Professor Ullrich, Professor Schieren: Rudolf Steiner, der Gründer der Waldorfschule, hat ein umfangreiches Werk voller Widersprüche hinterlassen. Kann man daraus überhaupt eine Pädagogik ableiten, wie Waldorfschulen es tun?
Heiner Ullrich: Man muss Rudolf Steiner in doppelter Hinsicht sehen: Der frühe Rudolf Steiner war hauptsächlich ein idealistischer Philosoph, der sich zum Beispiel mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften beschäftigt hat. Später ist er eingetreten in den Kosmos der Theosophie – zu…
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Schriften beschäftigt hat. Später ist er eingetreten in den Kosmos der Theosophie – zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine internationale weltanschauliche Bewegung.
Dadurch ist er vom wissenschaftlichen Denken immer weiter weggerückt in meditative Erkenntnisformen, für die er aber wissenschaftlichen Geltungsanspruch behauptet hat. Dieser spätere, theosophische Steiner ist in der letzten Dekade seines Lebens zum Gründer lebensreformerischer Initiativen geworden. Als ihm ein Gönner nach dem Ersten Weltkrieg ermöglichte, eine Schule für Arbeiterkinder zu gründen, hat Steiner seine Stunde kommen sehen: die Geburtsstunde der Waldorfschule.
Spielen die frühen Schriften von Steiner für die Waldorfschule also keine Rolle, weil er sich darin nicht mit Schulen befasst hat?
Ullrich: Wichtig ist vor allem: Steiner hat als Theosoph eine Schule gegründet. Das theosophische Menschenbild ist der Schlüssel für das Verständnis der Waldorfschule.
Jost Schieren: Das ist eine Frage der Sichtweise: Man kann mit guten Gründen ebenso den philosophischen Steiner für die Waldorfpädagogik starkmachen. Die Waldorfpädagogik ist keine „Top-down-Veranstaltung“ der Anthroposophie, in der eine Weltanschauung zu einer Pädagogik umgemünzt wird. Es ist eine Pädagogik, die vom Kind ausgeht. Die Anthroposophie ist in der Waldorfpädagogik nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck einer guten Pädagogik. Daran soll sie sich messen lassen.
Mich beeindruckt, wie sich Steiner persönlich mit der ersten Waldorfschule verbunden hat: Er kennt die Kinder, er kennt das Personal und entwickelt die Waldorfpädagogik als work in progress, nicht als fertigen Plan. Würde eine Waldorfschule sich nicht auf die Kinder einlassen und nur ein Ideologieprogramm fahren, wäre sie nicht überlebensfähig.
Ullrich: Das ist natürlich eine starke Gewichtung, die Sie da vornehmen. Für mich als Erziehungswissenschaftler ist auffällig, dass Rudolf Steiner in keinem reformpädagogischen Diskurs steht. Er war ein Außenseiter, sowohl in der Reformpädagogik als auch in der theosophischen Bewegung. Aus dieser Sonderstellung Steiners resultiert der eigentümlich weltanschauliche Charakter der Waldorfschule.
Was bedeutet das in der Praxis?
Ullrich: Waldorfeltern haben unterschiedliche Motive, aber alle suchen eine Alternative zur Regelschule und sind oft auch reformpädagogisch eingestellt, suchen also kindzentriertes, selbsttätiges Lernen, Gruppenunterricht, gemeinschaftliche Formen des Lernens. Aber dann treffen sie auf eine Schule, die in eigentümlicher Weise konservativ ist und sich am anthroposophischen Menschenbild orientiert: Der Klassenlehrer ist eine Autorität, es gibt Eurythmieunterricht, die Architektur ist eigentümlich und das Kind ist ein wiedergeborenes geistiges Wesen, das sich im Rhythmus von sieben Jahren entwickelt. Das haben die meisten Eltern nicht erwartet.
Schieren: Ich nehme die Gewichtungen anders vor: Das Kind wird in der Waldorfpädagogik als entwicklungsfähige, freiheitsbegabte Individualität aufgefasst. Das ist zentral, alle didaktischen und methodischen Besonderheiten ordnen sich dem unter und sind auf die Förderung des Kindes ausgerichtet. Im Gegensatz zu Regelschulen, in denen Normen, Standards und die Output-Orientierung eine große Rolle spielen, tritt an der Waldorfschule das System eher zurück. Waldorfeltern schätzen das und haben das Vertrauen, dass ihre Kinder individuell gefördert werden.
