Herr Keil, weshalb beschäftigen Sie sich als Psychologe mit den Reichsbürgern?
In Brandenburg gab es 2013 einen Fall, bei dem sich ein Reichsbürger das Leben nahm. In seinem Abschiedsbrief behauptete er, dass er nun eine Zeitreise durch die Matrix mache und in Gestalt eines NS-Soldaten ins „Dritte Reich“ gehe, um dort den Gang der Geschichte zu beeinflussen. Die Polizeibeamten, die mit dem Fall betraut waren, glaubten, dass da mehr dahintersteckte als eine politische Ideologie. Ich wurde gebeten, das…
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betraut waren, glaubten, dass da mehr dahintersteckte als eine politische Ideologie. Ich wurde gebeten, das aufzuarbeiten, und habe mich damals das erste Mal ausführlich mit einer Biografie eines Reichsbürgers befasst.
Was ergab Ihre Analyse?
Dieser Reichsbürger war psychisch erkrankt, er hatte eine wahnhafte Störung entwickelt, wie auch frühere Akten von einem Klinikaufenthalt ergaben. Die Erkrankung hat ihn bis in den Suizid getrieben.
Ist das denn ein typischer Fall, ein wahnhafter Reichsbürger?
Nein, dieser Fall war besonders. Bei meiner Arbeit für die Abteilung polizeilicher Staatsschutz des Landes Brandenburg treffe ich des öfteren auf sogenannte Reichsbürger, also auf Personen, die die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen, die als Vielschreiber versuchen, Behörden lahmzulegen, Steuern verweigern, Fantasiedokumente als Ausweise bei sich tragen. Aber man kann nicht sagen, dass alle wahnhaft krank sind. Wir haben es mit einer sehr gemischten Klientel zu tun, in der sehr unterschiedliche Motive auftreten, warum sie dieser Personengruppe angehören. Die einen vertreten schlichtweg die politische Ideologie, dass die Bundesrepublik Deutschland als solche nicht existiere, sondern zum Beispiel eine Firma sei, die seit dem Zweiten Weltkrieg von den ehemaligen Besatzungsmächten geleitet werde. Sie sind Querulanten, haben aber keine wahnhafte Störung. Bei ihnen nimmt die Identität als Reichsbürger aber im Sinne einer überwertigen Idee sehr viel Raum im Leben ein.
Und die anderen?
Es gibt Milieumanager, die dieser Klientel ihre Ausweise verkaufen, gegen Geld dubiose Hilfsangebote und Schulungen unterbreiten und Internetplattformen zur Verbreitung der Reichsbürgerideen zur Verfügung stellen. Dann gibt es Trittbrettfahrer, die ganz genau wissen, dass es sich hierbei nur um ein rhetorisches Rollenspiel handelt, mit dem sie sich gegen Finanzbeamte oder einen Gerichtsvollzieher wehren und durch das sie ein Machtgefühl erlangen können. Daneben gibt es Esoteriker, Steuersparer, Antisemiten, Rechtsextremisten, Gebietsrevisionisten – und eben auch ein paar psychisch Kranke. Letztere glauben wirklich, sie seien Reichskanzler, und sind aus dieser Vorstellung auch nicht mehr rauszuholen. Sie haben über die kollektive politische Wahnidee der Reichsbürger einen individuell ausgeprägten Wahn entwickelt.
Wie viele Reichsbürger zählen zu dieser Gruppe?
Ungefähr ein Fünftel der Reichsbürger, denen ich in meiner Arbeit beim Staatsschutz begegne, ist kurz vor dem Ausbruch einer Erkrankung oder psychisch erkrankt. Aber das ist natürlich eine selektierte Stichprobe, weil ich meist nur denen begegne, die schon so lange in diesem Milieu sind und sich in ihrem Kampf mit Behörden und auch in ihrer biografischen Situation so stark verstrickt haben, dass sie schlussendlich in Konflikt mit der Polizei stehen. Bei diesen Menschen ist natürlich die Wahrscheinlichkeit für eine psychische Erkrankung erhöht.
Was meinen Sie mit stark verstrickt?
