„Eine Masse ist nicht zugänglich für Vernunft“

In Clausnitz belagert ein wütender Mob einen Flüchtlingsbus und skandiert „Holt sie da raus“. In Bautzen feiert eine grölende Horde den Brand einer Aufnahmeeinrichtung. Was passiert mit Menschen, wenn sie zu einer Masse werden? Ein Gespräch mit dem Systemwissenschaftler Thomas Brudermann

Herr Dr. Brudermann, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Situationen, in denen Menschen in der Gruppe ihre Individualität zu verlieren scheinen und zu einer gesichtslosen wütenden Masse, zu einem Mob werden. War das in Clausnitz und Bautzen der Fall?

Ich kann das, was dort vorgefallen ist, auch nur anhand der Medienberichte und Videos im Internet beurteilen und habe daher ein unvollständiges Bild. Doch diese Bilder und Berichte legen nahe, dass wir es hier mit einem aggressiven Mob zu tun haben, wie…

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Doch diese Bilder und Berichte legen nahe, dass wir es hier mit einem aggressiven Mob zu tun haben, wie wir ihn in Deutschland zumindest in der jüngeren Vergangenheit nicht oft gesehen haben.

Fallen Ihnen andere Begebenheiten ein, die dem vergleichbar sind, was da in Sachsen passiert ist?

Die Rohheit und Aggressivität erinnern mich zum Beispiel an den inszenierten Volkszorn in Libyen und anderen arabischen Ländern im Jahr 2012. Ein schlecht gemachtes YouTube-Video, das man als Schmähung des Propheten Mohammed empfand, war damals der Initialzünder für Ausschreitungen, in denen unter anderem Botschaften attackiert und Fahnen verbrannt wurden. Der politische Hintergrund war ein anderer, aber die psychologischen Mechanismen sind ähnlich.

Um mal ein unpolitisches Beispiel zu nehmen: Inwiefern ähnelt und unterscheidet sich der Mob in Clausnitz von einer Horde aufgebrachter Fußballfans, die fäusteschwingend den Mannschaftsbus belagern?

Auf den ersten Blick überwiegen Gemeinsamkeiten: Es gibt ein Feindbild, die Horde besteht ausschließlich oder überwiegend aus Männern, vorwiegend jungen Männern, man sieht kollektive Wut, oft auch unter dem Einfluss von Alkohol. Allerdings ist ein Mob à la Clausnitz vielschichtiger und alarmierender, denn er ist aus meiner Sicht Folge einer schleichenden Entwicklung in der Gesellschaft und Politik über die letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg. Die Psychologen Thomas Fenzel und Constantin Malik nennen diese unterschwelligen gesellschaftlichen Entwicklungen „Phänomene erster Ordnung“. Sie bereiten den Boden für die „Phänomene zweiter Ordnung“, nämlich die kurzen explosiven, sichtbaren Ausbrüche, wie wir sie in Clausnitz erlebt haben.

Hat sich da unterschwellig schon seit langem eine politisch gleichgesinnte, latent aggressive Masse gebildet, die viel größer ist als der sichtbare Mob?

Die Möglichkeit ist zumindest nicht von der Hand zu weisen, dass sich in Teilen der Bevölkerung eine entsprechende Stimmungslage ausgebreitet hat.

Was passiert in dem Moment, in dem sich solche Gleichgesinnten zusammenfinden? Entsteht da eine Eigendynamik, die sie von einer Ansammlung von Individuen zu einem Mob werden lässt?

Aus den Polizeiberichten geht meines Wissens nicht genau hervor, auf welche Weise sich diese Menschen zusammengerottet haben. Aber mir scheint plausibel, dass da zunächst Leute zusammenkamen, die eine ablehnende, negative Grundstimmung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen einte, die noch nicht notwendigerweise Gewaltbereitschaft umfasst haben muss. Aber aus der Gruppe heraus kann es – vielleicht auch angestachelt von lauten Wortführern – zu Verhaltensweisen kommen, die die meisten Teilnehmer einzeln niemals zeigen und wagen würden. In einer psychologischen Masse herrschen ganz schlichte Verhaltensregeln: Man tut, was die anderen tun, schreit, wenn sie schreien, schaukelt sich gegenseitig auf. Das Verhalten der Einzelnen synchronisiert sich. Eine psychologische Masse kennt dann nur noch eine Meinung, ein Ziel. Da gibt es keinen Widerspruch, keine Diskussion, keine Reflexion. Das Ausmaß an Gewalttätigkeit, das aus dieser Dynamik entstehen kann, ist schwer vorauszusagen.

