Ego – besoffen von sich selbst

So narzisstisch wie derzeit war die Menschheit noch nie, klagen Psychologen – und machen die sozialen Medien dafür verantwortlich.

Ein muskulöser Mann im Fitnessstudio mit Baseballkappe und Bart macht mit seinem Smartphone ein Selfie
Im Netz kann sich der neue Narzissmus wunderbar austoben. © Westend61/Getty Images

Lisa in der U-Bahn, in einem teuren Versace-Mini in der Umkleidekabine, gedankenverloren am Strand. Die Freunde der 22-jährigen Hamburger BWL-Studentin wissen immer, was sie gerade tut, wo sie war, wohin sie will. Sie postet weltmännisch „off to New York“, wenn sie in den Urlaub fliegt. Macht einen Schnappschuss von sich selbst, ein Selfie, von ihren sandigen Zehen in irgendeinem angesagten Beachclub oder einen mit Flüchtlingskindern, denen sie ein paar Spielzeuge vorbeigebracht hat. 87-mal Daumen hoch, 87…

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denen sie ein paar Spielzeuge vorbeigebracht hat. 87-mal Daumen hoch, 87 „Likes“ also heimste sie von ihren 542 Freunden für ihr letztes Bild ein. Außerdem jede Menge Komplimente wie „Du siehst so süß aus!“ oder „Bist meine Heldin!“. Natürlich postet Lisa nur bildschöne Selbstporträts, die sie notfalls per Photoshop noch schöner macht; natürlich überlegt sie sich genau, was sie postet. „Macht doch jeder so“, sagt Lisa. Und natürlich hat sie recht.

67 Prozent aller deutschen Internetnutzer sind laut einer Bitkom-Studie in sozialen Netzwerken aktiv – laut Ipsos-Umfrage im Durchschnitt 2,4 Stunden täglich. Die meisten haben eine eigene Seite mit Profilfoto, posten Links, Likes und ein Stück ihres Lebens – den Teil, den sie von sich sehen wollen, versteht sich. Sorgfältig wird da am eigenen Image herumgezupft, schadhafte Stellen werden ausgebessert, Schatten überschminkt. Die hohe Kunst der Selbstdarstellung – ein Meisterkurs von Facebook & Co? Keine Generation war je narzisstischer als die der heutigen Hauptnutzer von Facebook, ist Psychologieprofessorin Jean Twenge von der San Diego State University überzeugt. Sie glaubt auch: Facebook macht alles noch schlimmer.

Na gut, die Menschheit neigte noch nie zu Bescheidenheit – das gockelhafte Federspreizen liegt ihr im Blut: „Alle Menschen definieren sich in ihrem Selbstbewusstsein auch darüber, wie sie vom anderen wahrgenommen werden“, bestätigt Uwe Hasebrink, Psychologe und Direktor des Instituts für Medienforschung am Hans-Bredow-Institut der Universität Hamburg. Auch ein gewisser Hang zur Überheblichkeit und Selbstüberschätzung ist uns angeboren, weiß Sozialpsychologieprofessor Hans-Werner Bierhoff von der Ruhr-Universität Bochum. Wir wollen uns also im besten Lichte präsentieren, und warum sollten wir dabei auf Hilfestellung durchs Internet verzichten. „Soziale Medien“, erklärt Jan-Hinrik Schmidt, Experte für digitale interaktive Medien am Hamburger Hans-Bredow-Institut, „eröffnen Kommunikationsräume, die vorher nicht so leicht verfügbar waren.“ Heißt alles in allem: Der Acker ist zwar größer geworden, die Saat aber ist offenbar noch dieselbe. Es gibt allerdings ein Problem: Der Boden, auf den die Saat fällt, hat sich komplett geändert.

Öffentliche Selbstbeweihräucherung: früher peinlich, heute normal

Vor rund 20 Jahren galt zur Schau gestellte Selbstbeweihräucherung immerhin noch als peinlich. „Bei den Leuten, die sich trotzdem eine große Öffentlichkeit suchten, um sich zu produzieren, haben wir leicht gesagt: Meine Güte, was für ein Selbstdarsteller“, erinnert sich Jan-Hinrik Schmidt. Jährliche Weihnachtsrundbriefe, in denen die Schreiber ihren Freunden und entfernten Verwandten ausgiebig von ihren liebreizenden und gut geratenen Sprösslinge vorschwärmten, vom schicken Auto und Umzug ins größere Haus, nötigten die Empfänger schon mal zu Augenrollen. „Heute“, so Schmidt, „ist das so normal, dass es uns nicht mehr negativ auffällt.“

