„Die Menschen glauben, dass dadurch Leben gerettet würden“

​Babyklappen sollen Neugeborene davor bewahren, ­ausgesetzt oder getötet zu werden – aber funktioniert das auch?

Ein Baby, das aus einer Babyklappe gerettet wurde, liegt gut angezogen und zufrieden da
Es besteht kein Nachweis, dass Babyklappen tatsächlich die Zahl an Neugeborenentötungen verringern. © Westend61/Getty Images

Frau Krell, vor 20 Jahren wurde die erste Babyklappe in Hamburg eröffnet. Was war der Anlass dafür, diese Einrichtung zu schaffen?

Ausschlaggebend für diese Babyklappe und für viele Angebote, die später folgten, war, dass in der Region wiederholt tote Neugeborene gefunden wurden. Die Idee war, Angebote zu schaffen, die solche Todesfälle verhindern.

Die Babyklappen haben in der Öffentlichkeit einen guten Ruf. Der Deutsche Ethikrat und das Kinderhilfswerk Terre des Hommes lehnen sie jedoch vehement ab. Was ist…

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Ruf. Der Deutsche Ethikrat und das Kinderhilfswerk Terre des Hommes lehnen sie jedoch vehement ab. Was ist da los?

Die Babyklappen haben deshalb einen guten Ruf, weil die Menschen glauben, dass dadurch Leben von Kindern gerettet würden. Das ist es auch, was viele Anbieter, also die Wohlfahrtsverbände, Jugendhilfeeinrichtungen, kirchlichen Träger oder privaten Einrichtungen sagen. Was der Ethikrat und das Kinderhilfswerk dem entgegengehalten, ist, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Kinder, die in der Babyklappe gefunden werden, andernfalls ausgesetzt oder getötet worden wären. Kritiker sagen auch, dass es für die Kinder in den Klappen andere Optionen gegeben hätte, die ihnen ermöglicht hätten, mit dem Wissen um ihre Herkunft aufzuwachsen.

Ist denn das Ziel, weitere Neugeborenen-Tötungen zu verhindern, nicht erreicht worden?

Das kann man nicht genau sagen, denn es gibt in Deutschland keine Statistik, die aufschlüsselt, wie viele getötete Neugeborene es pro Jahr gibt. Die Polizeiliche Kriminalstatistik fasst Fälle von getöteten Kindern zwischen null und sechs Jahren zusammen und differenziert nicht. Man muss sich hier also auf Medienanalysen verlassen. Terre des Hommes erstellt diese seit vielen Jahren. Für den Zeitraum von 2006 bis 2018 lässt sich diesen Analysen zufolge nicht sagen, dass es mit der Einführung eines bestimmten Angebots einen deutlichen Rückgang an Neugeborenen-Tötungen gegeben hätte.

Sie haben vor knapp zehn Jahren mit dem Deutschen Jugendinstitut eine umfangreiche Studie zu Babyklappen durchgeführt, Anbieter und Jugendämter dazu befragt. Was war der Anstoß für die Untersuchung?

Bis dato gab es keine umfassenden Informationen, wie diese anonymen Angebote funktionieren, wie viele davon aktuell existieren, ob es Kooperationen zwischen Jugendämtern und den Anbietern gibt und an welchen Stellen sie Behörden einbeziehen. Seit zehn Jahren gab es Angebote, bei denen es um neugeborene Kinder geht, und niemand wusste, was dort eigentlich passiert.

Irritierend.

Durchaus. Normalerweise wird jeder Apfel, der nach Deutschland kommt, verzeichnet und seine Herkunft ist bis zum Baum, an dem er hing, nachvollziehbar. Gleichzeitig ist es möglich, dass es für Angebote, in denen es um die Situation von Kindern und von Müttern geht, die aus einer Notlage heraus ihre Neugeborenen abgeben, zehn Jahre lang keine Regelungen gibt, etwa ab wann Behörden eingeschaltet werden müssen.

Hat sich da nach Ihrer Studie etwas verändert?

