Im Fokus: Sekundärer Antisemitismus

Psychoanalytiker Wolfgang Hegener erklärt im Gespräch, warum Antisemitismus nie eine Meinung ist – und immer mit deutscher Schuldabwehr zu tun hat.

Eine Bilderwand in der Halle der Namen in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem
Die Installation im Yad Washem in Jerusalem erinnert an die vielen Opfer des Antisemitismus. © picture alliance/dpa | Fabian Sommer

Mit „sekundärer Antisemitismus“ ist der Antisemitismus gemeint, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte. Was bedeutet der Begriff?

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelte sich eine neue Form der Täter-Opfer-Umkehr, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als sekundären Antisemitismus bezeichnen. Jüdische Menschen gelten bei dieser Form erneut als Feind und als Täter. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix hat einmal gesagt: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“…

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Psychoanalytiker Zvi Rix hat einmal gesagt: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Anstatt sich also ihrer eigenen Schuld zu stellen, wurde sie umgedreht und verschoben. Jüdinnen und Juden wurden nun in einer Art Schuldkonten­abgleich beschuldigt, selbst schuldig zu sein, nach Rache zu dürsten und nicht aufzuhören, die Deutschen zu belasten.

Dazu ist wichtig, dass man sich klarmacht: Antisemitismus als Meinung oder als bloßes Vorurteil anzusehen geht an der Sache vorbei. Antisemitismus ist keine isolierte Meinung, sondern eine tiefemotional begründete Weltanschauung. Er ist in den Kern einer Persönlichkeit eingebunden und hat immer mit Schuldabwehr zu tun. Wenn man bei dem Verständnis dieses Phänomens nur kognitiv ansetzt, hat man die ganze Frage der Schuld noch gar nicht berührt.

Der Antisemitismus kann, wie Michael Ley gesagt hat, als die älteste und dauerhafteste Kulturpathologie überhaupt angesehen werden. Er umfasst wahnhafte und nicht korrigierbare Vorstellungen und ist eine menschenfeindliche Weltanschauung. Die Logik lautet: Menschen, die jüdisch sind, gelten als „der Weltfeind“ schlechthin und ihrer „Vernichtung“ ist alles andere unterzuordnen. Dieses Vernichtungsziel ist charakteristisch und unterscheidet Antisemitismus auch vom Rassismus.

Die antisemitische Weltanschauung wird in Form von Geschichten und Legenden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben. Der Antisemitismus ist, wie Adorno einmal gesagt hat, das Gerücht über die Juden. Und er ist gleichzeitig die größte Verschwörungstheorie, die es gibt.

Die Geschichten, die heute im Internet kursieren, greifen oft unbewusst auf alte Narrative zurück, die umgebucht und in neue Kontexte eingeordnet werden. Das kann man etwa bei der rechtsextremen QAnon-Bewegung in den USA erkennen, die behauptet, Vertreter einer „satanischen Elite“ würden Kinder entführen, foltern und ermorden, um sich mit ihrem Blut zu verjüngen. Auch wenn nicht nur Juden adressiert werden, kehrt auf unheimliche Weise die alte antisemitische Blutbeschuldigung des Ritualmordes wieder.

Sie sagen, dass der Antisemitismus in deutschen Familien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie aufgearbeitet wurde. Warum nicht?

Der Antisemitismus war im Nationalsozialismus eine Art Volksreligion und hat einen eliminatorischen Charakter angenommen. Es wäre verwunderlich gewesen, wenn das sofort mit der ­Niederlage hätte überwunden werden können. Und Deutschland ist besiegt worden. Aus sich selbst heraus wäre diese Weltanschauung erst recht nie abgeschafft worden.