Die anthroposophische Entwicklungslehre, die Herr Ullrich erwähnt, klingt allerdings ziemlich dogmatisch und nicht individuell: Das Kind kommt mit dem „Geistkörper“ zur Welt, mit sieben Jahren wird der „Ätherleib“ frei, sichtbar am Zahnwechsel, mit 14 folgt der „Astralleib“.
Schieren: Man kann diese Aussagen dogmatisch gebrauchen oder aber heuristisch, also gewissermaßen als Instrumente, um Kinder besser zu verstehen. Die Jahrsiebte sind keine festgesetzten Daten, sondern im besten Sinne fluide Rahmungen. Es geht darum, Entwicklungsprozesse bei Kindern ernst zu nehmen, und nicht darum, Setzungen vorzunehmen.
Ullrich: Sicher, man kann die steinersche Anthroposophie dogmatisch oder heuristisch gebrauchen. Interessant ist aber, dass man in Schulen zumeist dogmatisch nach jener verfährt. Das beinhaltet auch das Muster der vier Temperamente: sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch, melancholisch. Das ist eine vormoderne Denkform, die jahrhundertelang vorgeherrscht hat, aber weitgehend keine Rolle mehr spielt. Heute werden in der Persönlichkeitspsychologie die Big Five in den Vordergrund gestellt. Sie sind empirisch validiert. Aber das nehmen viele Waldorfpädagoginnen und -pädagogen gar nicht zur Kenntnis.
Schieren: Es ist vieles im Umbruch und die Bemühung um eine wissenschaftliche Erforschung und Begründung der Waldorfpädagogik hat ein größeres Gewicht bekommen.
Ullrich: Ich habe das bei Feldstudien bis zur Sitzordnung miterlebt: Die Kinder wurden nach ihren Temperamenten im Klassenraum gruppiert – wie im Kirchenchor Sopran, Alt, Tenor und Bass. Das andere ist natürlich, dass man die Entwicklung in einer gefahrvollen Weise ganzheitlich sieht: Wenn die ersten Zähne wackeln, sind die ätherischen Kräfte frei geworden zum Lernen. Körperliche Reife wird mit Esoterik verknüpft. Dieser Sieben-Jahre-Rhythmus ist in keiner Entwicklungspsychologie so mehr haltbar – Entwicklung verläuft in den verschiedenen Dimensionen asynchron. Es gibt keine einheitliche Stufenfolge für alle Fähigkeiten.
Ob nun Dogma oder flexibler Gebrauch: Um manches kommt man in der Waldorfschule nicht herum. Sollte man Eurythmie zugunsten eines undogmatischen Umgangs mit der Anthroposophie abschaffen?
Schieren: Nur weil die Eurythmie aus der Anthroposophie hervorgeht und die Waldorfschule der Ort ist, an dem Eurythmie stattfindet, ist die Eurythmie nicht gleich dogmatisch.
Worum geht es dabei?
Schieren: Eurythmie ist eine körperliche Ausdrucksform für Sprache und Musik – eine Tanz- und Bewegungskunst. Bildung wird oft sehr kopflastig und allein intellektuell vermittelt. Man macht allenfalls ein bisschen Sport. Die Idee der Waldorfschule und speziell der Eurythmie ist, ästhetische Erfahrungen bis zur leiblichen Ebene repräsentativ wirksam werden zu lassen. Die Eurythmie hat dabei mitnichten etwas Dogmatisches.
Warum gibt es dann nicht „bloßen“ Tanzunterricht? Geht es bei der Eurythmie auch um Übersinnliches?
Ullrich: Es geht immer um Übersinnliches. Die Waldorfschule ist die am stärksten weltanschaulich geprägte Reformschule. Es gibt keine Grenze zum Okkultismus. Es gibt den Wissenschaftsanspruch auf der einen Seite, und auf der anderen Seite werden Aussagen getroffen, die esoterisch-okkulter Herkunft sind. Man muss sehen, und daran arbeitet ja auch Herr Schieren, wie man die Anthroposophie ein Stück weit aus dem Okkultismus herausholt.