Es gibt seither ein Angebot, das gesetzlich verankert, dass Frauen über Beratungsstellen und Behörden unterstützt werden können, wenn sie ein Kind anonym zur Welt bringen und abgeben möchten. Unsere Erhebung bot dafür die empirische Grundlage. Die Idee war, dass Babyklappen dadurch irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Tatsächlich haben aber seit der Einführung der vertraulichen Geburt weitere Babyklappen geöffnet. Für die Einrichtungen gibt es weiterhin keine Pflicht zur Meldung, wenn ein Kind dort abgelegt wurde. Man kann nach wie vor nicht nachvollziehen, was dort geschieht. Es zeigt sich auch, dass diese Angebote weiterhin genutzt werden. Ebenso wie es noch immer neugeborene Kinder gibt, die ausgesetzt oder getötet werden.

Es gibt also unverändert solche tragischen Todes­fälle von Neugeborenen. Erreichen Babyklappen denn die Frauen, die sie erreichen wollen, nicht?

Das scheint so zu sein. Da gab es vor einiger Zeit einen Fall, der die Dynamik gut veranschaulicht: Das war eine Frau, die mit ihrem gewalttätigen Lebensgefährten in Berlin gelebt hat. Dort gibt es zahlreiche Hilfsangebote und auch mehrere Babyklappen. Die Frau hat ihre Schwangerschaft vor dem Partner verheimlicht, das Kind daheim zur Welt gebracht, während der Lebensgefährte im Nebenzimmer war. In ihrer Verzweiflung, weil er es nicht mitbekommen sollte, hat sie das Neugeborene aus dem Fenster im fünften Stock geworfen.

Die Frage ist: Wie kann man Menschen erreichen, die in solch prekären Situationen leben? Das ist bisher noch immer unklar. Möglicherweise gibt es auch Frauen, die man durch keinerlei Angebot erreichen kann. Es gibt Untersuchungen, in denen Frauen befragt wurden, die ihre Kinder getötet hatten. Da hat sich gezeigt, dass sie einfach oft nicht die Fähigkeiten hatten, sich der Herausforderung „Schwangerschaft und Geburt“ zu stellen und nach einem adäquaten Weg zu suchen.

Wer sind denn dann die Frauen, die eine Babyklappe nutzen?

Unsere Studie hat gezeigt, dass die Frauen aus allen Alters- und Bildungsgruppen sowie aus diversen ­Familienkonstellationen kommen. Da gibt es junge Migrantinnen ebenso wie Akademikerinnen Mitte vierzig. Manche leben bei ihren Eltern, andere mit Partner oder allein. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre Situation als ausweglos empfinden und niemanden haben, mit dem sie darüber sprechen können. Viele haben Ängste, etwa davor, durch das Kind den Arbeitsplatz zu verlieren, vor Sanktionen der Familie, vor Konflikten in der Partnerschaft. Die meisten googeln dann.

Beim Stichwort „ungewollte Schwangerschaft“ erscheinen zuerst Informationen zu einem Schwangerschaftsabbruch. Für die meisten ist es dafür schon zu spät. Als Nächstes steht dann oftmals schon „Babyklappe“ in den Suchergebnissen. Und wenn die Frauen diese vermeintlich gute Lösung gefunden haben, dann entwickeln viele einen Tunnelblick und schauen nicht mehr nach Alternativen. Die Klappe suggeriert, dass sie ihr Kind dort hingeben können und dann die Situation wieder wie vor der Schwangerschaft ist. Das Problem scheint mit der Abgabe für den Moment gelöst. Was es langfristig mit ihnen macht, darüber kann man bislang nur spekulieren.

Durch Ihre Untersuchung bekamen Sie auch einen Eindruck davon, wie die Klappen ausgestattet sind.

Zumeist befinden sie sich in einem Anbau, etwa an der Rückseite einer Klinik oder einer Jugendhilfeeinrichtung. Sie haben meist eine kleine Tür, wie bei einem Backofen, dahinter ein gewärmtes Bettchen für das Kind. Die meisten Anbieter legen für die Mütter Informationen in die Klappe, wie es nach der Abgabe weitergeht oder auch wie sie Kontakt aufneh­men können, falls sie zum Beispiel ihr Kind zurücknehmen möchten.

