Adolf Eichmann handelte nur, wie ihm aufgetragen wurde. Er war ein Bürokrat, der sorgfältig seine Aufgaben erledigte. War der Mann, der die Deportation und Ermordung von mehreren Millionen Juden unter Adolf Hitler maßgeblich vorantrieb, kein psychopathisches Monster, sondern Opfer seines Gehorsams?
Das Bild vom wehrlosen Untertan leiteten Forscher aus den weltberühmten Experimenten von Stanley Milgram und Philip Zimbardo ab. Die beiden amerikanischen Psychologen hatten in den 1960er und 1970er Jahren…
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1960er und 1970er Jahren gezeigt, wie unauffällige Bürger zu Folterknechten und Mördern werden können. Sie folgten einfach nur blind Anweisungen und Regeln, so die Schlussfolgerung.
Doch die Unterwerfung und blinde Tyrannei, wie sie Milgram und Zimbardo untersucht haben, gebe es in der Form nicht, sagen Forscher heute. Auch frühere Erkenntnisse zum Mitläufertum und zur Entstehung von Antipathie und Hass zwischen zwei Gruppen scheinen aus moderner Perspektive fragwürdig. Das zumindest zeigt das Buch Social Psychology – Revisiting The Classic Studies, das Joanne Smith und Alexander Haslam herausgegeben haben. Darin interpretieren namhafte Sozialpsychologen von heute die Studien von damals neu.
Tödliche Elektroschocks auf Anweisung
Viele Sozialpsychologen suchten in der Nachkriegszeit nach Erklärungen. Warum konnte Nazideutschland überhaupt entstehen? Wie konnten Menschen andere Menschen diskriminieren, ausgrenzen, wegsperren, foltern und ermorden? Und weshalb schauten so viele dabei zu? „Diese Fragen waren formgebender und inhaltlicher Anstoß für die meisten sozialpsychologischen Experimente“, schreiben die Herausgeber des Buches. Weltberühmte Studien entsprangen diesem Eifer. Sie überraschten und regten auch Laien an, über ihr eigenes Handeln nachzudenken.
So auch die Erkenntnisse aus der Studie zur Unterwürfigkeit, die der amerikanische Psychologe Stanley Milgram durchführte. Offiziell lud dieser 1961 zu einer Gedächtnisstudie ein. Tatsächlich untersuchte er, wie weit sich die Versuchsteilnehmer an seine Anweisungen halten würden. Sie sollten dafür in die Rolle eines Lehrers schlüpfen, der einen Schüler mit Elektroschocks bestrafen sollte, wenn dieser sich nicht richtig an zuvor gelernte Wortpaare erinnerte. Die Schocks wurden dabei zunehmend stärker: Zu Beginn betrugen sie nur 15 Volt, lösten also lediglich ein Kribbeln aus, und konnten bis zur tödlichen Stärke von 450 Volt erhöht werden. Was die Probanden nicht wussten: Der Schüler war ein Schauspieler, und die Elektroschocks wurden nicht wirklich verabreicht.
Die Ergebnisse des Experiments stehen heute in jedem sozialwissenschaftlichen Lehrbuch. Alle Studienteilnehmer gingen bis 300 Volt, fast zwei Drittel bis zum Maximum von 450 Volt. Milgram schlussfolgerte, dass Menschen eine fremde Person einfach töten würden, wenn es ihnen eine Führungsperson auftrage. Heutige Sozialpsychologen wie Alexander Haslam aus Australien und Stephen Reicher aus Schottland, unterstützen dieses Fazit nicht.
Denn: Von Milgrams Experiment gab es mehr als dreißig Varianten. „Er hat solange an dem Studienablauf herumgeschraubt, bis die Ergebnisse besonders dramatisch und erschreckend waren“, sagen Haslam und Reicher. In den anderen Versuchen gingen die Probanden nicht so oft bis zum Äußersten. Kaum einer der Studienteilnehmer gab beispielsweise die überstarken Elektroschocks, wenn der Studienleiter keinen Laborkittel trug, sondern legere Kleidung. Auch unterwarfen sie sich weniger dem Druck des Studienleiters, wenn er sich mit einem anderen Forscher darüber stritt, ob mit dem Experiment fortgefahren werden solle. „Die vielen Varianten zeigen, wie wichtig die Situation ist, in der die Menschen handeln“, sagt Melanie Steffens, die an der Universität Landau Sozialpsychologie lehrt und die neuen Sichtweisen auf die klassischen Studien bereits in ihre Vorlesung einbaut.
