Der Patient, Mitte 30, der von seinen Herzstichen, Angstanfällen und seiner großen Unsicherheit in der Gegenwart von anderen Menschen erzählte, hatte einen Lebenslauf hinter sich, wie er bei muslimischen Migrantinnen und Migranten der zweiten und dritten Generation nicht selten ist: In Ägypten auf dem Land ohne den Vater aufgewachsen, den er nur im Urlaub sah, eine unglückliche Mutter unter der Aufsicht ihrer Brüder, zum Schulbeginn nach Deutschland, wegen des Heimwehs der Mutter zwei Jahre später wieder…
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ihrer Brüder, zum Schulbeginn nach Deutschland, wegen des Heimwehs der Mutter zwei Jahre später wieder nach Ägypten zu den Großeltern, wo er aber niemanden kannte und sehr einsam war.
Ein Kontaktversuch des Achtjährigen zu einem älteren Cousin mündete in einer sexuellen Belästigung, mit elf Jahren wurde er von einem fremden Jungen auf dem Heimweg fast vergewaltigt. Über beide Vorfälle konnte er mit niemandem sprechen, man hätte ihm schlicht nicht geglaubt.
Der Vater war schwierig, rechthaberisch und unnahbar und lässt auch heute noch keinerlei Widerspruch zu. Als Kind hatte er abends oft an der Straße auf ihn gewartet und später Schläge bekommen, weil er das Haus verlassen hatte. Mit 13 kehrte er dann allein nach Deutschland zurück und wohnte in der Familie eines Onkels.
Diagnose: Schadenzauber
In der Schule in Deutschland war er Einzelgänger und ein ängstlicher und schlechter Schüler, quasi ein funktionaler Analphabet, schaffte aber mit einer praktischen Grundausbildung im Kfz-Handwerk schließlich trotzdem seinen Hauptschulabschluss und arbeitete danach sehr fleißig in verschiedensten Jobs. Die letzte Stelle verlor er, weil er sich von einem Kollegen zu seiner Unterschrift unter einen Protestbrief überreden ließ, worauf sein Zeitvertrag nicht verlängert wurde.
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Bei seiner Beschneidung als Kind in Ägypten war dem Arzt ein Fehler unterlaufen, so dass sein Penis verunstaltet war. Als er heiraten wollte, machte er sich große Sorgen, deswegen keine Frau zu bekommen. In dieser Situation kam für ihn nur seine in Ägypten lebende Cousine infrage, mit der er schon in seiner Kindheit eng befreundet gewesen war. Jede andere Frau, so seine Überzeugung, würde ihn nach der Hochzeitsnacht verlassen. „Es kam, wie ich es befürchtet hatte, anfangs ging sexuell gar nichts.“
Nach der Hochzeit zurück in Deutschland, war die Situation schwierig, er hasste seine Frau damals regelrecht und war eine längere Zeit sehr aggressiv. Wegen dieser auffälligen Veränderung ging das Paar zu einem Imam, der den Einfluss von Schadenzauber „diagnostizierte“, der die beiden trennen sollte, was psychologisch eine Externalisierung des Konfliktes ermöglichte. Er führte verschiedene Rituale durch, worauf sich die Situation langsam beruhigte.
Die Ehe läuft inzwischen recht gut, trotzdem hat er Sorge, dass seine Frau ihn doch irgendwann verlassen könnte, insbesondere dann, wenn sie ihm im Streit vorwirft, dass er kein richtiger Mann sei, weil er sich von allen herumkommandieren lasse und zum Beispiel auch mit den zwei Kindern scherze und spaße, zu denen er ein gutes und herzliches Verhältnis hat. „Das macht mich so wütend, dass ich sie am liebsten ohrfeigen würde!“
Religiöse Selbstzweifel
Seine damalige Lebenssituation war geprägt von Verlassensängsten, einer unbefriedigenden Sexualität, fehlender Bildung, Arbeitslosigkeit, einer beengten Wohnsituation und nicht zuletzt von Schulden, da sich seine Eltern immer wieder wie selbstverständlich Geld von ihm liehen, es aber nicht zurückzahlten.
Er war ein sympathischer Mann – sehr unsicher und voller Selbstzweifel, aber auch recht witzig und verschmitzt. Er war religiös, betete regelmäßig und fastete im Ramadan, war aber in der geistigen und religiösen Welt des ägyptischen Dorfes seiner Eltern gefangen, wo die Religion – wie sonst auch in der Welt – zur Stabilisierung der dortigen sozialen Verhältnisse diente. In dieser Welt ist die wichtigste Aufgabe und Ehre des Mannes, seine Familie zu versorgen und zu beschützen und gleichzeitig ein hilfreicher Sohn für seine Eltern zu sein. Diese untermauerten ihren absoluten Gehorsamsanspruch gegenüber meinem Patienten massiv religiös, obwohl er ihnen eigentlich nur einen respektvollen Umgang schuldig war. Das hieß für ihn, jeder noch so unsinnigen Forderung nachzukommen und seine Bedürfnisse und die seiner eigenen Familie in den meisten Fällen hintanzustellen.