Es gibt allerdings keine einheitlichen Maßstäbe, wie Babyklappen auszusehen haben. Wir haben auch schon eine Babyklappe an einem Privathaus gesehen, in einem Windfang stand dort ein Kinderbettchen. Da und auch bei den Jugendhilfeeinrichtungen ist fraglich, wie schnell hier eine gesundheitliche Versorgung möglich ist. Denn wir wissen, dass manche Kinder in einer schlechten Verfassung abgelegt werden.

Was geschieht mit dem Kind, direkt nachdem es in der Klappe abgelegt wurde?

In zahlreichen Einrichtungen wird ein Signal ausgelöst und eine Person, die damit beauftragt ist, die Klappe zu betreuen, geht zum Abgabeort und nimmt das Kind heraus. Sind die Anbieter an eine Klinik angeschlossen, wird das Kind dort untersucht. Einige Einrichtungen informieren sofort das Jugendamt und klären gemeinsam mit den Behörden, wie es weitergeht. Andere melden das Kind erst nach ein bis zwei Monaten. Oftmals werden die Kinder für acht Wochen in eine Pflegefamilie vermittelt, in dieser Zeit können sich die Mütter melden und um die Rückgabe des Kindes bitten. Rechtlich gesehen können sie das jederzeit, auch nach dieser Frist. Melden sich die Mütter nicht, kommen die Kinder in eine Adoptivfamilie. Bei anderen anonymen Angeboten mit Beratungen melden sich öfter mal Mütter nach der Abgabe, bei Babyklappen ist das seltener.

Wieso?

Bei der vertraulichen Geburt etwa gehören mehrere Beratungstermine dazu, in denen die Frauen erfahren, welche weiteren Möglichkeiten und Hilfsoptionen es noch für sie gibt, zum Beispiel eine reguläre Adoption. Die Beraterinnen begleiten die Mutter während des ganzen Prozesses – zum Teil bis zur Geburt – und können Ängste und Sorgen auffangen. Die Frauen lernen: Ich bin in einer schwierigen Situation, aber es gibt Menschen, die mich unterstützen. Das macht ganz viel aus. Bei Babyklappen entfällt diese Hilfsmöglichkeit komplett.

Mit welchen Folgen?

In der Klappe liegen ja meist nur ein paar Informationszettel. Tatsächlich bleiben die Frauen aber allein und es ändert sich nichts an den Ursachen für die Abgabe des Kindes und den Lebensumständen der Frauen. Es gab wiederholt Fälle, bei denen nacheinander Geschwister in der Babyklappe abgegeben oder ausgesetzt wurden. Das bedeutet, dass sich für die Frau in ihrer Situation nichts geändert hatte, sie fand keine andere Lösung und brachte alle ein oder zwei Jahre ein neues Kind in die Klappe. Eine Beratung hätte dieser Frau vermutlich mehr geholfen.

Was bedeutet es langfristig für die Kinder, in ei­ner Babyklappe abgegeben worden zu sein?

Man weiß nur sehr wenig über sie. Ich habe für meine Dissertation mit Adoptiveltern von Babyklappenkindern gesprochen. Je älter die Kinder waren, desto bedeutsamer wurde das Thema der Herkunft. Wichtig ist, dass die Kinder von Beginn an wissen, wie ihre Entstehungsgeschichte ist. Kinder können gut mit dieser Offenheit leben. Sie wissen dann, dass sie eine Bauchmama haben, die sie geboren hat, und die Mama, bei der sie jetzt leben.

Bei vielen kommen mit dem Alter aber die Fragen auf: Warum hat sie mich abgegeben? War ich so wenig liebenswert? Wenn die Adoptiveltern keine Informationen über die leiblichen Eltern haben, dann ist das für Kinder schon sehr schwierig. Das bleibt ein Punkt in den Biografien, der lange wirkt. Nicht herausfinden zu können, wo die eigenen Wurzeln liegen, ist für den einen schwieriger, für den anderen weniger. Aber es bleibt ein großer Verlust für die meisten.

Lässt sich das auffangen?