Diese Menschen sind am Ende eines langen Weges, sie haben meist immense Schulden und stecken zusätzlich noch in anderen persönlichen Krisen, sind auf der Suche nach Sinn und Ordnung oder bemühen sich, wieder Kontrolle in ihrem Leben zu erlangen. Zu diesem Zeitpunkt treffen sie auf die Polizei. Wenn jemand beispielsweise einen nichtsahnenden Gerichtsvollzieher, der Steuern einholen will, mit seiner Reichsbürgerhaltung überrumpelt und der Beamte deshalb ohne Erfolg wieder geht – die Person also an dem Tag keine Schulden zahlen musste –, ist das zunächst einmal für ihre Psyche funktional. Der Reichsbürger erfährt sich als kompetent, hat das Gefühl, die Situation zu kontrollieren, und hat erreicht, was er wollte: den Zahlungsaufschub. Dass der Gerichtsvollzieher noch zweimal wiederkommt, beim dritten Mal die Polizei mitbringt und dann Verzugszinsen hinzukommen und sich das Problem nicht verkleinert, sehen die Menschen in diesem Moment nicht. Die Situation kann sich zuspitzen, eine vielleicht schon vorhandene Erkrankung oder Krise voranschreiten, so dass sich am Ende ein Wahn entwickelt, wo am Anfang nur eine politische Idee stand.
Sie haben zahlreiche Biografien von Reichsbürgern analysiert. Was haben Sie noch herausgefunden?
Die Reichsbürger sind völlig anders als durchschnittliche politisch motivierte Straftäter, vor allem weil sie viel älter sind. Wir haben es mit einer Radikalisierung in der zweiten Lebenshälfte zu tun. Zum Vergleich: Der normale politisch motivierte Straftäter, also ein Linksextremist, Rechtsextremist oder religiös motivierter Terrorist, ist in der Regel ein junger Mann zwischen 15 und 25 Jahren auf der Sinnsuche. Er will die Gesellschaft verändern und die Welt aus den Angeln heben. Die meisten kommen aber nach ihrer Sturm-und-Drang-Phase in das Fahrwasser einer normalbürgerlichen Biografie zurück, gehen eine dauerhafte Beziehung ein, ergreifen einen Beruf, haben Kinder. Diese Entwicklungsaufgaben des mittleren Lebensalters wirken per se deradikalisierend.
Wie läuft das bei Reichsbürgern?
Ganz anders. Die Menschen die dort einsteigen, sind oft in einer biografischen, einer narzisstischen oder auch materiellen Krise. Der typische Reichsbürger hat seinen Beruf schon beendet, die Karriere ist vorbei, er muss oftmals mit einem Bedeutungsverlust umgehen. Die Person ist beispielsweise nicht mehr der Elitesoldat, der die Welt rettet, sondern ist mit 45 Jahren plötzlich zu alt für gefährliche Spezialaufträge im Ausland. Er geht auf Sinnsuche. Vielleicht hat er sich durch irgendein Pech finanziell an der Börse verzockt, hat unerwartet zwei Pflegefälle in der Familie – und immensen materiellen Druck. Und da tritt dann einer von außen an ihn ran und sagt: „Steuern musst du doch gar nicht zahlen. Die Bundesrepublik existiert doch gar nicht. Da kann ich dir etwas im Internet zeigen, das kopierst du dir, schickst es dem Finanzamt, der GEZ und so weiter.“ Das ist dann natürlich ein verlockendes Angebot.
Und ein Grund mitzumachen?
Ja, die Personen wollen nicht die Welt verändern, sie steigen aufgrund ihrer persönlichen Situation aus dem Gefüge aus. Sie sagen: „Ich möchte in dieser Bundesrepublik, in diesem Staat, in dem die Dinge so komplex sind und irgendwie anders laufen, als ich sie mir vorgestellt habe, da möchte ich nicht mehr Mitglied sein. Da möchte ich raus. Ich möchte jetzt in Ruhe gelassen werden.“ Sie brechen dann Stück für Stück die Brücken zu ihrem alten Leben ab und isolieren sich sozial nach und nach.
Sie sprachen von einer narzisstischen Krise. Was meinen Sie damit?
