Warum tat sich die deutsche Nachkriegs-Psychiatrie so schwer mit Holocaust-Überlebenden?

Jahrzehnte dauerte es, bis deutsche Psychiater Holocaust-Traumata anerkannten. Ein Gespräch über Ideologie, Ignoranz und späte Pioniere

Überlebende des Konzentrationslagers Ausschwitz im Februar 1945
Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz im Februar 1945 © Galerie Bilderwelt/Kontributor/Getty Images

Überlebende des Holocausts stießen in den ersten Jahren der deutschen Nachkriegszeit auf Ablehnung, wenn sie für psychische Traumata Entschädigung beantragten. Warum?

Deutsche Psychiater, damals wirklich nur Männer, waren nach dem Nationalsozialismus nicht in der Lage, sich ein psychisches Trauma, das durch äußere Umstände verursacht war, überhaupt auch nur vorzustellen. Sie waren verblendet von der Ideologie der Härte, wie sie im Nationalsozialismus vorherrschte. Antisemitismus spielte dabei natürlich auch eine Rolle.

Genauso wichtig war: Schon im Jahr 1916 hatte die deutsche Universitätspsychiatrie vorgegeben, welche Lehre fortan zu gelten hätte: „Gesunde Gehirne“ seien unbegrenzt belastungsfähig und zeigten auch nach schweren psychischen Belastungen allenfalls kurze Schreckreaktionen. Länger andauernde oder Jahre nach dem Trauma auftretende Symptome seien auf Willensschwäche, biologisch bedingte Minderwertigkeit oder den Wunsch nach einer Rente zurückzuführen. Die Beobachtung, dass besonders belastende Lebensumstände Menschen psychisch krank machen könnten, war in den Jahren vor 1916 lange und heftig diskutiert und schließlich als naiv abgetan worden.

Erst spätere Generationen von Psychiatern entwickelten bessere Konzepte von Psychotraumata.

Typisch für den Diskurs im Nachkriegsdeutschland war, dass deutsche Psychiater isoliert waren und sich teilweise bewusst isolierten von internationalen Debatten, in denen das Augenmerk auf den extrem traumatisierten Überlebenden der Konzentrationslager lag. Nur der Psychiater Karl Bonhoeffer fragte im Jahr 1947 in einem Aufsatz vorsichtig, ob es eventuell doch eine Grenze der psychischen Tragfähigkeit des Individuums geben könnte, wenn es quälenden und entwürdigenden Prozeduren ausgesetzt worden war.

Eine echte ­Pionierleistung erbrachte erst Ulrich Venzlaff in seiner 1958 als Buch erschienenen Habilitation: Manche Belastungen, stellte er fest, seien so extrem, dass sie den Menschen in seinen Grundfesten erschüttern könnten. Trotz dieser zurückhaltenden Formulierung wurde er dafür massiv kritisiert. Venzlaff ging zudem von einer Vulnerabilität Älterer aus und verwies erstmals in Deutschland auf Fallbeispiele von jüdischen Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung.

Entscheidend wurde dann in den 1960er Jahren das Werk Psychiatrie der Verfolgten einer Arbeitsgruppe von Psychiatern aus Heidelberg, das auf etwa 700 Begutachtungen von Holocaustüberlebenden basierte. Die Heidelberger Psychiater erkannten auch als Erste psychodynamische Vorgänge als relevant an, wie es in den psychoanalytischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften schon lange der Fall war.

Wie ging es weiter?

In Deutschland gab es noch lange zähen Widerstand gegen die neue Auffassung der Entstehung von Traumata durch äußere Umstände. Erst in den 1970er Jahren wurde unter dem Druck von Veteranen des Vietnamkriegs der Begriff des psychischen Traumas viel weiter definiert und schließlich auch als „Implantat“ aus den USA hier übernommen.

Peter Theiss-Abendroth ist Psychiater und Psychoanalytiker. Er arbeitet als Gastwissenschaftler am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité sowie als Professor an der amerikanischen Touro University Berlin

Quellen

Theiss-Abendroth, P. (2025). Die Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts als Katalysator eines Paradigmenwechsels. Psychiatrische Praxis. DOI: 10.1055/a-2407-7941

Theiss-Abendroth, P. (2024). Psychosen als Traumafolgestörungen im Diskurs der westdeutschen Nachkriegspsychiatrie. Medizinhistorisches Journal. DOI: 10.25162/MHJ-2024-0009

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