Beim zweiten Blick auf Milgrams Studien wird deutlich: Sie beschreiben nicht nur Unterwürfigkeit, sondern bezeugen auch, dass Menschen sich Befehlen und Anweisungen widersetzen. Immerhin ein Drittel weigerte sich in dem bekanntesten Versuch, die Elektroschocks ab einem bestimmten Level noch zu verabreichen – in anderen Varianten sogar deutlich mehr. Niemand verabreichte die lebensgefährlichen Schocks, wenn bei ihm zwei Eingeweihte saßen, die frühzeitig ablehnten weiterzumachen.
Die Art, wie der Studienleiter die Probanden anwies fortzufahren, war schließlich ausschlaggebend für die Erbarmungslosigkeit in dem berühmt gewordenen Versuch, meinen Haslam und Reicher: „Die Versuchsteilnehmer handelten eher, wie ihnen gesagt wurde, wenn Milgram ihre Handlungen als Gewinn für die Wissenschaft deklarierte.“ Dachten die Probanden, sie nähmen an einer kommerziellen Untersuchung teil, widerstanden deutlich mehr Teilnehmer den Aufforderungen des Forschers fortzufahren. Wenn sie dachten, dass sie Teil einer Studie für die Yale-Universität sind, folgten sie den Anweisungen eher. Die Menschen glaubten, etwas Bedeutsames, etwas Gutes zu tun, und gaben deshalb die Schocks – nicht aber weil sie blind gehorchten.
Aus diesem Blickwinkel könnte auch das Verhalten von Adolf Eichmann und anderen NS-Bürokraten erklärt werden. „Solche Verbrechen entstehen, wenn Menschen sich mit Autoritäten identifizieren, die bösartige Handlungen als tugendhaft darstellen“, sagt der Psychologe Alexander Haslam. Verwalter des Regimes gingen also nicht nur schlicht Anweisungen nach, sondern wussten oftmals genau, was sie taten. Manche waren sogar stolz darauf, weil sie sich mit Adolf Hitler und seinen Ansichten identifizierten. Wie wohl auch Eichmann, der kurz vor seinem Gerichtsprozess einzig bedauerte, nicht mehr Juden getötet zu haben.
Was macht jemanden zum Killer?
Wiegt die Persönlichkeit also doch mehr als die Situation? Auch beim Stanford-Prison Experiment, das Philip Zimbardo 1971 durchführte, legen die Sozialpsychologen Haslam und Reicher neue Interpretationen der Studienergebnisse vor, die die Macht der Situation infrage stellen – und der Persönlichkeit der Probanden mehr Gewicht verleihen.
Zimbardo rekrutierte damals Studenten, die gemeinsam zwei Wochen lang in einer Gefängnisattrappe auf dem Universitätsgelände leben sollten. Die einen als Gefängniswärter, die anderen als Inhaftierte. Nach einer Phase der Eingewöhnung rebellierten einige der Inhaftierten gegen die strengen Regeln der Wärter und fügten sich nicht mehr ihren Anweisungen. Als ein Inhaftierter schließlich zur gewaltsamen Revolution aufrief, reagierten die Wärter ihrerseits mit Gewalt. Sie zwangen die Inhaftierten, sich auszuziehen, schikanierten und drangsalierten sie. Schon nach sechs Tagen musste das Experiment wegen der massiven Übergriffe der Wärter abgebrochen werden. Zimbardos Fazit: Die Brutalität sei eine natürliche Folge davon gewesen, in der Uniform des Wärters zu stecken und die Macht in dieser Position zu spüren. Normale Menschen würden zu Tyrannen, weil sie sich unbedacht in die Rollen einfänden, die ihnen Autoritäten vorgeben.