Ein anderer Begriff wäre Midlife-Crisis. Das ist per se nichts Ungewöhnliches und tritt auf, wenn man merkt, dass die Zeit, die vor einem liegt, geringer ist als die Zeit, die hinter einem liegt. Man zieht Bilanz – allerdings in diesen Fällen keine zufriedenstellende. Diese Menschen sind dann auf der Suche nach einer positiven Identität. Steckt so jemand zudem in einer Krise materieller oder biografischer Art, dann passieren zwei Dinge: Zum einen fangen die Personen an, einen Schuldigen dafür zu suchen, warum sie in diese Lage gekommen sind. Zum anderen fehlen die Ressourcen für eine positive Identitätsbildung. Sie grenzen sich deshalb ab: „Die Bundesrepublik Deutschland oder die BRD GmbH, da bin ich jetzt nicht mehr dabei. Ich bin jetzt mein eigener Herr und gründe meinen eigenen Staat.“
Sie erlangen die Ersatzidentität Reichsbürger.
Ja. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Der eine möchte Aufmerksamkeit bekommen als Kanzler oder König und ein bisschen Regierungschef spielen, der andere möchte keine Fernsehgebühr mehr zahlen oder von Steuerschulden runterkommen. Es gibt Rollenspieler, die einfach nur Sand im Getriebe sein wollen und genau wissen, dass Frau Merkel die rechtmäßig gewählte Kanzlerin dieses Staates ist. Wieder andere definieren sich über den Krieg mit Behörden, leben ihren Querulantenwahn aus. Wir haben gebietsrevisionistische Rechtsextremisten, die die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkennen und sich meistens ein Deutsches Reich in den Grenzen von 1937 vorstellen. Dann haben wir ein Milieu, das ins Esoterische geht, solche Dinge wie eine germanische Baummedizin predigt und eher sektiererisch agiert.
Ist das nicht alles sehr simpel gedacht?
Ja, aber darum geht es ja gerade. Die Sichtweise der Reichsbürger reduziert die Komplexität der Realität um sie herum. Wir haben es oft mit Menschen zu tun, die in einer für sie unübersichtlichen Welt leben, die in ihren Augen nicht gerecht und für sie schwer zu ertragen ist. Zugleich wollen sie verstehen, was um sie herum geschieht, also entwickeln sie sogenannte Pseudo-Kontrollüberzeugungen. Das kann man sich wie eine Art Pippi-Langstrumpf-Prinzip vorstellen: Sie machen sich die Welt, wie sie ihnen gefällt. Die Reichsbürger sagen also: „Ich hänge jetzt ein Schild an meine Wohnungstür, Königreich XY, mit meinem Namen. Hier bestimme ich, was passiert.“ Tatsächlich gibt es aktuell ungefähr 35 selbsternannte Reichskanzler.
Die Menschen wenden sich in ihrer Krise einer Ideologie zu, die ihnen Wirkmächtigkeit zurückgibt und den Mächtigen die Wirkmächtigkeit abspricht. Indem sie behaupten: „Die Frau Merkel, die kann gar nichts, die ist nicht regulär im Amt, die hat hier nichts zu sagen“, erhöhen sie sich selbst und begeben sich in eine Illusion der Autarkie.
Reichsbürger zu sein tut also der Seele gut?
Man muss anerkennen, dass es eigentlich Menschen sind, die aus psychohygienisch nachvollziehbaren Gründen versuchen, in ihrem Leben wieder Ordnung zu schaffen, etwa indem sie Zahlungsverzug erzeugen, indem sie sich ein soziales Umfeld wählen, von dem sie sich Hilfe erhoffen. Das sind ganz normale psychische Prozesse. Sich Hilfe zu suchen, würden wir erst mal sagen, ist gesund. Wenn man so darauf schaut, ist es gar nicht so banal und bekloppt, was die Menschen da tun.
Lehnen Sie es deshalb ab, Reichsbürger nur als Spinner abzutun?
Reichsbürger sind beliebt bei Satiresendungen wie der heute-show und extra 3. Eine Zeitlang kamen sie in jedem Tatort vor, weil sie so kurios sind. Das macht einfach ein gutes Drehbuch und gute Gags. Aber die Personen werden verkürzt als Verrückte dargestellt und man übersieht dabei das persönliche Leid. Man übersieht, dass da Leute sind, die mit ihrem Leben kämpfen, die verzweifelt versuchen, Lösungen für ihre Probleme zu finden, und die eventuell auch psychisch erkrankt sind.