Welche Rolle spielen Emotionen in diesem Prozess des Hochschaukelns?

Massen sind charakterisiert durch eine einzige einfache, starke Emotion, die alle vereint. Das kann auch Euphorie sein, etwa der Investoren an der Börse, die dann zu Spekulationsblasen führt. Es kann Angst sein, etwa bei einer Massenpanik. Oder eben Wut. Diese Emotion sorgt für eine Gleichrichtung der Masse, sie dominiert alles, alles ist ihr untergeordnet.

Sie haben die psychologische Ansteckung in einer Masse am Computer simuliert. Wie sind Sie da vorgegangen?

Man definiert wie in einem Computerspiel Regeln, die das Verhalten und das Wechselspiel der virtuellen Akteure beschreiben, und programmiert die Akteure mit diesen Verhaltensregeln. Dann startet man das Programm, lässt die Akteure agieren und interagieren und beobachtet quasi gottgleich, was passiert.

Diese virtuellen Akteure entsprechen den Menschen in einer Masse?

Genau. Man versucht hier, einfache Mechanismen zu identifizieren, die Gültigkeit haben für Massenphänomene. Natürlich lassen sich diese Modelle nicht einfach auf die menschliche Realität übertragen, aber sie sind hilfreich, um diese Realität zu verstehen.

Eine Frage, die Sie auf diese Weise untersucht haben, ist: Braucht eine Menschenansammlung eine bestimmte Größe, eine „kritische Masse“ an Teilnehmern, damit sie sozusagen zündet und zu einem Mob wird?

In unseren Modellen konnten wir keine solche Mindestanzahl von „infizierten“ Teilnehmern identifizieren, die zur Massenbildung notwendig sind. Manchmal reichte bei bis zu 10 00 Akteuren schon ein einzelner Initialagent aus, um ein Massenphänomen zu begründen. Dieser Initiator infizierte dann einen zweiten, einen dritten und diese dann wiederum zehn und so fort. Eine „kritische Masse“, analog zu einer nuklearen Kettenreaktion, war da nicht erforderlich. Es ist ohnehin ein oft untaugliches Unterfangen, Konzepte aus der Physik auf die Sozialpsychologie zu übertragen. Isaac Newton soll, nachdem er in einer der ersten Spekulationsblasen am Finanzmarkt viel Geld verloren hatte, resignierend gesagt haben: „Ich kann zwar die Bewegung der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen.“

Auch wenn man es nicht berechnen kann: Was trägt dazu bei, dass Menschen zur Masse werden?

Es hängt vor allem von der Anfälligkeit des Einzelnen und der Bevölkerung insgesamt ab. Bestimmte Rahmenbedingungen machen uns empfänglicher für psychologische Ansteckung. Dabei sind zwei Faktoren entscheidend: emotionale Erregung und Unsicherheit. Die Psychologen Stanley Schachter und Jerome Singer haben schon in den 1960er Jahren in Experimenten gezeigt, dass ängstliche oder euphorische Erregung einerseits und Orientierungslosigkeit andererseits Menschen anfälliger machen für Suggestion: Sie nehmen dann eher die Erklärungen von anderen an, statt selbst abzuwägen. In einer Situation wie jetzt haben wir beides: Wir haben Unsicherheit – es kommen viele Zuwanderer, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, und wir wissen nicht, in welcher Weise dies unser Zusammenleben verändern wird und ob diese Entwicklung bedrohlich ist. In dieser Unsicherheit schwingt schon eine ängstliche Erregung mit, und wenn dann ein Ereignis wie in der Silvesternacht in Köln hinzukommt, dann kommt eine zusätzliche heftige Emotion hinzu, nämlich Wut. Das ist der perfekte Nährboden für psychologische Ansteckung, für Suggestion, für einfache Erklärungen. Daraus entstehen Massenphänomene.