Ein Phänomen, das sich auch in der Zeit des Nationalsozialismus wiederfindet. Zumindest diente Zimbardos Experiment dem Historiker Christopher Browning als Schablone für das brutale Vorgehen des Reservepolizei-Bataillons 101 im deutsch besetzten Polen zwischen 1942 und 1943. Die Nazieinheit ermordete innerhalb von 16 Monaten mindestens 38 000 Juden. Unter den Polizisten befanden sich jedoch keine Fanatiker, eher halbherzige Anhänger des Naziregimes, die nicht zu ihren Taten gezwungen wurden, so Browning.
Auch der Folterskandal in dem Gefängnis Abu Ghuraib erinnerte stark an das Stanford Prison Experiment. Im Jahr 2004 misshandelten die amerikanischen Wärter die irakischen Inhaftierten. Sie zwangen diese, sich komplett zu entkleiden, prügelten auf sie ein, folterten sie mit Elektroschocks, urinierten auf sie. Auf Fotos posieren einige Wärter stolz neben den nackten Körpern am Boden.
Doch kann Zimbardos Experiment diese zwei Beispiele der Tyrannei erklären? Eher nicht, denn: Zimbardo hat den Probanden vor Beginn der Studie indirekt mitgeteilt, welches Verhalten er von den Wärtern erwarte. Er gab ihnen keine exakten Handlungsanweisungen, sagte ihnen aber, dass sie bei den Gefangenen ein Gefühl von Langeweile, Angst oder auch Willkür entstehen lassen könnten, um ihnen so die Individualität zu nehmen. Eine Anweisung, die vor allem die Wärter in Abu Ghuraib nicht erhielten.
Das Gefängnisexperiment habe solche brutalen Ausmaße angenommen, weil sich unter den Wärtern engagierte Enthusiasten befanden, die Zimbardos Erwartungen erfüllen wollten, meinen Haslam und Reicher. Die Wärterprobanden waren überzeugt, etwas Ehrenwertes zu tun. „Die Menschen handelten nicht blind, sondern wissend, nicht passiv, sondern aktiv. Sie begingen Gewaltakte, weil sie sich dafür entschieden hatten, nicht, weil sie gezwungen wurden“, sagt das Forscherteam.
In einer eigenen Gefängnisstudie, angelehnt an das Stanford-Experiment, konnten Haslam und Reicher ihre Sichtweise wissenschaftlich bekräftigen. Auch sie teilten männliche Probanden in Wärter und Insassen ein, machten ihnen aber keinerlei Vorgaben. Das Ergebnis: Die Studienteilnehmer passten sich nicht automatisch ihren Rollen an. Sie handelten nur im Gruppenverband, wenn sie sich mit der Gruppe identifizieren konnten. Die Gefangenengruppe konnte sich sogar aus einem Gemeinschaftsgefühl heraus gegen die Wärter auflehnen und gleichberechtigtere Verhältnisse erwirken.
Ebenso kritisch wie Zimbardos Rolle als Studienleiter und Anstifter betrachtet das Forscherduo auch, wie die Stichprobe für das Experiment zustande kam. Zimbardo betonte zwar, dass die Probanden keinerlei psychologische Auffälligkeiten vor oder zum Beginn der Studie aufwiesen und auch sonst ganz normale Studenten seien. Sie alle meldeten sich jedoch auf eine Zeitungsanzeige, die sie zu einer Gefängnisstudie einlud. „Wer auf eine solche Annonce reagiert, bringt womöglich schon gewisse Persönlichkeitsmerkmale mit“, sagt die deutsche Forscherin Melanie Steffens.
Eine Untersuchung an der Western Kentucky University von 2007 stützt diesen Kritikpunkt. Die Wissenschaftler veröffentlichten in regionalen Tageszeitungen zwei verschiedene Anzeigen. In der einen wurden konkret Studenten für eine psychologische Studie zum Gefängnisleben gesucht, in der anderen ließen die Forscher den Hinweis aufs Gefängnis weg. Personen, die sich auf die Gefängnisanzeige meldeten, unterschieden sich deutlich von den anderen Probanden. Sie waren eher autoritär, narzisstisch und sozial dominant, aber weniger fähig, sich in andere einzufühlen und altruistisch zu handeln.