Schieren: Die aktuelle Waldorfpädagogik geht tatsächlich in eine liberalere Richtung. Ja, es gibt Waldorfvertreter, die eher dogmatisch die Stellung der Anthroposophie in der Waldorfschule stark haben möchten, aber eben auch diejenigen, die kritisch und wissenschaftlich damit umgehen. Was die Eurythmie anbelangt: Eigentlich ist jede echte ästhetische Erfahrung auch eine „übersinnliche“ beziehungsweise nicht-sinnliche Erfahrung: Was in Dichtung, Musik und eben auch in Eurythmie erfahren wird, manifestiert sich nicht allein sinnlich-materiell.
Ullrich: Es gibt Elemente, die Waldorfschulen für Regelschulen interessant machen, aber die Eurythmie gehört nicht dazu. Sie behält eine Sonderstellung, die nicht anschlussfähig ist. Bei einer Studie von Dirk Randoll und anderen von 2013 kam heraus, dass Eurythmielehrerinnen und -lehrer sich von ihrer Einstellung her am engsten am Werk Steiners orientieren. Etwas weniger, aber auch noch deutlich war das bei Klassenlehrerinnen und -lehrern zu sehen: Sie unterrichten nach Steiners Konzept acht Jahre lang acht Fächer in ihrer Klasse. Am säkularsten war die Einstellung bei denjenigen, die Gymnasialfächer in der Oberstufe unterrichteten.
Wie wirkt sich der weltanschauliche Ansatz auf die Entwicklung der Kinder aus?
Schieren: Das wurde empirisch untersucht: Nicht einmal ein Prozent der Schülerschaft hat eine Bedeutung der Anthroposophie im eigenen Leben wahrgenommen.
Welche unbewussten Auswirkungen gibt es?
Schieren: Das ist eine andere Ebene: eine stärkere Kohärenzerfahrung und Sinnhaftigkeit in der eigenen Biografie, Selbstwirksamkeitserfahrungen, die positive Erinnerung an die eigene Schulzeit… Interessant ist: Wenn ehemalige Waldorfschüler selbst Eltern werden, entscheiden sie sich oft für die Waldorfschule.
Ullrich: Die Beheimatung und Identifikation, die die Waldorfschule oft für die ganze Familie bietet – dieses Gefühl „das ist unsere Schule“ – ist einer der Erfolgsfaktoren der Waldorfschule.
Liegt das an ihrer Weltanschauung und ihrem Menschenbild?
Ullrich: Nein, überhaupt nicht. Es liegt am Passungsverhältnis zur hochkulturellen Einstellung der Eltern, und es ist eine Schule, die bewusst gewählt wurde. Deshalb hat sie eine hohe bildungsbiografische Bedeutung. Das kann aber auch beispielsweise bei einer Internatsschule oder einem Begabtengymnasium der Fall sein. Ich wollte aber vorhin noch etwas zum Klassenlehrermodell sagen: Insgesamt stammt die Unterrichtskultur der Waldorfschule mit viel lehrerzentriertem Frontalunterricht vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Wir haben bei einer Studie herausgefunden, dass es für manche Kinder angenehm ist, acht Jahre lang in einer konstanten Gruppe zu bleiben, gerade heute. Aber für andere bedeutet das eine Festlegung, die Verkennungen und Lernhemmungen zur Folge hat. Da die allermeisten Waldorfschulen einzügig sind, kann man auch nicht in eine Parallelklasse mit einem anderen Klassenlehrer wechseln.
Schieren: Die Idee des Lernens an der Waldorfschule ist die, dass die Kinder nicht allein aus Büchern lernen, sondern erfahrungsorientiert und explorativ, mit integrierten Bewegungselementen. Der Frontalunterricht ist eine Lernform unter vielen. Inzwischen haben manche Schulen auch auf Team-Teaching umgestellt. Die Kinder lernen nicht allein rezeptiv und reproduzierend, sondern vor allem kreativ und künstlerisch.