Ein Ausweg war nicht wirklich möglich, die emotionale Abhängigkeit von der Mutter ließ nichts Eigenes zu, sein Vater war keinesfalls ein Vorbild, sondern machte ihm Angst; die emotionale Nähe zu einem männlichen Freund, ersehnt und gefährlich zugleich, war eine unlösbare Konfliktsituation.
"Männersache, Mama!"
Mein Patient war sehr unsicher, ob Änderungen seines Verhaltens mit seiner Religion im Einklang standen, insbesondere eine vermehrte Abgrenzung gegenüber den Eltern. Nun ist der Islam als Weltreligion ausreichend flexibel und nicht nur in einem ägyptischen Dorf, sondern in den unterschiedlichsten Kulturen und Gesellschaften der Welt heimisch, auch in Europa. Er kann sich in das konkrete Alltagsleben seiner Anhängerinnen und Anhänger integrieren, ist aber als Religion von Glaube und Handlung in vielen Dingen nicht beliebig: Gebetszeiten, Fasten- und Speiseregeln sowie die Bekleidungsvorschriften sind dafür Beispiele.
Daher benötigte der Patient nicht nur eine sichere Therapiebeziehung, sondern auch einen religiösen Schutzraum, in dem er mithilfe von Beispielen aus dem Koran, der Prophetenbiografie und der islamischen Tradition neue Denk- und Handlungsmuster und auch ein stabiles Selbstbild als muslimischer Mann entwickeln konnte, das modern und gleichzeitig islamisch sein sollte. Innerhalb dieses Schutzraumes musste er sicher sein können, dass ich mit ihm darauf achtete, seine religiösen Grenzen einzuhalten, ihm aber dennoch die Entscheidung darüber belassen würde.
Die Panikattacken waren in der Therapie schnell verschwunden, sehr viel schwieriger war es für ihn, einen autonomen Umgang mit den Eltern zu erreichen. Wir schauten uns an, was die Religion wirklich dazu sagt, und prüften den Realitätsgehalt seiner Ängste. Ich hielt mit ihm seine Unsicherheit aus, ermunterte ihn, gewonnene Einsichten umzusetzen, und besprach mit ihm seine bisherigen Erfahrungen. Schließlich forderte er unter Umgehung der stets ängstlich vermeidenden Mutter direkt vom Vater einen Teil des Geldes zurück („Männersache, Mama!“), das er diesem vor langer Zeit geliehen hatte – und das er zu seiner Überraschung auch erhielt. Damit ermöglichte er seiner Frau, die ihre kranke Mutter mehrere Jahre nicht mehr gesehen hatte, einen mehrwöchigen Besuch in Ägypten, was in der Verwandtschaft seinen Ruf als treusorgender Ehemann festigte.
Er fand eine unbefristete Arbeitsstelle, in der er zufrieden ist. Der Erfolg seiner Frau in einem Integrationskurs machte ihm Mut, einen Alphabetisierungskurs zu besuchen, um beruflich weiterzukommen. Inzwischen hat er eine größere Wohnung in einer besseren Wohngegend. Schließlich begab er sich nach einiger therapeutischer Vorbereitung sogar in urologische Behandlung, so dass nach zwei Operationen erstmals ein normaler Geschlechtsverkehr möglich wurde.
Ein muslimischer Therapeut für einen muslimischen Patienten
Sowohl bei seiner Frau als auch in seiner Familie erlebte er eine zunehmende Akzeptanz als zuverlässiger und verantwortungsvoller Sohn der Familie. Der Weg dorthin kostete ihn allerdings die Überwindung vieler Ängste, die er ohne die Sicherheit eines muslimischen Therapeuten wohl nur schwer bewältigt hätte. Einen Imam, dem er vertraute, als Seelsorger einzuschalten wäre nicht ohne Risiko gewesen, da es unter diesen teilweise sehr konservative und unnötig enge Einstellungen gibt, die hier letztlich kontraproduktiv gewesen wären.
Einen sehr einsichtigen Satz hörte ich von meinem Patienten beim Abschlussgespräch, als er meinte: „Wissen Sie, Herr Doktor, ich glaube, der Imam hat sich damals geirrt. Das war kein Schadenzauber, um uns zu trennen, ich konnte nur nicht glauben, dass meine Frau bei mir bleibt, aber sie hat mich trotz meiner Aggressivität nicht verlassen!“
Ein muslimischer Patient braucht nicht unbedingt und in jedem Fall einen muslimischen Therapeuten, aber oft ist es schon hilfreich und manchmal geht es auch wirklich nicht anders.
Dr. Ibrahim Rüschoff ist ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis in Rüsselsheim und Mitherausgeber des Buches Islamintegrierte Psychotherapie und Beratung. Professionelle Zugänge zur Arbeit mit Menschen muslimischen Glaubens. (Psychosozial 2021)