben Zeichnungen angefertigt oder Fotoreihen. Und 14- bis 18-Jährige, meist von Gymnasien, haben wir zusätzlich mit einem Leitfaden interviewt. Im afrikanischen Ghana haben wir das auch gemacht, um einen Vergleich zu haben.

Was waren die wichtigsten Ergebnisse?

In den Essays der deutschen Kinder und Jugendlichen fiel das Thema Angepasstheit massiv auf. Es hat uns ziemlich erstaunt, dass sie durch die Bank einen Standardlebenslauf abspulten. Und wenn wir in den Interviews fragten: „Engagierst du dich, interessierst du dich für Politik?“, sagten die meisten: „Nö, ich kümmere mich jetzt lieber darum, dass ich einen guten Schulabschluss habe für ein materiell abgesichertes Leben.“ Letzten Endes steht eine neoliberale Logik dahinter, dass es allein in meiner eigenen Verantwortung liegt, aus meinem Leben etwas zu machen.

Fällt keiner raus aus dem Schema?

Ganz wenige. Die haben wir uns genau angeschaut. Sie üben Kritik. Sie lassen sich negativ über die Schule aus, weil diese nichts bringe. Oder sie schreiben, dass sie keine Chancen hätten. Das waren die absoluten Ausnahmen. Aber selbst diese Jugendlichen dachten in letzter Konsequenz nicht über die Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse nach, sondern darüber, dass sie sich trotzdem einrichten wollen – je nach sozialem Status besser oder schlechter.

Wie sehen im Vergleich die wichtigsten Ergebnisse in Ghana aus?

Die Mehrheit der dort befragten Jugendlichen sieht die Situation in ihrem Land durchaus kritisch. Ihre Kritik mündete allerdings auch nicht in Widerständigkeit, sondern in dem Bemühen, den widrigen Verhältnissen mit individuellem Einsatz – etwa bei der eigenen Bildung – zu begegnen.

Haben Sie in Ihrer Studie auch Umstände im ­Leben der deutschen Jugendlichen gefunden, die Widerständigkeit und kritisches Denken begünstigen?

Bislang nicht. Wir haben auch Daten von Jugendlichen, die Berufsbildungszentren besuchen, die also eine nicht ganz so erfolgreiche Schulbildung durchlaufen haben. Bei ihnen könnte man meinen, dass sie eher zu Unzufriedenheit und Widerständigkeit neigen. Das haben wir aber nicht gefunden, sondern eher das Bemühen, ein würdiges Leben zu führen und überhaupt eine Arbeit zu haben. Was nicht ­vorkam, war ein Infragestellen von gesellschaftlichen Verhältnissen, die ja ein Stück weit zur Situation der Jugendlichen geführt haben.

Wie sieht es bei Studierenden aus, also bei jungen Menschen in ihren Zwanzigern? Fördert der Besuch einer Universität das kritische Denken?

An den Universitäten haben wir keine systematische Studie durchgeführt, aber einige der Studierenden einen Essay schreiben lassen. Diese Essays geben uns keinen Anlass, anzunehmen, ein Studium würde dazu ermuntern, etwas zu verändern oder zu hinterfragen. Und das waren Masterstudierende, die diese Essays angefertigt haben, keine Studienanfänger. Auch sie spulten Standards ab: „Ich möchte weiter gute Freunde haben und eine Partnerschaft und vielleicht ein Haus. Und was kommt jetzt? Eine Doktorarbeit?“ Die Antworten ähnelten sich wieder sehr stark. Wir haben den Studierenden später ihre eigenen Essays zur Analyse vorgelegt. Da fiel ihnen ihre große Angepasstheit auf, und sie sagten: „Ja, was machen wir hier eigentlich? Es sind ja gar keine wichtigen Themen dabei wie weltweiter Frieden, Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, sondern alles dreht sich nur um uns selbst.“

Warum signalisieren Ihre Studienteilnehmer so wenig Zeichen von Aufmüpfigkeit und so viel Angepasstheit?

Das liegt an der Gesellschaft und am Zeitgeist. Kinder nehmen gesellschaftliche Erwartungen schon früh wahr. Wir sehen das in den Zeichnungen, in denen schon Sechs- bis Achtjährige Szenarien entwerfen, dass sie alles erreichen können. Da werden Reisen aufgemalt, große Häuser, Besitzstände oder Vorstellungen davon, einen tollen Job zu haben, viel Geld zu verdienen oder gleich Millionär zu werden. Aber es ist auch so: Die Essays wurden in der Schule geschrieben, das hat Einfluss auf die Ergebnisse. Denn die Schule erzieht ja nicht zur Widerständigkeit. Der in der Schule erworbene Modus „Ich muss sehen, wie ich mit wenig Aufwand das Ganze überstehe“ könnte auch in diese Essays eingeflossen sein. Mit unseren Daten können wir deshalb auch kritisch auf die Institution Schule blicken.

Soll die Schule aus Kindern Menschen machen, die dem Profil der Gesellschaft entsprechen?

Ganz genau. Junge Menschen sollen funktionieren, wenn man es böse ausdrücken will. Sie sollen sich im Leben zurechtfinden, wenn man es positiv ausdrücken will.

Aber warum erwartet man intuitiv, dass Jugendliche aufmüpfig sind?

