Herr Hudson, Sie sind Archäologe. Wieso beschäftigen Sie sich mit Gewalt?
Die Psychologie und Soziologie suchen eher nach allgemeingültigen Prozessen, die auf alle Menschen anwendbar sind. Aber Archäologie und Geschichte eignen sich besser, um die einzelnen Umstände von Gewalt zu untersuchen.
Weshalb?
Ich meine damit, dass die Psychologie die Motivation von Menschen, wie Ärger, Rachsucht und so weiter, erklären kann. Archäologie und Geschichte liefern uns konkrete Beispiele, was wirklich in der Vergangenheit…
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erklären kann. Archäologie und Geschichte liefern uns konkrete Beispiele, was wirklich in der Vergangenheit passiert ist.
Die Medien sind voller Berichte über Gewalt, es herrscht Krieg in der Ukraine. Der Psychologe Steven Pinker behauptet trotzdem, die Menschen seien im Laufe der Zeiten immer friedlicher geworden. Hat er recht?
Nun ja, die Medien nehmen Geschichten über Gewalttaten gerne auf, weil das die Verkaufszahlen der Zeitungen steigen lässt. Im Englischen gibt es dafür den Ausdruck If it bleeds, it leads. Aber in keinem Fall können solche Quellen ein objektives Bild der Gewalt auf der Welt heute vermitteln. Das ist eher eine psychologische Frage der Attraktion von Massenmedien. Terroristische Gruppen wie zum Beispiel der sogenannte Islamische Staat verstehen diese Anziehungskraft.
Die Theorie von Pinker umfasst ein breiteres Feld. Sie enthält eine reizvolle Hypothese, wird aber von archäologischen Nachweisen nicht gestützt. Wenn man bedenkt, dass das 20. Jahrhundert eine äußerst gewalttätige Geschichte hatte, müsste Pinker zeigen, dass die Vorgeschichte noch sehr viel schlimmer gewesen ist. Unglücklicherweise haben wir nur lückenhaftes Beweismaterial; es gibt Belege für Gewalt, aber sie liefern nicht die statistische Verlässlichkeit, wie Pinker glaubt. Natürlich liegen uns Nachweise über Massaker und andere gewalttätige Ereignisse aus der Mittel- und Jungsteinzeit vor. Wir wissen aber nicht, wie repräsentativ sie waren.
Seit wann gibt es denn Kriege?
Das hängt davon ab, wie man Krieg definiert. Für die Jungsteinzeit ist es schwierig, Kriege von Raubzügen zu unterscheiden, wo eine Gruppe eine andere attackierte und dann die Angriffe fortgesetzt wurden. In der Jungsteinzeit gab es keine spezialisierten Waffen: Die Menschen kämpften mit den Gegenständen, die sie auch sonst nutzten, wie Steinäxte und Pfeil und Bogen. Die Bronzezeit war auch eine Zeit des Fernhandels, zum Beispiel mit Zinn und Wolle.
Man brauchte daher ein System, etwa Krieger, um diesen Handel zu schützen. In der Bronzezeit finden wir daher auch neue Waffen, wie Schwerter, Speere und Hellebarden aus Bronze, aber auch Schilder. Eine solche Kampfweise erforderte sicher mehr Erfahrung und Organisation und lässt darauf schließen, dass es spezialisierte Krieger gab. Bei Tollensee in Mecklenburg-Vorpommern haben wir Nachweise einer großen Schlacht aus dem 13. Jahrhundert vor Christus gefunden. Vermutlich waren daran tausende von Kriegern beteiligt.
Also wurde es seit der Bronzezeit normaler, Kriege zu führen?
Die Antwort auf Ihre Frage ist eher nein. Jungsteinzeitliche Gesellschaften waren zwar als Ganzes mehr in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, besaßen aber eine geringe Größe. Krieg in der Bronzezeit war dagegen spezialisiert und wurde auch professionell betrieben.
Gibt es mehr Kriege, seitdem Menschen sesshaft wurden?
Ja, das kann man allgemein so sagen. Nichtortsgebundene Gruppen können bei Meinungsverschiedenheiten mit anderen einfach weiterziehen. Aber eine Sesshaftigkeit gab es an manchen Orten schon früh, vor etwa 12000 Jahren. Mit der dazugehörigen Entwicklung der Landwirtschaft standen neue Ressourcen zur Verfügung, um die gekämpft wurde.
Sind es heute andere Ursachen?
Eine Ursache für Kämpfe sind weiterhin Ressourcen: Mittlerweile sind Öl und Gas sehr wichtig, früher waren sie es nicht.
Gibt es Unterschiede im Ausmaß?