Diese Erkenntnis passt Haslam und Reicher zufolge auch zu dem Ergebnis, dass nicht alle, sondern nur ein Drittel der Wärter gewalttätig wurde. Wäre die Situation handlungsbestimmend gewesen, hätten sich alle Wärter tyrannisch verhalten. Doch anscheinend spielt auch die Persönlichkeit eine Rolle. Haslam und Reicher nehmen daher an, dass Verhalten – gutes wie böses – immer aus einem Zusammenspiel von Situation, Persönlichkeit und einer dynamischen Interaktion zwischen beiden sowie durch die Haltung und Erwartung eines Menschen bestimmt wird.
Fatale Gruppenloyalität
Womöglich führte aber auch schlicht die Aufteilung in zwei Gruppen zu den Konflikten und der Antipathie. Das legen die drei Boys-Camp-Studien des türkischstämmigen Forschers Muzafer Sherif nahe. In den Jahren 1949, 1953 und 1954 lud er jeweils rund 20 Jungen im Alter von 12 Jahren in ein Ferienlager ein. Alle kamen aus protestantischen Familien und waren gesundheitlich und sozial unauffällig. Im Camp durften die Kinder zunächst frei Bekanntschaften und Freundschaften knüpfen. Nach einigen Tagen teilte Sherif die Jungs in zwei Gruppen ein, die immer wieder gegeneinander Wettkämpfe zu bestreiten hatten. Dabei trennte er bewusst Jungen, die sich angefreundet hatten.
Dennoch: Schon nach kurzer Zeit waren die Gruppen stark verfeindet. Eine Gruppe verbrannte die Flagge der anderen, weil diese ein Spiel gewonnen hatte. Während eines Mittagessens beschimpften sich die Jungen lautstark und begannen Tassen und Messer auf einander zu werfen. Anschließend brachen sie in die Schlafräume der anderen ein. Auch wenn eine hitzige Situation sich abgekühlt hatte, schrieben die Jungen den Mitgliedern der anderen Gruppe deutlich mehr negative Eigenschaften zu als ihren eigenen.
Noch heute gehören die Boys-Camp-Studien zu jeder pädagogischen Ausbildung dazu. Denn Sherif zeigte auch, wie die Rivalitäten aufgehoben werden können. Zum Ende des Camps stellte er die Jungen vor Herausforderungen, in denen die beiden Gruppen zusammenarbeiten mussten. Sherif gab Aufgaben vor, von deren Erfüllung beide Gruppen profitierten, die aber auch nur gemeinsam angegangen werden konnten. Die Gruppen reparierten beispielsweise gemeinsam die Wasserversorgung des Lagers oder sammelten Geld um einen Film gucken zu können. Das gemeinsame Ziel schweißte zusammen. Die Kinder riefen sich weniger Ausdrücke zu, gingen einander nicht mehr aus dem Weg und bewerteten die anderen Gruppenmitglieder positiver. Als sie erfuhren, dass sie gemeinsam in einem Bus abreisen würden, freuten sie sich und vom Preisgeld des letzten Wettbewerbs kauften die Gewinner den Verlierern Getränke.
Kritiker warfen Sherif allerdings vor, dass er nicht das Verhältnis zwischen zwei Gruppen untersucht habe, sondern wie die machtvolle Gruppe der Experimentleiter zwei schwächere Gruppen von Jungen manipuliert. Michael Platow und John Hunter beklagen in dem Buch Social Psychology – Revisiting The Classic Studies zudem, dass viele weitere Einflüsse auf das Verhalten nicht untersucht wurden. Sherif habe nicht kontrolliert, ob die wechselseitige Frustration oder auch die Erwartung eines Wettkampfes sowie die Folgen von Sieg und Niederlage besondere Verhaltensweisen bei den Jungen hervorgerufen haben – und weniger die Gruppeneinteilung. „Es ist beinahe unmöglich, zu unterscheiden, was in den einzelnen Situationen zu den beobachteten Effekten führte“, schreiben sie.
Mitläufertum oder Harmoniebestreben?