Zumindest erwarten wir intuitiv, dass Menschen sich in ihrer Jugend deutlich verändern, weil sie ihre sozialen Beziehungen neu austarieren und die generationale Ordnung sich ändert. Gemäß dem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erik Erikson ist die Hauptaufgabe des Jugendalters, zu einer eigenen Identität zu finden. Das Modell postuliert, dass Jugendliche Zeit für Exploration haben müssten. Diese Zeit gesteht die Gesellschaft ihnen im sogenannten Jugendmoratorium zu – einer relativ langen Zeit frei von gesellschaftlicher Verantwortung. Die Erwartungen des Nonkonformismus sind also durchaus in wissenschaftliche Modelle gegossen.

Auch wenn es um gesellschaftliche Rebellion geht?

Nicht unbedingt. Da scheint mir oft eine Verwechslung vorzuliegen. Politischer Widerstand, politische Rebellion ist im wissenschaftlichen Jugendkonzept gar nicht mitgedacht. Wir als Forscher, aber auch die Erwachsenen in unserer Gesellschaft machen manchmal den Fehler, etwas zu vermischen, was ­zusammengehen kann, aber eben nicht muss. Dass wir uns von ihnen eine gewisse gesellschaftliche ­Widerständigkeit erhoffen, hat wohl mit der Erwartung zu tun: Wann immer eine neue Generation ­heranwächst, könnten neue Ideen kommen, die vielleicht auch die Gesellschaft verändern. Was wir allermindestens aber erwarten: dass sich Jugendliche einbringen in das politische System, in Verbände, in Parteien. Aber das hat ja nichts mit politischem ­Widerstand zu tun. Und da arbeiten wir gesellschaftlich auch nicht darauf hin.

Wie fügen sich Ihre Ergebnisse in die Resultate anderer Studien ein?

Einen direkten Vergleich haben wir zu den Arbeiten von Kolleginnen, die Ende der 1980er Jahre, Anfang der 1990er Jahre Jugendliche in Westberlin gebeten haben, Essays darüber zu schreiben, wie ein Tag in ihrem Leben in 20 Jahren aussehen könnte. Das ­haben die zwei Kolleginnen Anfang des Jahres 2000 in Deutschland und Österreich noch einmal wiederholt. Sie hatten gehofft, dass Friedensbewegung, ­Feminismus und Emanzipation einen Niederschlag in den Essays finden würden. Dass Frauen stärker deutlich machen würden, welche Rechte sie haben wollen. Doch all das haben sie nicht gefunden. Da gibt es eine Parallele zu unseren Studienergebnissen.

In welchem Verhältnis stehen Ihre Ergebnisse zu der Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2015?

Da können wir die Ergebnisse nicht direkt vergleichen, weil die Studien anders konzipiert sind. Wir fragen ja offen und qualitativ, während dort bestimmte Fragebögen immer wieder standardisiert an Jugendliche verteilt werden. Nach der jüngsten Shell-Studie wurde gejubelt, dass das Interesse der Jugendlichen an Politik wieder steige. Das mag sein. 32 Prozent haben angegeben, sie wollten sich politisch engagieren. Dem gegenüber stehen aber 40 Prozent, die das komplett unwichtig finden. Das ist in der großen Freude untergegangen. Nach meinem Dafürhalten unterscheiden sich unsere Ergebnisse gar nicht so stark von denen der Shell-Studie, weil sich auch dort gezeigt hat, dass die meisten Befragten sich nicht für Politik interessieren. Sie schauen lieber positiv in ihre eigene und die gesellschaftliche Zukunft, was nicht gerade einen Nährboden für Widerständigkeit darstellt.

Haben die Jugendlichen Angst, durch nicht angepasstes Verhalten auf die Verliererstraße zu geraten?

Ja, das haben wir an einigen Stellen in den Interviews und den Essays gefunden. Die Jugendlichen äußern ihre Besorgnis: Wenn ich mich nicht früh genug entscheide, sind die besten Studien- und Ausbildungsplätze schon weg und damit auch eine günstige Ausgangsposition im Konkurrenzkampf. Und dann kommt wieder das Hadern mit sich selbst: Warum kann ich mich bloß nicht entscheiden? Und gar nicht die Frage, wieso die Gesellschaft auf junge Menschen im Alter von etwa 16 bis 18 Jahren schon so einen großen Druck ausübt, sich beruflich entscheiden zu müssen.

Also haben wir das Bild vom laschen, angepassten Selfie-Poser?

Die Jugendlichen, die ich persönlich interviewt habe, machten auf mich gar keinen laschen Eindruck. Und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass sie keinen Durchblick haben. Das waren nette, aufgeweckte junge Leute. Aber gleichzeitig ist da eine merkwürdige Zufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Ich weiß nicht, ob die vorhandenen sozialen Probleme ausgeblendet oder verdrängt werden. Oder ob die Jugendlichen einfach inständig hoffen, dass es für sie selbst gut läuft.

Vielleicht geht es den jungen Menschen auch schlicht gut?

Ja, sie sagen: „Deutschland ist ein reiches Land. ­Woanders geht es den Menschen schlechter. Wir haben hier alle eine Krankenversicherung. Und den demografischen Wandel gibt es auch, also finde ich auf jeden Fall einen Job.“ Ich hatte den Eindruck, dass hier unkritisch eine neoliberale These übernommen wird, die in der Konsequenz dazu führt, dass ich mir selbst die Schuld geben muss, wenn ich es nicht schaffe.

Andrea Kleeberg-Niepage ist Professorin für Entwicklungs- und pädagogische Psychologie an der Europa-Universität Flensburg. Sie befasst sich unter anderem mit den Entwicklungsprozessen von Kindern und Jugendlichen im ­Kulturvergleich

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