Aber warum hat die Selbstdarstellung so rasant zugenommen? „Böse könnte ich sagen: Es fing mit der Unterhaltungsshow Wetten, dass? an“, sagt Schmidt. Bis dahin unauffällige Bürger schafften es mit seltsamen Hobbys ins Fernsehen; Bühnen, bisher professionellen Künstlern vorbehalten, gehörten plötzlich jedermann, Aufmerksamkeit geriet zum Objekt der Begierde. Und Aufmerksamkeit bekommt, wer durch Besonderheiten auffällt. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir sehr aktiv unsere unverwechselbare Identität herausarbeiten und präsentieren müssen“, resümiert Schmidt. „Gerade junge Menschen in unserer wettbewerbsorientierten Gesellschaft werden früh damit konfrontiert, sich unterscheiden zu müssen – das unterstützt natürlich das Bedürfnis, darauf hinzuweisen, was man Tolles gemacht hat.“ Notfalls springen auch gerne Eltern ein, um auf die Einzigartigkeit ihres Sprösslings hinzuweisen, klagt Hans-Werner Bierhoff: „Viele Eltern sind heutzutage überzeugt, dass ihre Kinder hochbegabt sind und durch ihre Fähigkeiten etwas Besonderes. Auch das ist letztlich narzisstisches Denken: die Überschätzung des Ausmaßes.“ Eltern mit dieser Grundeinstellung verhätscheln ihren Nachwuchs schnell, belobigen für Nichtigkeiten. Damit, sagt der österreichische Psychiater Reinhard Haller, Autor des Buches Die Narzissmusfalle (Ecowin, Salzburg 2013), fördern Eltern den Narzissmus bei Kindern.

Wer etwas Besonderes ist, findet statt, existiert, hinterlässt Spuren. Das ist die Logik unserer Zeit. Für Jugendliche wiederum hat das Stattfinden und Bemerktwerden eine ganz eigene Dringlichkeit, ist Angela Tillmann vom Institut für Medienforschung Köln überzeugt: „Sie müssen eine eigene Identität ausbilden, und das ist ein Stück Entwicklungsarbeit.“ Nur sorgt der Zeitgeist in enger Umarmung mit den Möglichkeiten des Internets dafür, dass sie noch nie auf so hohem Level darum kämpfen mussten: Klar, die Youngster können Filme auf YouTube (Werbeslogan Broadcast yourself), Bilder auf Instagram oder Facebook, ihre Taten in Kommentaren, Onlinetagebüchern und Blogs unter die Leute bringen – aber weil das jeder macht, ist es schwieriger geworden, damit noch aufzufallen; die Latte liegt inzwischen ziemlich hoch. „Im Netz“, sagt Tillmann, „kommt es dann zu einer Art Überbietungslogik. Man versucht sich so zu inszenieren, dass man eher wahrgenommen wird als andere. Bilder, die man von sich selbst veröffentlicht, dienen dabei als Peer-Währung.“ Früher reichte Small Talk mit der Clique, heute muss man schon stärkere Kaliber auffahren: Ich-auf-der-Party-Bilder, Ich-Botschaften, Likes und ständige Feedbacksuche in den sozialen Netzwerken zum Beispiel. Und das Selfie – für die Psychiaterin Carole Lieberman aus Beverly Hills die perfekte Metapher für eine immer narzisstischer werdende Kultur: „Es ist ein verzweifelter Aufschrei nach Aufmerksamkeit im Stil von: Schaut mich an!“

„Wir erleben eine Ich-Inflation“

Selbstinszenierung im Netz, das ist Beziehungspflege und Selbstfindung zugleich. „Wir erleben eine Ich-Inflation“, resümiert Hans-Werner Bierhoff. Eine Beschäftigung mit dem Ego, in welcher Form auch immer. In der Gesellschaft an sich ist die Selbstdarstellung in Wort und Tat längst zum eigenständigen Wert angeschwollen, der sich mit der ständigen Betonung der Notwendigkeit von Selbstverwirklichung und dem Streben nach Individualismus zu einem hochmütigen Triumvirat zusammentut. Bescheidenheit und Zurückhaltung verkamen darunter im öffentlichen Bewusstsein gar zu Untugenden, stellt Reinhard Haller fest. Das Ego ist in ständiger Oktoberfeststimmung, leicht besoffen von sich selbst. In dieser Form, sind sich die Narzissmusforscher einig, gab es das noch nie. 1985 wies jeder siebte Student narzisstische Züge auf, sagt Jean Twenge, 2006 war es schon jeder vierte. Ihre Untersuchung zeigt auch: Jugendliche stimmen heute viel eher der Aussage „Ich bin eine wichtige Person“ zu als früher. Der neue Narzissmus kann sich im Netz halt wunderbar austoben, „und das große Angebot wiederum verstärkt die narzisstischen Tendenzen noch“, sagt Bierhoff. Überhöhte Selbsteinschätzung, Ichbezogenheit, selbstschmeichelnde Verzerrungen der Wahrheit, Betonung von Erfolg, Macht und eigener Großartigkeit, übertriebene Selbstdarstellung, schnell geschlossene oberflächliche Bekanntschaften. Alles das gehört zur narzisstischen Persönlichkeit. Und folgerichtig auch zu Facebook & Co.