Haben Sie Mitgefühl mit Reichsbürgern?
Ich kann mich nur bis zu einem gewissen Grad in diese Klientel einfühlen. Denn an erster Stelle bin ich Kriminalpsychologe und strafverfolgend im polizeilichen Staatsschutz tätig. Mir geht es darum, Täter zu fassen und dingfest zu machen. Wenn ein Reichsbürger öffentlich den Holocaust leugnet, möchte ich ihn auch dafür bestraft sehen. Aber mir ist wichtig, dass man nicht alle Täter über einen Kamm schert. Als Kriminalpsychologe mache ich mir Gedanken darüber, wie die Problematik entstanden sein kann.
Ich denke aber auch an eine Opfergruppe, die unter den Reichsbürgern leidet, nämlich die Kommunalkassenverwalter, die Gerichtsvollzieher und all die Mitarbeiter der Ordnungsämter, die einfach ihren Job für diese Gesellschaft machen wollen, in der Regel dabei keinen Polizeischutz haben und dann von Reichsbürgern bedroht werden.
Wie gefährlich sind Reichsbürger denn?
Wir haben es mit Extremismus zu tun, wenn auch einem atypischen. Wenn ich sage, die Bundesrepublik existiert nicht und ich halte mich nicht an ihre Gesetze, ist das Extremismus sui generis. Sie sind eine Belastung für Finanz- und Verwaltungsbeamte, für Gerichte. Der Staat braucht einen souveränen Umgang mit dieser Klientel. Ich würde aber davor warnen, dass man sie in ihrer Gefährlichkeit und Relevanz überschätzt. Es gab zwei gewalttätige Vorfälle in den vergangenen Jahren, aber das heißt nicht, dass das Aufeinandertreffen mit Reichsbürgern in der Regel mit einer Schießerei endet. Sie versuchen, durch Papierkrieg Zahlungen hinauszuzögern, greifen dabei auch mal zur Bedrohung oder Erpressung. 99 Prozent von ihnen sind aber nur verbal aggressiv, nicht tätlich.
Was ist mit dem Rechtsextremismus unter den Reichsbürgern?
Reichsbürger sind nur ein Randphänomen im deutschen Rechtsextremismus. Wir schätzen, dass es aktuell 20000 Reichsbürger in Deutschland gibt. Im Gegensatz zu anderen politisch motivierten Straftätern treiben die Reichsbürger eher persönliche Motivlagen an. Deswegen sind sie in politischer Hinsicht nicht so bewegungsaffin, sie organisieren sich seltener untereinander, gründen in dem Sinne keine politische Bewegung. Sie sind sozusagen das schillernde Fettauge, das auf der rechtspopulistischen Welle mitschwimmt.
Auf Anti-Corona-Demos sieht man sie aber auch.
Das stimmt, doch die Mehrzahl sind Demonstranten, die sich für ihre Zwecke einzelne Fragmente des Reichsbürgersprechs aneignen, um damit dann ihre eigentlichen Ziele wie etwa Impfgegnerschaft zu garnieren. Der echte Reichsbürger bleibt vom Typus her in der Regel lieber zu Hause, dreht YouTube-Videos, schreibt ellenlange Blogs und sendet der Behörde verquaste Faxe und Briefe.
PH
Interview: Jana Hauschild
Jan-Gerrit Keil ist Kriminalpsychologe in der Abteilung polizeilicher Staatsschutz im Landeskriminalamt des Landes Brandenburg in Eberswalde. Er hat Datensätze und Biografien von mehr als 224 in Brandenburg polizeilich bekannten Reichsbürgern analysiert
Zum Weiterlesen
Jan-Gerrit Keil: Zwischen Wahn und Rollenspiel – das Phänomen der „Reichsbürger“ aus psychologischer Sicht. In: Dirk Wilking (Hg.): „Reichsbürger“. Ein Handbuch. Demos, Potsdam 2017 (3. Aufl.)
Die Menschen sind oft in einer biographischen, einer narzisstischen oder auch materiellen Krise
Die Ideologie gibt ihnen Wirkmächtigkeit zurück und spricht den Mächtigen die Wirkmächtigkeit ab