Nach Kriegsende war es sehr lange Zeit stark tabuisiert und verboten, antisemitische Haltungen öffentlich zu zeigen oder zu äußern. Die Tabuisierung in der Öffentlichkeit führte aber gleichzeitig dazu, dass diese Einstellungen in die private, familiäre Sphäre abgedrängt wurden und sich dort in der sogenannten „Kommunikationslatenz“ befanden. Das heißt, sie wurden zwar nicht öffentlich geäußert, aber blieben latent vorhanden. Aus dieser Latenz brechen sie dann, wie die ganzen antisemitischen Skandale in der Nachkriegsgeschichte zeigen, immer wieder hervor.

Wenn man sich Umfragen aus den ersten Nachkriegsjahren anschaut, wie sie etwa von amerikanischen Forscherinnen und Forschern oder von dem Allensbach-Institut gemacht wurden, dann zeigt sich: Bis in die 1950er Jahre hinein war Antisemitismus sehr weit verbreitet und wurde in den anonymen Umfragen auch offen geäußert. Noch Anfang der 1960er Jahre lehnte eine übergroße Mehrheit der deutschen Befragten eine Mitschuld am Massenmord an den europäischen Juden entschieden ab. Dies hat dann im Lauf der Jahre abgenommen und ließ sich am wenigsten in den 1980er Jahren zeigen. Ab Ende der 1990er gab es wieder einen deutlichen Zuwachs.

Wie kam es zu dieser Zunahme?

Sie lässt sich gut an einem bestimmten Ereignis festmachen: an der Rede des Schriftstellers Martin Walser in der Paulskirche zur Verleihung des Friedenspreises am 11. Oktober 1998. In der Rede erscheinen die Deutschen als entwürdigte Opfer von verfolgungswütigen Akteuren und Akteurinnen, den Medien, „smarten Intellektuellen“, Jüdinnen, Juden. In der Zeit danach wurde in öffentlichen Debatten verstärkt versucht, „Normalität“ darzustellen, als sei der Zweite Weltkrieg nicht ein Vernichtungskrieg gewesen, sondern ein normaler Krieg. Dies förderte die Tendenz, dass auch in der öffentlichen Kommunikation Antisemitismus immer unverhohlener gezeigt wurde.

Und wenn dann, wie Anfang der 2010er Jahre geschehen, eine Partei aus dem rechten Spektrum auf der Bildfläche erscheint, die immer mehr Akzeptanz findet, dann darf man sich wieder vermehrt antisemitisch äußern. Außerdem bieten die Echokammern im Netz heute die Möglichkeit, sich ungehemmt und unsanktioniert antisemitisch zu betätigen. Wichtig ist dabei zu betonen: Die heutigen Formen des Antisemitismus in Deutschland sind alle – egal ob es der Antisemitismus der Mitte ist, ob er aus dem rechten oder aus dem linken Spektrum kommt – ohne die Shoah nicht verstehbar.

Kann es sein, dass viele Menschen die Nazizeit und die Shoah gar nicht aufarbeiten wollten?

Natürlich spielt das eine Rolle. Denn die ­Shoah war keine Angelegenheit einer isolierten Tätergruppe, sondern breit getragen durch viele Institutionen und breite Bevölkerungsschichten, war also keinesfalls ein Randphänomen. Sicherlich, es gibt Abstufungen zwischen Täterinnen und Tätern, überzeugten Ideologen und Mitläuferinnen, aber man muss auch sehen, dass viele profitierten, etwa durch die Enteignungen von jüdischen Menschen und ihren Familien. Einige Forscherinnen und Forscher meinen, dass dieses Profitieren bis in die Nachkriegszeit hineinreichte und den wirtschaftlichen Wiederaufbau förderte.

Die Lesart des sekundären Antisemitismus ist wie gesagt: Die Juden haben nie aufgehört und werden nie aufhören, uns an unsere Schuld zu erinnern. Es war zwar irgendwann möglich zuzugeben, dass die Massenmorde stattgefunden haben, und auch die Täterschaft von Deutschen und Österreichern konnte eingeräumt werden. Dann aber musste hinzugefügt werden: „Die Juden“ seien nicht besser als Deutsche und sie könnten trotzdem einfach nicht aufhören, Deutsche zu beschuldigen, sie permanent an die Nazizeit zu erinnern. Das ist wieder die Projektion der Schuld auf jüdische Menschen.

