Mitgefühl für einen Mörder?

Therapiestunde: Angesichts der Grausamkeit eines Doppelmordes fragt sich der Gefängnispsychologe, wie er mit diesem Klienten arbeiten kann.

Die Illustration zeigt einen Mörder, der auf einem Hocker sitzt und blutige Tränen weint
Wie kann man zu einem Mörder eine therapeutische Beziehung aufbauen? © Michel Streich

Ich verbringe mit den Menschen im Gefängnis seit 25 Jahren mehr Zeit als mit den meisten anderen Menschen in meinem Leben. Ich bin Therapeut für die Inhaftierten und erstelle prognostische Stellungnahmen über deren zu erwartendes mögliches Verhalten in der Zukunft.

Oft werde ich gefragt, wie man für einen Kindesmörder ein positives Gefühl entwickeln kann. Kann man Mitgefühl mit einem Täter haben? Darf man das? Kann man den Täter verstehen, ohne die Tat zu rechtfertigen oder zu entschuldigen?

Herr K. verbüßte…

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ohne die Tat zu rechtfertigen oder zu entschuldigen?

Herr K. verbüßte eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen zweifachen Mordes. Er hatte im Auftrag seines Arbeitgebers dessen von ihm schwangere Geliebte und ihre gemeinsame zweijährige Tochter getötet, indem er die beiden in ihrer Wohnung mit einem Messer erstach. Hierfür sollte er von seinem Arbeitgeber 8000 Mark erhalten.

Auftragsmord für seinen Chef

Laut Gerichtsbeschluss betrug die Mindestverbüßdauer 22 Jahre, da bei Herrn K. die besondere Schwere der Schuld fest­gestellt wurde. Er stammte aus der ehemaligen DDR und war seit seinem zweiten Lebensjahr immer wieder in Kinderheimen, Jugendwerkhöfen und Gefängnissen untergebracht. Nach seiner Über­siedlung nach Westberlin 1988 fühlte er sich zunächst verloren, fremd und gänzlich überfordert. Das westliche System verführte ihn dazu, sich viele Dinge anzuschaffen, von denen er lange geträumt hatte und er verschuldete sich schnell. Eine regelmäßige Arbeit fand er trotz intensiver Bemühungen lange nicht. Dann wurde ihm seine Unerfahrenheit zum Verhängnis: Er geriet an skrupellose Arbeitgeber, die ihn um seine Bezahlung prellten. Immer intensiver wurde die Angst, wegen nicht zu begleichender Schulden in einen Strudel von Verurteilungen und Inhaftierungen zu geraten und sein Leben weiter in — diesmal westdeutschen Verwahrinstitutionen — verbringen zu müssen.

Herr K. hatte zum Zeitpunkt des Deliktes einen Arbeitgeber gefunden, der ihm erstmalig ein Gefühl von Freundschaft vermittelte. Allerdings wurde er auch dieses Mal missbraucht. Bald war er gefangen in einem Netz materieller und emotionaler Abhängigkeiten am Ende stand die Erfüllung eines Auftragsmordes für seinen Chef. Mehr noch als das Geld war für ihn dabei die Loyalität zu seinem Arbeitgeber bedeutsam, für den er zwischenzeitlich bereit war, alles zu tun, um sich dessen Zuneigung zu sichern.

Bin ich der richtige Therapeut?

Ich lernte Herrn K. in seinem 20. Haftjahr kennen und traf auf einen Menschen, versunken in eine tiefe Gleichgültigkeit und Resignation. Zu Beginn der Arbeit waren seine präzisen, kühlen Beschreibungen der Tötungen seiner Opfer zeitweise nahezu unerträglich für mich, da ich zu diesem Zeitpunkt ein Kind im gleichen Alter hatte und sich die Bilder meines Kindes und des Opfers in mir immer wieder übereinanderlegten, wenn ich die Tatortfotos aus den Ermittlungsakten und den schwer verwundeten Leib eines kleinen Kindes sah. Obwohl ich in meiner beruflichen Tätigkeit schon vieles gehört und gesehen hatte, war ich in diesem Fall unsicher, ob ich zu diesem Zeitpunkt als Vater eines Kleinkindes der Richtige für die therapeutische Arbeit mit einem solchen Täter sein könnte.