Die Gesellschaften sind heute größer als in der Vergangenheit. Gewalt zwischen zehn Leuten unterscheidet sich von der zwischen 10 Millionen. In den vormodernen Zeiten konnte sich die Kriegsführung auf kleine Armeen und die Aristokratie beschränken. In Industriegesellschaften kann die Propaganda eine ganze Nation dazu bringen, an einen Feind zu glauben und gegen ihn zu kämpfen. Es gab aber natürlich auch in vormodernen Zeiten großflächige Kriege wie zum Beispiel die Eroberungen von Dschingis Khan.
Jäger und Sammler gelten nach bisheriger Geschichtsschreibung als friedliebende Gesellschaften. Stimmt diese Ansicht?
Die Nachweise sind widersprüchlich. Manche Jäger- und Sammlergesellschaften übten wohl Gewalt aus, andere wiederum nicht. Bei vielen archäologischen Ausgrabungen ist die Grundlagenforschung aber noch nicht beendet. Frühere Anthropologinnen und Anthropologen waren nämlich oft mehr an „Rassenfragen“ interessiert als daran, nach Belegen von Gewalt zu suchen. Die Techniken, um Gewalttaten bei Skelettfunden zu identifizieren, haben sich jedoch in den vergangenen Jahren sehr verbessert.
Was lässt der Blick auf die Knochen zu? Waren Menschen früher brutaler, so wie wir es oft denken?
Nein, dafür gibt es keine Evidenz. Die Bedingungen, unter denen es Menschen gestattet war, brutal zu sein, oder in denen Brutalität erwartet wurde, unterschieden sich, abhängig von der jeweiligen Kultur und Zeit.
Was meinen Sie damit?
Es gab zu allen Zeiten in allen Kulturen beide Seiten, mal mehr und mal weniger Gewalt. Ich glaube, dass dies eher von historischen Umständen abhängt. Japan erlebte 1945 den ziemlich plötzlichen Wechsel von einem sehr gewalttätigen Reich, das den Tod von Millionen Menschen verursachte, hin zu einer sehr friedlichen Nachkriegsperiode.
In diesem Fall spielte die neue Verfassung, die von den amerikanischen Besatzern eingeführt wurde, eine Schlüsselrolle. Aber die japanische Gesellschaft hat sich dann zum großen Teil die Friedenspflicht der Verfassung zu Herzen genommen. Man könnte auch sagen, dass sich ein Zustand von Frieden oder Nichtgewalt im Laufe der Geschichte aufbaut. Das beinhaltet kulturelle Entscheidungen für den Frieden, obgleich dazu aus frühen Zeiten keine direkten historischen Nachweise existieren. Die Menschen wählen den Frieden genauso, wie sie Krieg wählen.
Sie forschen unter anderem über japanische Geschichte. Was interessiert Sie daran?
Ich habe mich auf japanische Archäologie spezialisiert, weil es in Japan eine unglaubliche Menge archäologischer Nachweise gibt. Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, als zum Beispiel neue Straßen errichtet wurden, kamen durch die Bauten viele Gegenstände ans Tageslicht. Für die japanische Vergangenheit nimmt man oft an, dass sich Japan vom Rest der Welt unterscheidet. Dass es zum Beispiel eine isolierte Inselgesellschaft und vor der modernen Zeit besonders friedlich war. Ich habe versucht, diese Annahmen infrage zu stellen.
Mit welchem Befund?
Es gab viele gewalttätige Perioden in der japanischen Geschichte. Nicht notwendigerweise mehr oder weniger als in anderen Ländern, aber wir können bestimmt nicht sagen, dass Japan einzigartig friedlich war.
Sondern?
Spätestens seit dem 18. Jahrhundert existierte die Vorstellung, dass Japan eine „natürliche Gemeinschaft“ sei, die auf den Kaiser ausgerichtet sei. Daher sei Kampf etwas, das nicht in Japan existiere. Im Gegenteil, Streit und Gewalt galten als typisch für fremde Länder wie China. Diese Ideen beeinflussten die japanische Geschichtsschreibung stark, die daher oft die friedlichen Aspekte der japanischen Vergangenheit betonte. Weil zum Beispiel der Ackerbau Japan spät erreichte und es bis um 1000 vor Christus Jäger- und Sammlergesellschaften gab, betrachtete man die Jomon-Kultur – circa 14500 bis 1000 vor Christus – als friedvoll.
Man weiß aber nicht, ob diese Zeit wirklich friedlich war?
Nein. Man hat diese Behauptungen aufgestellt, ohne die Skelette nach Gewaltspuren zu untersuchen. Sie wurden nur untersucht, um mehr über die Ursprünge der Bevölkerung herauszufinden. Es gibt noch eine andere scheinbar friedliche Periode, die frühe moderne Tokugawa-Zeit [zwischen 1600 und 1868 schottete sich Japan von der Welt ab, Anm. d. Red.]. In diesem Fall und in anderen Fällen hat man behauptet, dass Japan nur dann gewalttätig war, wenn es mit dem Außen und mit fremden Staaten in Kontakt kam. Im Gegensatz dazu sei Japan natürlicherweise friedlich geblieben, wenn es isoliert war.