Ullrich: Ich will gar nicht bestreiten, dass man mit Waldorfpädagogik vieles machen kann, aber es ist eigentümlich, dass sie so abgekoppelt ist von den Entwicklungen im Staatsschulwesen, zum Beispiel der Verwissenschaftlichung der Grundschullehrer-Ausbildung, die dazu geführt hat, dass man nur noch zwei oder drei Fächer studiert. In der Waldorfschule muss man acht lehren. Dass man Epochenhefte führt und auf Lehrbücher verzichtet, ist auch nicht unproblematisch, weil man an die Auffassung des Lehrpersonals viel enger gebunden ist. Das sehe ich kritisch.
Müssten Behörden also neu prüfen, ob man Waldorfschulen als Ersatz für staatliche Schulen zulassen kann?
Ullrich: Das hat ja Herr Schieren vorhin schon deutlich gemacht: Die Waldorfschule lehrt nicht Anthroposophie. Aber bis auf die Waldorfschule setzen alle anderen Reformschulen für Lehrpersonen voraus, dass man ein Staatsexamen oder einen Master in Bildungswissenschaften gemacht hat. Ich sehe da Entwicklungsbedarf. Die Breite der Wissenschaftsorientierung an Universitäten ist unerlässlich für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern.
War die Waldorfschulbewegung deshalb so anfällig für Coronamythen? Zeigt sich da eine durch Steiner geprägte Feindlichkeit gegenüber Moderne und Wissenschaft, die strukturell ist?
Ullrich: Ganz so weit würde ich nicht gehen. Es war aber auffällig, dass es gerade an Waldorfschulen auffällig viele Masken- und Impfverweigerer gab. Wahrscheinlich steht dies in engem Zusammenhang mit Steiners spirituellem Menschenbild und seiner homöopathisch geprägten Medizin. Steiner hat selbst vor Impfungen gewarnt.
Schieren: Nein, Steiner war da durchaus pragmatisch und hat sich auch für Impfungen ausgesprochen. Soweit an der Waldorfschule vergleichsweise häufige Ablehnungen und auch Unterwanderungen der Coronamaßnahmen stattgefunden haben, so ist dies eher ein soziologisches und nicht ein ideologisches Phänomen. – Was die Qualifikation der Lehrerinnen und Lehrer angeht: Niemand darf an einer Waldorfschule unterrichten, der nicht durch die Schulaufsicht genehmigt ist. Es finden Lehrproben statt. Und wenn im Einzelfall etwas aus dem Ruder läuft, greift die Schulaufsicht ein wie bei jeder anderen Schule auch. Bezogen auf die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung für Waldorflehrerinnen und -lehrer stimme ich Herrn Ullrich zu.
Ullrich: Ich sag’s mal soziologisch: Die Waldorfschule ist eine exklusive Schule für eine Elternschaft, die sehr hohe pädagogische Ambitionen hat. Interessanterweise machen mehr Waldorfschülerinnen und -schüler Abitur als Jugendliche an staatlichen Schulen. Eine Studie hat gezeigt, dass 15 bis 18 Prozent der Waldorfeltern Lehrerinnen und Lehrer an staatlichen Schulen sind. Das ist schon sehr interessant.
Wissen selbst pädagogisch gebildete Eltern nichts über die Anthroposophie oder warum schicken sie die Kinder nicht auf die Regelschule?
Ullrich: Die Eltern wählen die Waldorfschule trotz der Anthroposophie. Sie bietet mit neun Jahren Unterricht ohne Noten eine entschleunigte Lernkultur, ist aber gleichzeitig hochkulturell-gymnasial orientiert: Man liest zum Beispiel Parzival.
Wäre eine Zusammenarbeit zwischen den Regel- und Waldorfschulen möglich?
Ullrich: Es gab in Hamburg-Wilhelmsburg, einem sogenannten Problemviertel, den Versuch, im Grundschulbereich zusammen zu unterrichten. Leider ist der Versuch gescheitert. Das zeigt: Ein bisschen Waldorf geht nicht. Das ist schade, denn wir fragen ja immer: Was kann man Gutes von Waldorf in die Regelschule holen?