Die Pflegefamilien und Begleiter versuchen, den Kindern eine Geschichte mitzugeben. Sie erfahren, wie sie zu ihrem Namen kamen. Oftmals hat der etwas mit der Einrichtung zu tun, wo die Babyklappe in­stalliert war. Wenn Mütter einen Brief dagelassen haben oder einen Namen, ist das natürlich schön für die Kinder. Allerdings ist das selten. Manche Pflegeeltern oder Betreiber der Klappen legen für die Kinder Bücher über die Auffindesituation und die ersten Tage in der Klinik oder Pflegefamilie an. Über all diese Maßnahmen erhalten die Kinder einen Teil ihrer Identität, der ihnen woanders fehlt.

Kinder ohne Herkunft, wenig gesetzliche Vorgaben, eine unerreichte Zielgruppe – aus Fachkreisen wurden daher mehrfach Stimmen laut, die Babyklappen wieder abzuschaffen.

Babyklappen unterstützen leider weder die Frauen noch schützen sie das Kind. Aber nur zu sagen: „Die Babyklappe muss weg“, das funktioniert nicht. Es braucht einen gesellschaftlichen Prozess. Wir müssen vertrauliche Geburten und all die anderen Möglichkeiten bekannter machen. Dazu ist umfassende Öffentlichkeitsarbeit nötig. Mein Wunsch wäre zudem, dass bereits in der Schulbildung Mädchen und Jungen gelehrt wird, wohin sie sich in Krisen wenden können.

Das Netzwerk von Beratungseinrichtungen ist so gut ausgebaut, dass es für Frauen in Krisensituationen genügend Anlaufstellen gibt. Sie sind oft nur zu wenig bekannt. Zugleich herrscht Angst vor den Behörden. Wir sollten daran arbeiten, das Image des Jugendamtes zu verbessern, so dass es nicht als Feind wahrgenommen wird. Das Jugend- wie das Sozialamt bieten vielfältige Hilfen an – sei es finanzieller Art, Erziehungshilfen oder Beratungen. An vielen Stellen brauchen wir einfach ein Umdenken.

Wo noch?

Wir müssen der Adoption das Stigma nehmen, noch immer gelten Eltern, die ihre Kinder zur Adoption freigeben, als Rabeneltern. Dazu gehört auch: Nicht jede Frau, die ein Kind bekommt, kann oder will Mutter sein – und sie muss es auch nicht. Es gibt in Deutschland deutlich bessere Lösungen, als ein Kind über die Babyklappe abzugeben. Und die allermeisten Frauen wären vermutlich in der Lage, unter bestimmten Bedingungen auf adäquate Hilfsangebote zurückzugreifen. Diese Bedingungen gilt es zu schaffen.

Claudia Krell forscht als Diplompsycho­login am Deutschen Jugendinstitut. Sie leitete gemeinsam mit Joelle Coutinho vor zehn Jahren die erste umfassende Untersuchung über Babyklappen, die vom Bundesfamilienministerium gefördert wurde

Erschütternd wenig Daten

Babyklappen sind ein Angebot an Frauen in Krisen-situationen. Sie können dort nach der Geburt anonym ihr neugeborenes Kind abgeben. 

Wie viele Babyklappen es in Deutschland gibt, dazu existieren keine aktuellen Erhebungen. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) zählte im Jahr 2010 bundesweit 90 Babyklappen. Auch für die abgegebenen Kinder gibt es keine durchgehende Statistik. Die DJI-Studie ver­merkt bis 2010 insgesamt 278 Kinder, die in den Baby­klappen abgelegt wurden. Bei allen Zahlen bezieht sich das DJI auf freiwillige Angaben von Jugendämtern und Anbietern anonymer Angebote. 

Die Zahl der tot aufgefundenen Neugeborenen schwankt nach Erhebungen von Terre des Hommes von Jahr zu Jahr. Die aktuelle Statistik des Kinderhilfswerk umfasst den Zeitraum 2006 bis 2018. Demnach waren es 2006 32 Fälle, 2010 mit 14 deutlich weniger, aber 2015 mit 22 wieder mehr. Polizeiliche Erhebungen dazu gibt es nicht.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 4/2020: Mein wunder Punkt