Was halten Sie von der These des Anthropologen Richard Wrangham, der sagt, die Todesstrafe habe den Menschen friedlicher gemacht und ihn quasi domestiziert?
Hier ist es wichtig, sich die Details von Wranghams Theorie klarzumachen. Er meint nicht die Todesstrafe, wie sie gewöhnlich in modernen Gesellschaften benutzt wird. Er sagt, dass die Menschen sich selbst „domestizierten“, indem sie antisoziale Individuen durch Tötung beseitigten.
Das scheint eine ganz vernünftige Hypothese zu sein, die einige Aspekte der menschlichen Gewalt erklären kann. Aber um die Theorie archäologisch zu prüfen, müsste man erstens antisoziale Individuen identifizieren können und zweitens Nachweise finden, wonach Mitglieder einer Gruppe sich zusammengeschlossen haben, um solche Menschen zu töten. Das ist aus archäologischer Sicht mehr oder weniger unmöglich.
Was können wir aus den Befunden Ihrer Forschung lernen?
Aus der Sicht des Historikers würde ich sagen, dass Gewalt ein Phänomen ist, das nicht die ganze Zeit über auf ein und demselben Level existiert. Stattdessen kann sie durch unterschiedliche soziale, kulturelle und politische Kontexte erzeugt oder beeinflusst werden. Ein Beispiel dafür wäre eben das moderne Japan.
Oder denken Sie an die europäischen Religionskriege: Das Edikt von Nantes hat den Protestanten in Frankreich 1598 viele Rechte gegeben, 1685 wurde es plötzlich von Ludwig XIV. widerrufen. Der König hatte die Macht, über solche Dinge zu entscheiden, aber wie bei der heutigen Politik können wir annehmen, dass er von einem breiten gesellschaftlichen Trend beeinflusst wurde.
Was schlussfolgern Sie daraus?
Gewalt ist das Ergebnis von komplexen historischen Sachverhalten. In mancher Hinsicht scheint sie wie aus dem Nichts aufzutauchen, und dann verschwindet sie wieder ganz plötzlich. Meiner Ansicht nach geht es im Grundsatz darum, wie Menschen Rechte und Pflichten des Zusammenlebens in Gemeinschaften verstehen. Wenn eine Gesellschaft wirtschaftliche oder andere Probleme hat, ist es immer leicht, die Schuld auf „Sündenböcke“ zu schieben. Solche Sündenböcke haben gewöhnlich in einer Gesellschaft eine komplexe Geschichte, und das Studium dieser Geschichte kann uns etwas über die besonderen Formen von Gewalt erzählen.
Politiker und andere, die Propaganda für schändliche Ziele nutzen, präsentieren normalerweise einen sehr vereinfachten Blick auf Geschichte. Putin zum Beispiel behauptet, dass er die Ukraine „entnazifizieren“ will. Das ist völlig abstrus, aber hat eine ideologische Macht, weil es sich auf ein elementares Thema der russischen Geschichte bezieht.
Wir können auch sehen, wie manche Politiker versuchen, durch Bilder von Gewalt eigene Stärke vorzugeben. Das ist gefährlich, da es die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt verstärkt.
So wie bei Wladimir Putin, wenn er eine neue Kalaschnikow testet.
Putin und auch Osama bin Laden haben oft Videos gemacht, in denen sie sich mit Gewehren zeigten. Letztes Jahr hat sich eine Reihe von amerikanischen Politikern mit ihren Familien fotografieren lassen, und alle hielten sie Gewehre in der Hand. Bei solchen Gruppenfotos wird die Familie benutzt, um Waffen normal erscheinen zu lassen. Sie sind deshalb eine andere Art von Gewalt. Aus der Antike gibt es Kunst, die Gewalt zeigt, um politische Macht zu demonstrieren. Die Trajanssäule ist ein römisches Beispiel dafür, es gibt viele andere aus dem antiken Nahen Osten.
Aber zu viel Blut und Gewalt in Darstellungen kann einen negativen Effekt haben. Mit anderen Worten: Die Macht eines Herrschers sollte als „natürlich“ angesehen werden und nicht nur das Resultat von Blutvergießen sein.
Mark Hudson ist Archäologe am Jenaer Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. Er forscht unter anderem zu Ernährung und Gewalt in frühzeitlichen Gesellschaften und ist Mitherausgeber des Bandes The Prehistoric and Ancient Worlds der Reihe Cambridge World History of Violence.