Die Realität ist viel komplexer, als Experimente überhaupt erfassen können. Das wird auch offensichtlich in der Kritik an den Konformitätsstudien von Solomon Asch. Der polnischstämmige Psychologe ging Anfang der 1950er Jahre der Frage nach, warum wir uns anderen Menschen und ihren Meinungen anpassen, auch wenn wir wissen, dass die anderen falsch liegen. Tatsächlich habe die Laborsituation wenig mit dem realen Leben gemein, schreiben die Sozialpsychologen Jolanda Jetten und Matthew Hornsey. Zudem könnten die Ergebnisse von Aschs Untersuchung auch aus einem anderen Blickwinkel interpretiert werden – nämlich als Studien zu Meinungsverschiedenheiten.
Asch bat seine Probanden, die Länge von Linien zu beurteilen. Dazu platzierte er sie zusammen mit anderen Studenten an einem Tisch. Den Männern wurde zunächst eine Linie gezeigt. Auf einem Bild sahen sie drei Vergleichslinien. Jeder sollte nun einzeln sagen, welche der drei Linien genauso lang war wie die erste. Bis auf den einen tatsächlichen Probanden waren jedoch alle anderen Teilnehmer eingeweihte Schauspieler. Reihum mussten die Männer antworten. Der Proband kam erst als Sechster dran.
In den ersten zwei Durchgängen entschieden sich die Schauspieler für die richtige Linie, ab dem dritten Mal jedoch für eine sichtbar längere oder kürzere. Insgesamt gab es zwölf dieser Durchgänge, in denen die Eingeweihten absichtlich falsch antworteten. Asch wollte nun wissen, wie die Versuchsperson sich verhalten würde. Würde sie klein beigeben und sich der Mehrheit fügen, obwohl deren Antwort unbestreitbar falsch war? Nur ein Viertel aller Studienteilnehmer, die dieses Experiment durchliefen, blieben bei ihrer Meinung und antworteten trotz des Gruppendrucks richtig. Etwa ein Drittel gab in ein bis drei Durchläufen nach und beugte sich der Mehrheitsmeinung. Rund 18 Prozent der Teilnehmer passten sich in bis zu neun Durchläufen an, jeder Zehnte in fast allen. Die meisten fügten sich, um nicht dumm oder als Außenseiter dazustehen, aber auch, weil sie befürchteten, die Studienergebnisse unbrauchbar zu machen. Wer sich anpasste, strebte oftmals nach Harmonie und Zugehörigkeit.
Aschs Studien erfuhren viel Aufmerksamkeit, weil sich die von ihm erforschte Konformität auch im echten Leben wiederfinde und Menschen etwa in Institutionen wie Schafe der Herde hinterherlaufen würden, geben die Forscher Jolanda Jetten und Matthew Hornsey die damalige Besprechung der Studien wieder. Solch ein angepasstes Verhalten habe sogar einst dazu geführt, dass Menschen der Nazipropaganda glaubten und ihren Aufforderungen folgten.
Konformität, kritisieren Jetten und Hornsey, ist im realen Leben aber keinesfalls so schwarz und weiß wie in den Aschstudien dargestellt. „Stattdessen gehört immer eine subjektive Einschätzung dazu, an welchen Stellen der Einfluss von anderen akzeptiert und wo er abgelehnt werden kann“, so die Forscher. Freunde könnten sehr wohl einer Meinung sein, etwa dass der gemeinsam geschaute Film furchtbar war. Dennoch kann ein Einzelner zugleich die Spezialeffekte loben. Ein Proband von Asch sagte nach dem Experiment auch, wäre es um eine politische Frage gegangen und er hätte eine andere Haltung zum Thema gehabt als die restlichen Teilnehmer, dann hätte er sich nicht angepasst. Ebenso zeigten spätere Untersuchungen, dass Menschen weniger konform reagieren, wenn es um Themen geht, die ihnen persönlich etwas bedeuten.
Ebenso scheinen weitere Eigenschaften bedeutsam. Jetten und Hornsey zitieren modernere Studien, die zeigen, dass jüngere Kinder eher zu Konformität tendieren als ältere, genauso wie Frauen sich eher als Männer anpassen. In Kulturen, die viel Wert auf die Familie und den sozialen Umgang legen, fügen sich die Menschen deutlich häufiger als jene in individualistischen Kulturen. Schließlich habe Konformität generell in der Gesellschaft über die Jahrzehnte immer weiter abgenommen, so die Forscher.
