Als der ehemalige niederländische Psychologieprofessor Diederik Stapel im Jahr 2011 der Fälschung von über 50 Studien überführt wurde, kam die Psychologie als Wissenschaft ins Wanken – ein renommierter Kollege, der an zwei Universitäten hochrangige Posten besetzte, hatte Daten manipuliert und sich sogar Probanden ausgedacht, um spektakuläre Thesen zu bestätigen. Ein Einzelfall oder Alltag im Wissenschaftsbetrieb?
Forscher vom Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation in Trier haben…
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Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation in Trier haben diese Fragen 2019 untersucht: Sie sezierten dafür die gesamte psychologische Forschungslandschaft zwischen 1860 und 2017. Innerhalb dieser mehr als 150 Jahre wurden nur rund 250 Studien, die in namhaften Wissenschaftsjournalen erschienen waren, aufgrund von wissenschaftlichem Fehlverhalten der Autoren zurückgezogen, das sind pro 10000 Studienartikel 0,82 Fehltritte, die entdeckt wurden.
Dabei sticht die jüngste Psychologie heraus: Fürs Jahr 2000 verzeichneten die Psychologen pro 10000 Studien noch 0,5 wahrscheinlich gefälschte, 2005 lag dieser Anteil schon doppelt so hoch und stieg im Jahr 2011 stark an auf knapp 3,0.
Replikationskrise
Zu Betrugsmeldungen gesellt sich ein weiteres Problem: Beinahe die Hälfte der psychologischen Forschungsergebnisse lässt sich nicht wiederholen. Dies fand ein Forscherkollektiv von 186 Wissenschaftlern aus 36 Nationen heraus. Sie hatten sich zusammengetan, um in dem Projekt Many Labs 2 namhafte Untersuchungen in einer Neuauflage zu wiederholen. Dabei hielten sie sich strikt an die Abläufe der Originalstudien.
Sind dies alles Anzeichen einer Krise? „Ja, die Psychologie steckt in einer Krise. Sie geht aber mittlerweile sehr offensiv mit Problemen wie einer fehlenden Replizierbarkeit und – in einigen wenigen Fällen – auch wissenschaftlich fragwürdiger Praktiken um“, sagt Johannes Stricker, einer der Autoren der Trierer Studie.
Die Replikationsproblematik gilt unter Psychologen eher als typisches Abbild von Forschung. „Daran zu scheitern, eine Studie nachzubilden, ist Teil der gewöhnlichen Wissenschaft“, heißt es in einer Pressemitteilung des Many Labs 2-Projektes. „Forscher untersuchen das Unbekannte. Wenn neues Wissen generiert wird, gibt es immer auch Fehlstarts.“
Der Psychologe Stricker aus Trier betont, dass in der Psychologie heute rigorosere wissenschaftliche Methoden verwendet würden als vor einigen Jahren. Eine fehlgeschlagene Replikation habe deshalb meist wenig mit fragwürdigen Forschungspraktiken zu tun, sondern vielmehr mit der Weiterentwicklung psychologischer Forschung.
Fehlverhalten ging wieder zurück
Der Neuropsychologe Chris Chambers von der Cardiff University veröffentlichte 2017 das Buch The Seven Deadly Sins of Psychology, ein Manifest zur Reformierung der wissenschaftlichen Praxis in diesem Forschungsfeld. Chambers moniert darin sieben Todsünden, die Psychologen begehen, wie etwa die Unzuverlässigkeit von Befunden, zu viel Erbsenzählerei aber auch Bestechlichkeit.
Würden diese Handlungsweisen nicht behoben, warnte Chris Chambers, mache sich die Wissenschaft selbst überflüssig. Sein Aufruf trug Früchte: Die British Psychological Society zeichnete ihn für seinen Vorstoß aus und 2019 beschrieb er, wie viel sich in den vergangenen zwei Jahren in der psychologischen Forschung verändert habe – sie habe eine noch nie erlebte Transformation durchlaufen: „Die Renaissance geschieht direkt vor unseren Augen.“
Das beobachtet auch Stricker. Zum einen ist laut seiner Studie die Zahl der Rückrufe wegen Fehlverhaltens seit 2011 ebenso rasant zurückgegangen, wie sie vorher in die Höhe geschnellt war. Zugleich seien in den vergangenen Jahren zahlreiche Initiativen auf den Weg gebracht worden, um psychologische Forschung transparenter, robuster und generalisierbarer zu gestalten. „Die Psychologie treibt weltweit Open Science voran und Systeme, die ein wissenschaftliches Fehlverhalten erschweren“, sagt Stricker.
Die Stärkung von Nullbefunden
Open Science ermögliche, Studien von Kollegen besser nachvollziehen und auch die Daten überprüfen zu können, weil sie allen zur Verfügung gestellt werden. Der Trend gehe zudem zur Präregistrierung. Forscher legen dabei ihr gesamtes Studienvorgehen, ihre Hypothesen und den Plan für die statistische Auswertung bereits offen, bevor sie mit einer Untersuchung beginnen.
Fachjournale können zudem eine Veröffentlichung der Studie vorab zusagen, unabhängig davon, was dann tatsächlich herauskommt. „Das erleichtert die Veröffentlichung von Nullbefunden, die ebenfalls wichtige Erkenntnisse bringen können. Das verhindert auch, dass fragwürdige Maßnahmen ergriffen werden, um signifikante Ergebnisse zu erzielen und die Publikation zu sichern“, erklärt der Psychologe aus Trier.
Die Ursachen für wissenschaftliches Fehlverhalten sieht Stricker aber auch an einer anderen zentralen Stelle: „Das Wissenschaftssystem übt großen Druck vor allem auf junge Wissenschaftler aus“, betont er. Diese erhielten oft nur Jahresverträge und müssten möglichst viele Publikationen in Fachjournalen vorweisen, um voranzukommen. Drastisches und so nicht erklärbares Fehlverhalten wie das von Diederik Stapel und anderen hat die wissenschaftliche Psychologie jedenfalls aufgerüttelt. Statt in einer Krise zu verharren, versucht die Disziplin, sich von unseriöser Forschung zu befreien und gar mit Vorbildcharakter aus ihr herauszukommen.
Johannes Stricker, Armin Günther: Scientific misconduct in psychology. A systematic review of prevalence estimates and new empirical data. Zeitschrift für Psychologie, 227/1, 2019, 53–63
Richard Klein u.a.: Many Labs 2: Investigating variation in replicability across sample and setting. DOI: 10.31234/osf.io/9654g
Chris Chambers: The seven deadly sins of psychology. A manifesto for reforming the culture of scientific practice. Princeton University Press, Princeton, Woodstock 2017