Andererseits sind soziale Netzwerke nur ein Spiegel der Gesellschaft: Wer sich auf Facebook für grandios hält, tut es wahrscheinlich also auch im richtigen Leben. Das würde die Studienergebnisse von Wissenschaftlern der Universitäten Münster, Mainz und Göttingen erklären, die Selbstbeweihräucherung auf Profilseiten nicht ausmachen konnten: „Die Vermutung, dass die sozialen Netzwerke vor allem oder allein der optimalen Selbstdarstellung und Idealisierung dienen, ist falsch“, betont Mitja Back, Professor vom Institut für Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. „Die Nutzer sind ehrlicher und realistischer als angenommen.“ Die Wahrheit liegt dabei vielleicht im Auge des Betrachters. Oder: Ich schummele nicht – ich bin wirklich so toll, schön, lieb und wichtig. Außerdem: „Die narzisstische Selbstdarstellung stellt einen – vielleicht unbewussten – Nebeneffekt dar“, sagt Haller, „der die zunehmende narzisstische Grundhaltung, individuell wie auch gesellschaftlich, extrem fördert.“ Die Netzwerke, so Haller, hätten schließlich „extremen Einfluss auf Interesse, Befindlichkeit und Werte der Nutzer“.

Gepostet wird nur, was anderen gefällt

Die Netzwerke fangen ein, halten fest, versklaven ihre Nutzer, warnt Haller. Das Gefühl, überall der eigene Mittelpunkt zu sein, kann abhängig machen. Aber auch andere Experten betrachten das Netz als Jahrmarkt der Eitelkeiten längst mit Argusaugen. Speziell für Heranwachsende: „Die sozialen Netzwerke könnten ein normales Spiel mit Entwicklungsmöglichkeiten bieten, ein Ausprobieren, das mit Innovation und Kreativität zu tun hat“, sagt Medienforscher Hasebrink. „Stattdessen orientieren sich viele Nutzer an allgemeinen Maßgaben, wie sie glauben, sein zu müssen.“ Auch sein Kollege Schmidt ist besorgt: „Man hechelt der Einzigartigkeit hinterher und bedient sich dabei bestimmter Muster und Inszenierungen.“ Die Selbstporträts zeigen fast immer die gleichen Posen, die schmollmündigen „Duckfaces“, die gleichen Looks. Selbst der „Gefällt mir“-Button, ergaben Untersuchungen der Doktorandin Tina Ganster für ihre Dissertation am Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Universität Duisburg-Essen, wird nur geklickt, wenn man sich sicher sein kann, dass die „Freunde“ im Netzwerk derselben Meinung sind. Man guckt, was gut ankommt, und lebt danach. Im Alltag und im Netz. Ecken und Kanten? Nicht konsensfähig. Psychologen warnen vor Gefallsucht und davor, sein eigenes Leben nur noch mit den Augen anderer zu sehen. Eine österreichische Facebookstudie vom „Büro für nachhaltige Kompetenz“ ermittelte, dass viele Jugendliche bereits mehrere unterschiedliche Profile für sich anlegen – auf denen sie ein sozusagen maßgeschneidertes Ich jeweils für Bekannte, Freunde, Eltern, Schulkameraden präsentieren. Wer bin ich – und wenn ja: wie viele?

Die plötzlich allgegenwärtige Grandiosität in der Gesellschaft kann übrigens auch eingefleischten Netzwerknutzern schwer im Magen liegen: Übermäßiges Surfen auf den Profilseiten der anderen kann zu Depressionen führen, warnen die amerikanischen Verhaltenspsychologen Hui-Tzu Grace Chou und Nicholas Edge. Sie stellten fest, dass vor allem auf Facebookbildern so viel gelacht, gefeiert, gekuschelt und lieb gehabt wird, dass man schnell das Gefühl bekommt, der Rest der Welt sei schöner, beliebter, wichtiger, glücklicher. Und das ist nun wirklich das letzte, was einem Menschen in unserer Gesellschaft passieren sollte.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 9/2014: Richtig entscheiden