„​Vertrauen in das Unsichtbare“

Weltweit glaubt die Mehrzahl der Menschen an Gott oder eine höhere Macht. Warum ist das so? Ein Gespräch mit dem Resilienzforscher Boris Cyrulnik.

Eine Frau sitzt in einer vollen Kirchenbank mit gefalteten Händen und betet andächtig
Religion als Halt in Krisen: Ihr Glaube hilft vielen Menschen, Schicksalsschläge zu verarbeiten. © dpa Picture -Alliance

Sie sind ein renommierter Psychiater, Hirnforscher und Ethologe, der selbst viele empirische Studien durchgeführt hat. Was hat Sie bewogen, ein psychologisches Buch über den sehr persönlichen und schwer fassbaren Bereich des religiösen Glaubens zu schreiben?

Es waren vor allem Patientinnen und Patienten, aber auch Bekannte, die mir davon berichtet haben, wie ihr religiöser Glaube ihnen geholfen hat, Lebenskrisen und Schicksalsschläge besser zu bewältigen. Als Psychiater und Resilienzforscher bin ich immer…

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Lebenskrisen und Schicksalsschläge besser zu bewältigen. Als Psychiater und Resilienzforscher bin ich immer neugierig, herauszufinden, was Menschen in emotionalen Ausnahmezuständen stabilisiert. Weltweit glaubt die Mehrzahl der Menschen an Gott oder eine höhere Macht, sie erleben ihre Religion als hilfreich und als eine wichtige Stütze in Lebenskrisen. Da bin ich als Therapeut hellhörig geworden und habe mich mit den Fakten beschäftigt.

Leider ist die Religionspsychologie in Europa weniger bekannt als etwa in Kanada oder den USA. Es ist merkwürdig, dass sich erst wenige Psychologen mit dem menschlichen Bedürfnis zu glauben beschäftigt haben. Aus religionspsychologischer Sicht wirkt sich der Glaube an Gott zweifellos positiv auf Körper und Psyche aus, das lässt sich kultur- und religionsübergreifend zeigen. In den letzten Jahren ist aber auch hier in Europa ein stärkeres Interesse an religionspsychologischen Fragen festzustellen, weil die Religion in aktuellen gesellschaftlichen Kontroversen eine wichtige Rolle spielt.

Mich interessiert vor allem: Wie drückt sich das Bedürfnis zu glauben emotional aus, welche Affekte werden im religiösen Erleben berührt, und wie beeinflussen religiöse Rituale die Einstellung und das Verhalten?

Sie betonen die psychoaffektive Seite der Religion. Liegen dem religiösen Glauben nicht eher ein Regelwerk und ein moralischer Verhaltenskodex zugrunde?

Religiös Praktizierende und Naturwissenschaftler unterscheiden sich grundsätzlich. Das kann man am Beispiel des Zweifelns verdeutlichen. Ein Naturwissenschaftler ist von Hause aus skeptisch – er hinterfragt alles und will verstehen, wie sich beobachtbare Zusammenhänge erklären lassen. Zweifeln ist sein Kerngeschäft, es ist Teil seiner Methode. Ein gläubiger Mensch verhält sich gänzlich anders. Die Welt des Glaubens setzt ein Vertrauen in das Unsichtbare voraus – in eine Kraft oder Größe, die sich rational nicht beweisen lässt. Das sind ganz gegensätzliche Erkenntnistheorien.

In einer Studie haben wir den religiösen Glauben bei Mathematikern, Astrophysikern, Chemikern und anderen Naturwissenschaftlern mit dem bei Kultur-, Sozialwissenschaftlern und Psychologen verglichen. Das Ergebnis hat uns überrascht: Naturwissenschaftlern fällt es viel leichter, an Gott zu glauben, als Psychologen!

Wie erklären Sie sich das?

Gott kann man nicht sehen oder wissenschaftlich erfassen. Es bedarf religiöser Rituale und Symbolträger wie Propheten, Mystikerinnen oder Priester, die Wege in eine religiös-spirituelle Wirklichkeit weisen können. Sie repräsentieren diese Wirklichkeit und transportieren etwas vom göttlichen Bereich zum Menschen. Wenn ich mich als Naturwissenschaftler auf ein solches Symbolsystem einlassen kann, fällt der Glaube an Gott nicht schwer, denn hierbei geht es um einen völlig anderen Wirklichkeitsbereich. Weil die psychologische Arbeit aber selbst stark in Symbolsysteme eingebunden ist, fällt Psychologen der Glaube an eine höhere Wirklichkeit schwerer.

Warum ist Religion für viele Psychologen immer noch ein heißes Eisen, während sie unbefangen über andere kulturelle Phänomene wie Sport, Werbung, Musik, Umwelt, Wirtschaft oder Sexualität forschen?