Ist eine Masse erst einmal entstanden, geht von ihr eine „hypnotische Wirkung“ aus, meinte Gustave Le Bon, der Ende des 19. Jahrhunderts die Massenpsychologie begründete. Kann man sich dem Sog einer Masse dann gar nicht entziehen?

Le Bon hatte in vielem recht und hat sehr viel vorweggenommen. Allerdings sollte man relativieren: Eine Masse kann anziehen, aber auch abstoßen, je nach persönlichem Hintergrund. Ein überzeugter Befürworter der Willkommenskultur, der einen solchen Mob erlebt, wird sich sicher abgestoßen fühlen. Aber: Jeder, der schon einmal im Fußballstadion von einer kollektiven Begeisterung erfasst worden ist – oder von einer tiefen Trauer wie nach den Attentaten von Paris –, der weiß, dass von solchen Massen schon eine ganz besondere Wirkung ausgeht.

Sie vermuten unterschiedlich hohe individuelle „Reizschwellen“: Der oder die eine steckt sich leichter mit dem Massenvirus an, der andere ist resistenter. Wovon hängt das ab?

Wahrscheinlich von der persönlichen Geschichte, dem Erfahrungsschatz und zum Teil von der Persönlichkeit. Manche sind zudem anfälliger, sich von euphorischen Emotionen anstecken zu lassen, andere stecken sich eher mit einer aggressiven Stimmung an. Aber entscheidend sind vor allem die Rahmenbedingungen, das gesellschaftliche Klima, denn dies ändert die Reizschwellen von sehr vielen Menschen. Wir haben in unserem Modell beobachtet, dass oft schon eine geringfügige Änderung der durchschnittlichen Reizschwelle in einer Population darüber entscheidet, ob sich ein Massenphänomen ausbreitet oder nicht.

Flüchtlingskrise, Kriege rund um Europa, Terroranschläge, schwere Konflikte innerhalb der EU bis hin zum drohenden Zerfall: Leben wir in einer Zeit gesenkter Reizschwellen mit der Gefahr kaum kalkulierbarer Massenbewegungen?

Ich meine: ja. Es ändern sich ja nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir leben nun schon seit einigen Jahren in einer Zeit problematischer Wirtschaftsentwicklung. Die Jahrzehnte des Aufschwungs sind tendenziell vorbei oder zumindest ausgesetzt. Das bewirkt eine latente Unsicherheit, und die heftigen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise zeugen von dieser Unsicherheit. Vor 15 Jahren wäre die Reaktion vielleicht gelassener ausgefallen. Der amerikanische Finanzwissenschaftler Robert Prechter geht in seiner Socionomics-Theorie sogar davon aus, dass die social mood, die gesellschaftliche Grundstimmung, keine Folge von Ereignissen ist, sondern umgekehrt die treibende Kraft hinter diesen Ereignissen: Ängstliche Menschen führen Kriege. In Zeiten des Optimismus gründet und erweitert man die EU, in pessimistischen Zeiten, wie wir sie heute erleben, haben wir die Spaltungstendenzen.

Welche Rolle spielt die Pegida-Bewegung aus massenpsychologischer Sicht?

Sie ist eine Art Wegbereiter. Pegida reduziert sämtliche gesellschaftlichen Entwicklungen auf ein Thema: Bildungsrückstand, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel – alles wird auf Einwanderung und Überfremdung zurückgeführt. Diese eindimensionale Diskussion senkt bei Einzelnen Hemmschwellen: Wer davon überzeugt ist, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, schließt sich leichter einem Mob wie in Clausnitz an. Und das senkt seinerseits die Hemmschwelle für weitere Mobs: Der Tabubruch ist dann ja bereits etabliert.

„Das sind keine Menschen, die so etwas tun“, entfuhr es dem sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich nach Clausnitz und Bautzen. Wird man tatsächlich „entmenschlicht“, wenn man zum Bestandteil einer Masse wird?

