„Der Massenmörder ist fast noch ein Kind“

Nach einem Amoklauf an einer Schule suchen wir nach Erklärungen – Warum ausgerechnet Romane und Filme uns komplexere Antworten bieten können.

Ein Schüler zielt mit einer Pistole und läuft Amok an seiner Schule
Wenn Kinder zu Massenmördern werden, brauchen wir Erzählmuster. © dpa Picture Alliance

Sie haben zu Schulamokläufen geforscht. Was bedeutet der Begriff Amok?

Der Begriff kam noch zu Kolonialzeiten auf. Reisende berichteten bei ihrer Rückkehr aus Südostasien von dem, was sie Amokläufe nannten. Sie hatten dort Menschen gesehen, die scheinbar plötzlich ausrasteten und sehr viele Leute umbrachten. Diese Täter wurden dort auf Malaiisch amoucos genannt. Und über die Kolonialherren und deren Reiseberichte, oft reich ausgeschmückt, kam der Begriff nach Europa.

Im Deutschen setzte sich Amok dann durch…

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oft reich ausgeschmückt, kam der Begriff nach Europa.

Im Deutschen setzte sich Amok dann durch als Bezeichnung für all jene Taten, die plötzlich auszubrechen scheinen, die besonders grausam sind und die wir vor allem zunächst einmal unerklärbar finden. Dass wir den Begriff Amok für diese bewaffneten Angriffe an Schulen verwenden, ist eine Besonderheit. In anderen Sprachen spricht man in dem Zusammenhang eher vom School-Shooting oder vom Massaker. Der Ausdruck School-Shooting ist präziser. Auch weil die Taten eben nicht aus heiterem Himmel geschehen.

Was sind denn die Merkmale eines School-Shootings?

Eine Definitionsmöglichkeit, die ich sinnvoll finde, beinhaltet einen oder mehrere jugendliche Täter, die die Tat meist akribisch geplant und vorbereitet haben. Da werden sich die Waffen überlegt, die Kleidung, die Tat wird sich ausgemalt, es wird darüber fantasiert. Dann gehört zu einem School-Shooting, dass es mehrere Opfer gibt oder zumindest mehrere Opfer geplant sind.

Ein weiteres Merkmal ist, dass diese Opfer nicht gezielt getötet werden, sie haben vielmehr symbolischen Charakter. Die einzelnen Opfer stehen bei einem School-Shooting für das System Schule oder sogar die Gesellschaft als solche. Die getöteten Personen müssen also nicht in einer Beziehung zum Täter stehen. Weil das so ist, ergibt sich für uns der Eindruck, dass es willkürliche Opfer sind.

Gut zwei Jahrzehnte ist das School-Shooting an der Columbine High School bei Littleton in den USA inzwischen her, damals starben 15 Menschen. Es markiert für viele den Beginn dieser Schulmassaker. Sie geschehen in den USA zwar zehnmal häufiger als anderswo – so eine Studie von 2013 –, aber auch hierzulande müssen wir leider mit diesen Taten rechnen, wie die Massaker von Erfurt, Ansbach oder Winnenden zeigen. Die Taten erschüttern uns zutiefst. Sind die vielen Medienberichte ein Grund dafür?

School-Shootings erfahren in den Medien in der Tat eine extrem große Aufmerksamkeit. Dadurch wirkt es so, als würden diese Taten viel häufiger vorkommen, als sie es letztlich tun. Die große mediale Präsenz ist mit ein Grund dafür, dass wir dieses Thema als so brisant und so aktuell wahrnehmen. Es gibt aber noch eine andere Ursache für unsere Erschütte­rung. Sie hängt mit unserer Vorstellung zusammen, mit dem Narrativ, dass wir uns grundsätzlich im öffentlichen Raum in Deutschland sicher fühlen.

Bitte erklären Sie das.

Das Narrativ, also die sinnstiftende, kollektiv geteilte Erzählung, die ich hier meine, ist: „Hier in Deutschland kann uns im öffentlichen Raum eigentlich nichts passieren.“ Wir sind alle Teil dieser Erzählung und vergewissern uns mit Worten durch das Wiedererzählen auch immer wieder rück: „Ja, wir leben hier in einer friedlichen Gesellschaft.“ Wenn nun eine extreme Gewalttat im öffentlichen Raum stattfindet, stellt das diese Gewissheit infrage. Das gilt auch für einen Amoklauf oder Terrorakt von einem Erwachsenen, der in der Öffentlichkeit verübt wird.