Daran ist Descartes schuld. Er trennte Körper und Seele säuberlich voneinander. Durch den kartesianischen Dualismus entwickelten sich unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen zur Erforschung des körperlich-materiellen und des seelisch-geistigen Bereichs. Dass die Seele naturwissenschaftlich erforscht werden kann, bestreiten bis heute manche Wissenschaftler. Aber Descartes hat sich geirrt. Ich halte es da eher mit Spinoza, der die Affekte als Ursachen des menschlichen Verhaltens ansah. Heute wissen wir viel besser über die Gehirnfunktionen und ihre Auswirkungen Bescheid. Unsere Gefühle bilden die Brücke zwischen Leib und Seele. Sie sind eng an Körperreaktionen gekoppelt und lassen sich gut naturwissenschaftlich erforschen. Das gilt natürlich auch für religiöse Gefühle. Über die beteiligten Affekte lässt sich religiöser Glaube gut erforschen.

Ist dann religiöser Glaube nichts anderes als ein spezielles neuronales Erregungsmuster?

Nein, das wäre eine verkürzte Sichtweise. Wir Menschen sind Kulturwesen, die durch ihre Umgebung, durch Erzählungen, gemeinschaftliche Symbole und Rituale geprägt sind. Unsere kulturelle Prägung und die Gehirnprozesse stehen in einem engen Wechselverhältnis miteinander. Religion ist etwas zutiefst Menschliches und entsteht durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren.

Der Mensch, dessen Gehirn durch die affektive Prägung modelliert wird, entdeckt dadurch eine besondere Welt. Die religiösen Traditionen, die die kulturellen Aktivitäten strukturieren, gehören zu den ersten Stützen der kindlichen Entwicklung. Durch Erzählungen werden unterschiedliche mentale Vorstellungen vermittelt. Der religiöse Glaube ist also ein affektives, soziales, kulturelles und biologisches Anpassungsphänomen von enormem emotionalem und gesellschaftlichem Nutzen. Welche anderen Prozesse könnten die Religion ersetzen, wenn es sie nicht gäbe?

Psychologisch handelt es sich beim Glauben um ein authentisches Gefühl, das sich folglich auch im Gehirn widerspiegelt. Wer sich Gott widmet, meditiert und sich ihn mittels ritueller Handlungen oder Glaubensbekenntnisse vorstellt, löst in seinem Gehirn neurobiologische Veränderungen aus. Natürlich weichen die Vorstellungen von Eskimos, Afrikanern, Chinesen und Europäern erheblich voneinander ab. Glauben kann man deshalb nicht linear in der Tradition von Descartes verstehen, sondern nur systemisch – die Seele ist eine bio-psycho-sozial-kulturelle Einheit.

Sie sprechen erstaunlich selbstverständlich von der Seele und behaupten, dass die Religionen die Seele sozialisieren. Wie ist das zu verstehen? Und was bedeutet das für Europa, dessen Gesellschaften mehrheitlich säkularisiert sind?

Ich verwende den psychoanalytischen Seelenbegriff. Sigmund Freud hat mit der Seele die innere Welt beschrieben, in der innere Bilder, Wünsche und Erwartungen produziert und verarbeitet werden. Ein wichtiges psychisches Bedürfnis ist das nach Sicherheit.

Vieles in unserer modernen Welt ist unsicher und zweideutig. Unsere Seele findet Unterstützung und Orientierung in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter, die ähnlichen Werten folgen und den gleichen Gott verehren. Die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft stiftet enorme Sicherheit und ist ein wertvoller Resilienzfaktor. Religionen sozialisieren die Seele, und die Vorteile sind beachtlich: Neben emotionaler Beruhigung legen sich Ängste, das Selbstwertgefühl steigt, neue Bindungen werden geknüpft, das Gemeinschaftsgefühl festigt sich, eine gemeinsame Moral bildet sich heraus, und es entsteht Freude am Leben.

Sind Sie ein gläubiger Mensch?

Nein, überhaupt nicht, ich lebe ohne Gott. Das ist Gottes Fehler! Er hat mich noch nicht besucht (lacht). Er hat andere Menschen in die Nachfolge gerufen – mich nicht.

In Ihrem Buch weisen Sie mit starken Argumenten auf den psychologischen Nutzen von Reli­gion hin. Warum wollen Sie selbst nicht davon profitieren?

Ich lebe gut ohne Gott. Viele Bekannte und Freunde erzählen mir davon, wie ihr Glaube an Gott ihnen hilft, die Widerwärtigkeiten des Lebens besser auszuhalten. Für mich als Forscher und Therapeut sind die positiven Effekte der Religiosität überzeugend, auch wenn ich selbst nicht gläubig bin. Vielleicht ändert sich das ja noch …

Was macht denn aus wissenschaftlicher Sicht den Resilienzfaktor Religion aus?