Ist diese Projektion der zentrale Mechanismus im Antisemitismus, ob vor oder nach dem „Dritten Reich“?

Wir alle projizieren – wir können nicht denken, ohne zu projizieren. Die antisemitische Projektion ist aber eine besondere, eine „pathische Projektion“, wie das Adorno genannt hat. Sie ist eigentlich der Totalausfall der Reflexion. Die Projektionen können nicht zurückgenommen und als etwas Eigenes erkannt werden. Genau daran zeigt sich, dass es eben nicht um bloße Vorurteile geht, sondern um eine wahnhafte, stark verfestigte Weltanschauung.

Sie unterscheiden – was die Shoah betrifft – zwischen depressiven Schuld­gefühlen und sogenannten persekutorischen Schuldgefühlen. Was ist der Unterschied?

Beim depressiven Schuldgefühl weiß die Person, dass etwas Mörderisches passiert ist, erkennt es an und bereut. Das ist ein sehr schmerzhafter Prozess. Beim persekutorischen Schuldgefühl fühlen sich Menschen durch die jüdischen Personen quasi innerlich verfolgt, ständig an die historische Schuld erinnert, die sie aber nicht fühlen wollen. Damit einher geht der Gedanke, dass „die Juden“ einen Rachewunsch haben, was dann zu Bedrohungsgefühlen führt.

Wenn die Nachfahrinnen und Nach­fahren Schuld empfinden, sind es oft, wie Freud sagte, entlehnte Schuldgefühle. Wir übernehmen sie von unseren Eltern oder Großeltern. Sie sind sehr wirksam. Es ist eine Form der psychologischen Vererbung, die da passiert. Sie ist beispielsweise daran zu erkennen, dass Kinder und Enkelinnen das Gefühl haben, sich nicht entwickeln zu dürfen, nicht glücklich sein zu dürfen, nicht erfolgreich sein zu dürfen, weil sie etwas wiedergutzumachen haben und diese Last tragen müssen.

Dass sie auch selbst Schuld empfinden, erleben viele nichtjüdische Deutsche, wenn sie im Ausland sind. Dann fühlen sie sich plötzlich nicht gut damit, Deutsche zu sein, und haben das Empfinden, nicht einem durchschnittlich guten Volk anzugehören.

Viele NS-Täter aus der SS, der Wehrmacht oder der Polizei haben nach dem Zweiten Weltkrieg keine Reue gezeigt. Halten Sie diese Personen für grundsätzlich fähig, überhaupt eine Schuld zu empfinden?

Man kann davon ausgehen, dass sie keine Schuld empfanden und dass sie bereits vor der ersten Tat radikalisiert und ideologisiert waren. Sie haben das, was sie taten, für richtig gehalten. Sie pflegten eine Art umgekehrte Ethik – sofern man das noch Ethik nennen kann: Wenn wir Juden umbringen, tun wir das Richtige und das Notwendige. Diese Haltung gaben sie nach dem Krieg nicht auf. Mir fällt dabei Leni Riefenstahl ein – sie wurde sehr alt und zeigte zeit ihres Lebens keinerlei Reue, sie schien von keinerlei Schuldgefühlen angekränkelt.

Dazu passt auch, dass es keinen Bericht über Nazitäter gibt, die sich in ­eine Psychoanalyse begeben haben. Dazu hätten sie zumindest den Ansatz eines echten Schuldgefühls haben müssen. Der aus Deutschland emigrierte britische Psychoanalytiker Herbert Rosenfeld hat im Jahr 1984 auf einer psychoanalytischen Tagung einen Vortrag mit dem Titel Narzissmus und Aggression gehalten. Darin vertrat er die These, dass maligne narzisstisch gestörte Men­schen eine ihnen nicht bewusste, abgespaltene „mafiaähnliche“ psychische Struktur haben, die die Vorstellung und Illusion völliger seelischer Schmerzfreiheit erzeuge und es ihnen erlaube, sadistischen Impulsen nachzugeben. Diese Struktur sei im nationalsozialistischen Deutschland weit verbreitetet gewesen. Sie war gewissermaßen gesellschaftskonform.