Wenn in einem Einkaufszentrum oder auf einem Weihnachtsmarkt Menschen ermordet werden, erleben wir das als eine starke Verunsicherung. Auch hier brechen Gewaltakte in einer Plötzlichkeit – so empfinden wir es – in unseren Alltag ein, in dem wir uns sicher wähnten. So eine Tat kollidiert stark mit dem Narrativ der Sicherheit im öffentlichen Raum. Sie verunsichert uns daher zutiefst.

Gerade die Schule ist ja auch noch mal ein besonderer Ort. Dieser Institution vertrauen wir unsere Schutzbefohlenen an. Schule steht auch für Sicherheit und Geborgenheit…

und Schule steht für eine Zukunft. Da werden Kin­der hingeschickt, die dort einüben sollen, ein Teil der Gesellschaft zu werden. Sie werden dort geprägt, auch was den Umgang miteinander angeht. Dort üben sie ja im Bestfall, wie man mit anderen Meinungen umgeht, wie man sich streitet und wieder verträgt. Zwar wissen wir, dass Schule kein ganz gewaltfreier Ort ist – es gibt dort Mobbing, Schulhofprügeleien und so weiter.

Trotzdem wird Schule von uns als ein Ort verstanden, an dem so etwas wie ein Massaker undenkbar ist. Wenn der Täter selbst noch ein Jugendlicher ist, ist das ein weiterer Schockeffekt. Zum einen wird der vermeintlich sichere Ort zum Tatort. Zum anderen stellt sich heraus, dass der Täter, ein Massenmörder, selbst fast noch ein Kind ist.

Wie gehen wir mit der Erschütterung um?

Was wir dem entgegensetzen, ist auch wieder eine Erzählung: eine Erzählung der Kausalität. Wir su­chen recht schnell nach den Gründen für diese Tat, die uns unerklärbar scheint. Wir fragen: Warum geschah die Tat? Diese Frage ist zentral. Um sie zu beantworten, suchen wir nach Erklärungsmustern. Wir schauen beispielsweise in die Biografie des Täters: Wie waren seine Familienverhältnisse?

Dann wird im Umfeld geguckt, was so einen Menschen zu der Tat gebracht haben könnte: Wurde der Täter gemobbt, stand er stark unter Leistungsdruck, war er ein Außenseiter? Spielten Drogen eine Rolle, Alkohol, Liebeskummer, Gewaltmedien? Hier greifen Erklärungsmuster, die über die Jahre entstanden sind. Wir finden sie zum Teil schon in den Beschreibungen der Kolonialherren über Amoktaten aus dem 19. Jahrhundert.

Sie meinen, wir brauchen die Erklärungen für die Tat vor allem für uns, auf dass wir wieder ruhig schlafen können?

Nach so einer Tat suchen wir die Gründe, damit wir die Tat verstehen können. Erst dann stellen wir Kohärenz her, die Dinge fügen sich wieder ein in ein sinnvolles Ganzes. Dafür, dass wir das können, gibt es erprobte Erklärungsmuster. Sie erlauben uns am Schluss ein allzu simples Resümee: So und so war die Vorgeschichte des Täters; als dann noch widrige Umstände hinzukamen, etwa Gewaltfilme, die der Täter sich ansah, geschah das Massaker. Auf diese Weise können wir dann die gänzlich unnormale extreme Gewalttat in den Alltag reintegrieren.

Sie haben gerade Gewaltfilme genannt. Spielen solche Vorlagen für die Täter denn keine Rolle?

Sie werden oft als Erklärung angeführt. Es heißt: Der Täter hat so viele Gewaltfilme gesehen oder Gewaltcomputerspiele gespielt. Und da er wegen seiner biografischen Umstände sehr wütend und frustriert war, haben ihn diese Medien dann zur Nachahmung verführt.

Was ist mit dem Werther-Effekt, der die Nachahmung von Suiziden beschreibt?

Auf den Werther-Effekt wird sich in diesem Zusammenhang immer bezogen. Da geht es um einen Romanbestseller von Goethe, der eine Suizidwelle nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1774 auslöste. Das ist ein wichtiger Punkt. Aber man muss sich auch vor Augen halten: School-Shootings sind unglaublich selten, auch im Vergleich zu allen anderen möglichen Gewalttaten. Anders herum: Es sind sehr wenige Täter im Verhältnis zu all diesen Leuten, die diese Filme oder Bücher konsumieren.

In der Debatte über Nachahmung finden wir also im Grunde ein weiteres Beispiel für den Versuch, eine Kausalität der Tat herzustellen. Denn wenn es sie gibt, könnten wir den Taten vorbeugen, indem wir etwa solche Filme verbieten – und wieder sicher sind! Ich denke, hier versuchen wieder unsere Erklärungsmuster zu greifen, die uns das Gefühl von Sicherheit zurückbringen sollen. Da möchte ich betonen: Die Sachlage ist leider viel komplexer.