Der Glaube an einen persönlichen Gott und die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft haben unbestreitbare Vorteile. Gemeinsame Erzählungen und der Glaube an die gleiche unsichtbare Welt erzeugen ein Gefühl der Vertrautheit, eine sicherheitsstiftende, stärkende Zugehörigkeit. Häusliche und religiöse Rituale sind Gedächtnisübungen, in deren Verlauf man lernt, mit den Menschen zusammenzuleben, die man liebt. Sie bilden eine Art Transzendenztraining, bei dem Lieder, Gebete, Kultobjekte und aufeinander abgestimmte gemeinsame Verhaltensmuster Gefühle seelischer Erhebung hervorrufen.

Religionen beinhalten also zwei zentrale Resilienzfaktoren: Aus individueller Sicht liefert der Glaube Sinndeutungen auch im Leiden – religiöse Menschen haben deshalb eine größere Schmerztoleranz als nichtreligiöse. Und zum Zweiten sticht die soziale Unterstützung durch die religiöse Gemeinschaft ins Auge, die zahlreiche stabilisierende Effekte nach sich zieht.

Bei allem Respekt für die Wohltaten religiösen Erlebens und Verhaltens – es gibt doch auch ne­gative Auswirkungen religiösen Glaubens, oder?

Ja, Religionen schützen – und können gewaltiges Unglück auslösen. Man denke nur an Religionskriege, Fanatismus oder Halluzinationen durch übermäßige Ekstase. Oder an den Genozid im Nationalsozialismus – manche fragen angesichts des unvorstell­baren Leids im 20. Jahrhundert: Wie kann man nach Auschwitz noch an Gott glauben?

Aus religionspsychologischer Sicht kann der Glaube sowohl nutzen als auch schaden. Hat ein Mensch eine gesunde Empathie entwickelt, fungiert sein Verstand als emotionale Bremse. Weil er begreift, dass seine Triebe seinen Nächsten teuer zu stehen kommen, kann er sich nicht alles erlauben. Die Empathie, die neurologische und affektive Grundlage unserer Moral, benötigt zu ihrer Entwicklung keine Spiritualität. Doch wenn Glaube blind macht und die Empathie dadurch ausgeschaltet ist, kann ein religiöser Fanatiker im Namen seines allein seligmachenden Gottes Ungläubige töten.

Blicken wir auf das destruktive Potenzial des Glau­bens: Wie kann die Religion kultiviert werden?

Wenn der Gläubige offen ist und Zweifel zulässt, wird er von seiner Überzeugung profitieren, dann schützt und stabilisiert ihn sein Glaube. Dafür ist der interreligiöse Dialog wichtig. Wenn ich als Christ neugierig frage, wie ein Moslem betet oder ein Buddhist meditiert, wird sich die eigene religiöse Praxis verändern oder auch verstärken. Im offenen Gespräch mit Gläubigen anderer Religionen wird der eigene Standpunkt sicherer. Eine offene Haltung ist die Voraussetzung dafür, dass der Glaube schützt.

Allerdings gibt es auch viele geschlossene Glaubenssysteme und sektenartige Gruppierungen, die kritische Nachfragen und das Zweifeln unterbinden. Das kann totalitäre Züge annehmen: Wenn du nicht an genau denselben Gott wie wir glaubst, bist du ein Ungläubiger und damit unser Feind. Alle Glaubenssysteme können zu einer Ideologie verkommen – auch in den Wissenschaften!

Sie empfehlen eine offene Dialogkultur zwischen religiösen und säkularen Standpunkten. Warum ist das immer noch so schwierig?

Es gibt religiöse und wissenschaftliche Inquisitoren. Wenn Gläubige davon berichten, Gottes Stimme gehört zu haben oder von ihr berührt worden zu sein, ist das kein objektiver Tatbestand, sondern vor allem ein subjektives Gefühl, dessen Realitätsgehalt nicht überprüft werden kann. Aber auch Wissenschaftler arbeiten mit Vorstellungen und Modellen von der Realität. Wissenschaftliche Objektivität gibt es nicht, jede Forschung hängt von Voraussetzungen ab.

Beide sind also Gläubige, die ihrer Wirklichkeitskonstruktion vertrauen, sei sie nun religiös oder säkular begründet. Wenn beide offen und fragend auf die andere Seite zugehen, können sie voneinander lernen. Leider gab und gibt es immer noch gegenseitige Vorurteile, aggressive Abwertungen und viel Unkenntnis der anderen Seite. Eine offene Gesprächskultur zwischen religiösen und säkularen Weltdeutungen ist gerade für eine pluralische Gesellschaft unverzichtbar und zukunftsweisend.

Boris Cyrulnik, 1937 in Bordeaux geboren, ist Neurologe, Psychiater und Ethologe. Er gilt als Pionier der Resilienzforschung. Sein BuchGlauben. Psychologie und Hirnforschung entschlüsseln, wie Spiritualität uns stärktist im Oktober bei Beltz erschienen

Dr. Michael Utsch ist Psychologe und Psychotherapeut. Er ist als Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen tätig, unterrichtet als Honorarprofessor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg und der Humboldt-Universität zu Berlin und publiziert zu religionspsychologischen Themen

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2019: Stille