Schieren: Ich habe das Projekt in Hamburg wissenschaftlich begleitet. Es sind dort idealistische Waldorflehrkräfte mit Erfahrungen aus der Mittelschicht auf Regelschullehrer und -lehrerinnen gestoßen, die ihr Problemviertel seit zwanzig Jahren kannten und entsprechend wussten, wie sie mit Kindern umgehen müssen, die in Armut leben oder Gewalt erfahren. Diese Vorerfahrung fehlte dem Waldorfpersonal. Das war ein Problem. Hinzu kam eine Schulleitung, die auf ehrgeizige Weise die Schule messbar verbessern wollte. Aber teaching to the test, also dass man Kinder trimmt, damit sie einen Test bestehen, aber danach womöglich alles wieder vergessen, das entspricht nicht dem Waldorfprinzip. Ich hoffe, dass es neue Versuche geben wird. Beide Seiten können viel voneinander lernen.
Die Zusammenarbeit war also in der Praxis schwierig, nicht wegen der Theorie hinter Waldorf?
Schieren: Ja, das ist so. Es gibt auch andere Beispiele: Ich kooperiere in Oakland in Kalifornien mit einer sogenannten Waldorf Charter School, die in einem sehr armen Stadtteil mit hohem Migrationsanteil liegt. Dort gelingt es, Eltern und Lehrpersonal einzubinden, die bisher keine Waldorferfahrung hatten. Waldorf ist dafür offen. Auch die erste Waldorfschule in Stuttgart war ja ursprünglich für Arbeiterkinder bestimmt.
Wenn die Eltern die Schule trotz Steiner wählen und Lehrerinnen und Lehrer für die Praxis neue Wege gehen müssen: Warum dann nicht eine „Waldorfschule light“ machen, ohne Steiner?
Schieren: Steiner ist nicht das Problem der Waldorfschule, er bildet auch weiterhin die Inspirationsquelle, weil er eine tief humanistische Pädagogik geschaffen hat, die das Kind in seiner Individualität würdigt. Allerdings müssen wir Steiner kontextualisieren, in die gegenwärtige wissenschaftlich-pädagogische Debatte und Forschung integrieren und vom Schwarz-Weiß-Denken – Steiner hier und beispielsweise Entwicklungspsychologie dort – wegkommen.
Und natürlich müssen wir das Wording überdenken: Wir können nicht mehr vom „Freiwerden des Ätherleibs“ sprechen, und die Leute sollen irgendein Mysterium schlucken. Die Frage ist: Wo gibt es in der gegenwärtigen Forschung Anknüpfungspunkte? Beim Klassenlehrermodell wäre zum Beispiel die Bindungstheorie zu berücksichtigen, auch zum haptisch-sinnlichen Lernen an der Waldorfschule decken sich Ergebnisse aus der Gehirnforschung mit dem, was in der Waldorfschulpraxis schon lange Bestand hat.
Ullrich: Ich habe mich auch immer mal wieder gefragt, worin die Stärken der Waldorfschulen liegen: Die ästhetisch-praktische Dimension der Bildung hat ein besonderes Gewicht. Das bietet Möglichkeiten, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Es gibt einen gemeinsamen Bildungsgedanken der Lehrerschaft. Drittens: Waldorfeltern sind nicht nur „Kunden“ einer privaten Schule, sondern oft auch engagierte Akteurinnen und Akteure. Das sind für mich die drei Stärken. Aber das ist sicher nicht alles. Wir brauchen darüber weiterhin den wissenschaftlichen Diskurs. Da haben wir vonseiten der Universitäten, aber auch vonseiten der Waldorfschule noch Forschungs- und Aufklärungsarbeit zu leisten – nicht nur empirisch, auch in den theoretischen Grundlagen.
Schieren: Dem stimme ich zu. Waldorf wird erst seit der Jahrtausendwende solide beforscht. Es gibt noch viel zu tun.
Herr Ullrich, Herr Schieren: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.
Heiner Ullrich ist außerplanmäßiger Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Mainz. Seit seiner Dissertation Waldorfpädagogik und okkulte Weltanschauung (1986) hat er die Forschung zu Waldorfschulen und zur Reformpädagogik maßgeblich mitgestaltet
Jost Schieren ist Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Dekan des Fachbereiches Bildungswissenschaft an der Alanus-Hochschule in Alfter bei Bonn. Zuvor war er Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Dortmund