Wie ist denn die Sachlage?

Das Spannende an den Romanen und Filmen ist, dass sie sich oft genau aus dem speisen, was wir aus den Medien oder aus Diskussionen nach so einer Tat selbst kennen. Sie beziehen sich oft auf reale Taten, sie fiktionalisieren sie und reflektieren sie erzählerisch. Daher haben diese Romane und Filme eine extreme Nähe zu unserer Lebensrealität und zu dem, was wir über solche Taten denken oder wissen.

Sie erzählen uns aber mehr als das, was wir schon kennen?

Sie können anders mit den Taten umgehen, als es bei­spielsweise die mediale Berichterstattung kann. Diese ist der Wahrheit verpflichtet und sucht dabei oftmals nach einfachen Erklärungen zum Verständnis. Das müssen Filme und Romane aber nicht leisten. Da kann – etwa in einem Roman – am Schluss als Fazit stehen: Die Tat ist und bleibt unverständlich. Es muss keine schlüssige Erklärung geliefert werden.

Und was ist dann der Gewinn, den Romane oder Filme zum Thema bieten?

Im fiktionalen Raum lässt sich die enorme Komplexität des Themas ausprobieren oder erfahrbar machen. Für uns bedeutet das: Wir können als Leser oder Zuschauerin üben, uns in verschiedene Perspektiven zu begeben. Wir können in die unterschiedlichen Rollen der Beteiligten schlüpfen. Und wir können auch ein Buch lesen, das komplett unzuverlässig erzählt ist, bei dem wir am Ende also nicht verstehen, warum der Täter die Tat begangen hat.

Sie sprechen von dem Roman Wir müssen über Kevin reden von der Autorin Lionel Shriver. Er ist aus der Sicht der Mutter eines späteren School-Shooters erzählt.

Genau. Das Buch präsentiert rein die Perspektive der Mutter, weil sie die Handlung in Briefen erzählt. Trotzdem lernt man über die Mutter auch den Täter kennen, aber nicht unbedingt verstehen. Dies kann auch eine doppelte Einfühlung ermöglichen. Die Hauptperspektive ist aber bei der Mutter. Das macht das Buch besonders und das ist auch der Grund, warum es immer wieder viel besprochen wurde. Hier ist die Debatte über die Schuld der Mutter an den Taten des späteren School-Shooters als gesellschaftlicher Erklärungsversuch zentral.

Es wird auch ein Tabu angesprochen. Die Mutter von Kevin ist von Anfang an unglücklich in ihrer Mutterrolle. Man kann ihr wohl eine postnatale Depression zuschreiben.

Solche ungewöhnlich schwierigen oder sogar tabuisierten Themen aufzugreifen und zu erforschen, welche Gefühle und Gedanken hier herrschen – etwa bei der Mutter, die keine sein will –, das ist in dieser drastischen Form nur in Romanen und Filmen möglich. Hier kann die Fiktion den Diskurs zu den schockierenden Taten bereichern. Denn wir können auch Perspektiven einnehmen, die wir uns sonst nicht trauen würden.

Gibt es einen Film, den Sie empfehlen können?

Herausragend ist hier Elephant von Gus Van Sant aus dem Jahr 2003. Der Film wirkt in Teilen dokumentarisch, dabei bezieht er sich im Tatablauf frei auf den Amoklauf an der Columbine High School. Hier folgt die Kamera den ganzen Film über verschiedenen Jugendlichen an einem Tag an einer Schule, an dem sich später ein School-Shooting ereignen wird. Man folgt den Protagonisten durch diese Gänge und erlebt so viele Perspektiven der Jugendlichen als Beobachterin mit.

Elephant greift alle gängigen Erklärungsmuster eines School-Shootings auf. Alles, was wir schon genannt haben und was gemeinhin als möglicher Hintergrund für so eine Tat diskutiert wird: Im Film sehen wir Jugendliche, die Gewaltcomputerspiele spielen, da werden sich Hitler-Dokumentationen angeschaut, wir sehen Mobbing in der Schule, einen betrunkenen Vater, der die Elternrolle nicht wahrnehmen kann–das wird alles in den Raum geschmissen. Aber nichts davon führt letztlich in der filmischen Erzählung zu irgendeiner Form der Erklärung. Nichts davon greift. Damit wird diese gesellschaftliche Debatte um diese Taten interessant reflektiert und kritisiert, und das auf eine sensible Art und Weise.

Silke Braselmanns Dissertation zur Rolle der Fiktion bei Schulamokläufen wurde 2018 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichnet. Ihr Buch The Fictional Dimension of the School Shooting Discourse. Approaching the Inexplicable ist 2019 bei DeGruyter erschienen

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2020: Bilder der Kindheit