Kann man Antisemitismus mithilfe von Bildung vorbeugen oder mildern?

Dieser Ansatz ist viel zu kognitiv. Denn da ist die ganze Frage der Schuld überhaupt nicht berührt. Die einzige Möglichkeit ist, sich der Schuld, die die Großeltern und Eltern auf sich geladen haben, emotional zu stellen und auf diesem Weg diese Projektionen nach und nach zurückzunehmen. Den intensiven Schmerz der Schuld wirklich zu empfinden und anzunehmen.

Erst wenn das geht, kann sich Empathie entwickeln. Dann ist es auch möglich, wirklich erschrocken zu sein über das, was Anfang Oktober 2023 passiert ist. Und nicht wieder sofort zu sagen: „Ja, aber die Juden und die Israelis…“, also es nicht sofort wieder umzudrehen. Und diese Empathiefähigkeit gilt dann für alle Opfergruppen, somit auch für die äußerste Not leidende palästinensische Bevölkerung in Gaza.

Wie ging es Ihnen am 7. Oktober?

Wenn man sich mit der Geschichte des Antisemitismus beschäftigt, dann sind einem solche Massaker eigentlich nicht unbekannt. Trotzdem war ich wirklich schockiert. Ich glaube, man muss sagen, dass es sich um ein klassisches antisemitisches Massaker handelt. Es ist wirklich erschreckend, wenn man sich den Sadismus vergegenwärtigt, der hier stattfand. Das erfüllt alle Kriterien eines antisemitischen Pogroms.

Es war eben nicht einfach nur gegen Israel gerichtet. Es war nicht gerichtet gegen Einrichtungen des israelischen Militärs. Es war keine Kriegshandlung, sondern es wurden Kibbuzim überfallen, es wurden Kinder abgeschlachtet. Das Ziel war, möglichst viele jüdische Menschen zu ermorden, zu vernichten. Mich erinnert es bis in die Ausführung hinein an das, was die Nationalsozialisten getan haben. Und es erinnert mich an Überlegungen, dass der Antisemitismus der Hamas, die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist, vom Nationalsozialismus inspiriert ist. Einige Expertinnen und Experten sehen hier eine historische Kontinuität.

Sich dem Schmerz der Schuld der Vorfahren zu stellen ist zunächst das Wichtigste. Was kann jeder und jede noch tun, um den eigenen Antisemitismus zu mildern?

Ich schlage einen anderen Ansatz vor: Wie befördert man eine Kultur, die darauf verzichtet, Sündenböcke zu finden? So dass Einzelne eben nicht immer bei jedem Konflikt sofort anfangen, nach Schuldigen zu suchen oder andere von vornherein gleich abzuwerten. Aber natürlich kann man auch in der alltäglichen Kommunikation auf sich selbst achten: Wie spreche ich über andere? Wie reden wir über andere? Es ist eine Frage der Wortwahl, des Tonfalls, der Haltung und eben der Reflexion.

Wolfgang Hegener ist Psychologe und Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin und Hochschullehrer an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Quellen

Wolfgang Hegener: Schuld-Abwehr. Psychoanalytische und kulturwissenschaftliche Studien zum Antisemitismus. Psychosozial 2019

Karin Johanna Zienert-Eilts, Wolfgang Hegener, Johann Georg Reicheneder (Hg.): Herbert Rosenfeld und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Leben – Werk – Wirkung. Psychosozial 2020

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 3/2024: Ich bin mehr als die Krisen, die hinter mir liegen