Ich denke, wir müssen uns ohnehin von dem lange vorherrschenden humanistischen Ideal eines rationalen, eigenständig denkenden Menschen verabschieden. Wir Menschen sind nicht von Vernunft und Weisheit allein angetrieben. Wir handeln in vielen Situationen intuitiv und rationalisieren unsere Handlungen erst im Nachhinein. Als soziale Wesen orientieren wir uns fast immer an dem, was andere Menschen denken, meinen und tun. Aus neurowissenschaftlichen Studien weiß man, dass wir gar nicht in der Lage sind, solche sozialen Einflüsse auszublenden. In einer psychologischen Masse multipliziert sich dieser Effekt sozialer Einflüsse natürlich enorm. Schon in Gruppen verringert sich das individuelle Verantwortungsgefühl. Wenn ich Teil eines Mobs bin, dann löst sich das Empfinden persönlicher Verantwortung praktisch in nichts auf. Die Verantwortung wird an die Gruppe, an den Mob abgegeben.

In Clausnitz haben Leute aus dem Mob, der den Flüchtlingsbus umlagerte, auch weinende Kinder drohend angeschrien – ein Verhalten, das Außenstehende als zutiefst beschämend empfinden. Wie weit sinkt in der Masse die Hemmschwelle für aggressive Tabubrüche?

Eine Masse ist von einer basalen Emotion wie Wut bestimmt. Sie ist nicht zugänglich für Argumente und Vernunft. Auch ein einzelner Mensch ist, wenn er emotional stark erregt ist, kaum empfänglich für eine rationale Argumentation, und bisweilen reicht der Kontrollverlust bis hin zu „Totschlag im Affekt“. Erst recht sinkt die Hemmschwelle für solche Tabubrüche in einem emotionsgeladenen Mob ohne Verantwortungsgefühl und Selbstreflexion. Es ist dann auch nur noch sehr begrenzt möglich, auf einen solchen Mob einzuwirken, wenn überhaupt.

In der Masse sind also Vernunft und Urteilskraft abgemeldet. Sinkt sogar die Intelligenz der Akteure?

C. . Jung soll einmal gesagt haben: „Eine große Gesellschaft, aus lauter trefflichen Menschen zusammengesetzt, gleicht an Moralität und Intelligenz einem großen, dummen und gewalttätigen Tier.“ Tatsächlich können Intelligenzniveau und die Qualität von Entscheidungen bereits in einer Gruppe sinken– und erst recht in einer Masse.

Kann die kollektive Dynamik einer Masse jederzeit weiter eskalieren, zum Beispiel zur Lynchjustiz wie bei den Judenpogromen im Mittelalter oder dem Sturm auf die Bastille als Auftakt der Französischen Revolution? Wäre Ähnliches in unserer heutigen Zeit und Kultur möglich?

Es ist wahrscheinlich für uns alle sehr schwer vorstellbar, auch für mich, der ich in Friedenszeiten aufgewachsen bin. Aber ich halte weitere Eskalationen durchaus für möglich. Man sieht ja, dass die Hemmschwellen sinken und auch von bestimmten Gruppen systematisch weiter gesenkt werden. Und wir stehen noch dazu vor immensen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Wir leben in einer Umbruchszeit, und die Bedingungen ändern sich schneller als irgendwann sonst in der jüngeren Geschichte.

Ich habe kürzlich ein Buch von Stefan Zweig mit dem Titel Die Welt von gestern gelesen. Zweig beschreibt, wie unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg niemand in seinem Umfeld auch nur ansatzweise für möglich gehalten hat, was dann folgte. Und niemand hatte auch vor dem Nationalsozialismus dessen Grausamkeiten und Brutalitäten für möglich gehalten. In beiden Fällen wurde die Entwicklung durch ein systematisches Absenken von Reizschwellen und immer neue Tabubrüche vorangetrieben. Wenn man das Buch von Zweig liest, ist es beängstigend, wie viele Parallelen es zur heutigen Zeit gibt und wie sich die Mechanismen und Strategien ähneln.

Thomas Brudermann ist Assistenzprofessor an der Universität Graz. Er schrieb das Buch Massenpsychologie (Springer 2010).

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 6/2016: Drüber stehn!