Es war klar, dass Herr K. auch gar nichts anderes erwartete als Abscheu, Abwertung und Zurückweisung seiner Person, die durch eine monströse Tat zum Monster geworden war. Ich habe schon früher die Erfahrung gemacht, dass es meinem Klienten und mir in diesen Situationen helfen kann, meine Empfindungen gegenüber dem Täter in Hinblick auf seine Tat sehr ehrlich zu offenbaren und ihm dabei zugleich zu vermitteln, dass ich weiter mit ihm als Mensch im Kontakt bleiben möchte. Entscheidend dabei ist, ob der andere dieses Interesse annehmen kann. Tatsächlich konnte sich Schritt für Schritt eine Beziehung entwickeln, bei der die Tat immer weniger als Barriere zwischen uns stehen musste.

Mörderische Gleichgültigkeit 

Seine Erzählungen waren zunächst in der Sachlichkeit, mit der er über die mörderische Gleichgültigkeit seiner Eltern sprach, erschütternd. Er redete ohne auch nur eine Spur von Wut oder Trauer. Die zunächst als Abwehr gegenüber Wünschen nach Wärme, Zuwendung und Halt erlebte Fassade weichte aber langsam auf.

Ich erinnere insbesondere eine Stunde, in der Herr K. davon berichtete, dass er im Alter von vier Jahren immer wieder im Dorf bei Nachbarn nach Essen für sich und seine kleineren Geschwister bettelte, während seine Eltern zu Hause völlig betrunken herumlagen. An einem dieser Tage fand er eines seiner Geschwisterchen, das zu klein war, um sein Gitterbettchen zu verlassen, tot vor. Es war erstickt bei dem Versuch, aus Hunger die Federn seines Kissens zu essen.

Scham vor den Menschen da draußen

Als er seine Schilderung beendet hatte, schwieg er. Sein Blick schien leer und nach innen gerichtet. Ich blickte auf diesen kleinen müden Mann mit fadem Teint, mit den tiefen Augenringen und dem zerzausten Haar. Seine Kleider waren altmodisch und schienen aus der Zeit vor der Inhaftierung zu stammen. In diesem Moment war ich zutiefst berührt und voller Mitgefühl und Wärme für den kleinen Jungen, der vor mir saß und doch zugleich der Erwachsene war, der Unsägliches getan hatte. Diese Stunde werde ich nie vergessen. Ich habe selten einen Menschen erlebt, der so erfüllt war von wahrhaftigen Schuldgefühlen und Verzweiflung — nicht über sein eigenes Schicksal, sondern über das, was er anderen Menschen angetan hatte. Er hatte seit langem das Gefühl angesichts seiner Tat, nicht das Recht zu haben, über sein Leben Trauer empfinden zu dürfen.

Herr K. absolvierte in Haft eine Lehre als Kfz-Mechaniker. Er wurde bald als „unverzichtbarer Mitarbeiter“ beschrieben und erarbeitete sich wie auch in der Wohngruppe durch seine Hilfsbereitschaft und seine technischen Kompetenzen einen besonderen Status. Im letzten Haftjahr ergab sich eine Möglichkeit, auf finanziellen Schadensersatz vom Land Berlin zu klagen, da sich herausgestellt hatte, dass einige Inhaftierte ein paar Monate in zu kleinen und deswegen nicht zulässigen Hafträumen untergebracht gewesen waren. Herr K. gehörte zu dieser Gruppe. Als ich ihn fragte, ob er sich dieser Klage anschließen werde, antwortete er mir mit fester Klarheit, dass er sich schämen würde, „vor den Menschen da draußen“ Geld dafür zu verlangen, und dass er zu Recht eingesperrt worden sei für das, was er getan habe. Ich hatte damals kurz überlegt, ob er dies in manipulativer Absicht gesagt hat, ich glaube aber bis heute, dass es Anstand war.

Herr K. wurde nach 24 Jahren Haft entlassen, und wir verabschiedeten uns mit Achtung füreinander. Es gab keine Entschuldigung oder Vergebung für Herrn K., aber es gab Momente der Wärme und des Trostes für einen kleinen Jungen.

Wir sind Jahre danach noch gelegentlich im Kontakt gewesen. Herr K. hat den Führerschein gemacht, arbeitet in einem kleinen Betrieb, hat eine kleine Wohnung und ein Auto. Manchmal, wenn er U-Bahn fährt und eine Mutter mit einem kleinen Kind einsteigt, muss er aussteigen. Die Schuld, die er trägt, ist dann zu viel. 

Uwe Kazenmaier ist Stations­leiter der Sozialtherapeutischen Anstalt in der JVA Tegel in Berlin und betreut dort als Gefängnispsychologe inhaftierte Schwerkriminelle

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2019: Konzentration finden