Letztlich zeigten die Studienergebnisse nicht ausschließlich, dass Menschen kopflos anderen in ihren Ansichten folgen, betonen Jetten und Hornsey. Denn: Es leisteten deutlich mehr Versuchspersonen Widerstand gegen die Mehrheitsmeinung, als sich Probanden beugten. Nur 11 Prozent stimmten den Eingeweihten in fast allen Durchläufen zu. Rund 57 Prozent aller Probanden fügten sich nicht mehr als dreimal in insgesamt 12 Runden.
Dass Konformität nicht immer in Gruppensituationen auftritt, zeigen auch Aschs Variationen des Experiments. Sobald eine weitere Person der Mehrheit widersprach, nahm auch bei den Versuchspersonen die Konformität stark ab. In einer Variante saßen mehrere tatsächliche Probanden am Tisch, die richtig antworteten, und nur ein Schauspieler, der dann wegen seiner falschen Antwort ausgelacht wurde.
Eine Formel mit vielen Unbekannten
Von Asch bis Zimbardo – die neuen Sichtweisen auf die klassischen Studien werfen wiederum Fragen auf. Die drängendste: Was können die Studien tatsächlich darüber aussagen, warum Menschen zu Feinden, Mitläufern oder gar Mördern werden? Fest steht: Dass Wissenschaftler heute überhaupt Erkenntnisse darüber haben und dazu so umfassend forschen, verdanken sie Wegbereitern wie Milgram, Zimbardo, Sherif und Asch. Das wissen auch die Autoren des Revisiting-Buches: „Wir können nur so weit sehen, weil wir auf den Schultern von Giganten stehen.“
Auch will keiner der Forscher die Durchschlagskraft der Studien infrage stellen. „Ebenso wie die Kritik an den Experimenten zutreffend ist, bleiben auch die Dinge, die wir aus den Studien lernen, aktuell“, sagen Michael Platow und John Hunter über die Boys-Camp-Studien. Ähnlich sehen es die anderen Autoren bei Zimbardo, Milgram und Asch. „Natürlich ändert die methodische Kritik nichts daran, dass in der Milgram-Studie immerhin zwei Drittel der Studienteilnehmer die tödlichen Elektroschocks verabreichten“, pflichtet die Landauer Professorin Melanie Steffens bei. Die Ergebnisse können durch die neue Sichtweise keinesfalls ausgelöscht werden. Die Menschen hätten sich damals drastisch verhalten, das bleibe unbestritten – und erschreckend.
Bei der Lektüre der modernen Studienschau wird dennoch deutlich, dass es trotz jahrzehntelanger Forschung bis heute nur Hinweise darauf gibt, warum Menschen zu Tyrannen werden oder weshalb sie sich Befehlen unterwerfen. Als die Sozialwissenschaftler in den 1960er und 1970er-Jahren ihre Ergebnisse veröffentlichten, dachten sie, die Antworten gefunden zu haben. Und doch wissen wir heute, dass die Studien sowohl methodisch als auch in ihrer Interpretation angreifbar sind. Die Ergebnisse der Klassiker weisen in mehrere Richtungen. Vor allem zeigen sie, dass man Menschen nicht allein durch Experimente begreifen kann. Wir handeln aus komplexen Beweggründen und keinesfalls nach Schema. Viele Faktoren führen zu einer Handlung. Die situativen Umstände, die eigene Persönlichkeit und ihr Wechselspiel: Tyrannei, Unterwürfigkeit, Mitläuferschaft entspringen einer Formel mit vielen Unbekannten.
Literatur
Joanne R. Smith, S. Alexander Haslam: Social Psychology – Revisiting the classic studies. Sage, London 2012
Stanley Milgram
1933–1984
Wie autoritätshörig sind ganz normale Menschen? Diese Frage versuchte Stanley Milgram mit seinem bekanntesten Experiment. Der Psychologe bat Probanden in ein Labor an der Yale University. Angeblich zum Herausfinden, wie sich Bestrafungen auf die Leistung des Gedächtnises auswirken. Für jede falsche Antwort eines vermeintlichen Schülers sollten die Freiwilligen einen Elektroschock verabreichen. Bedenken bügelte der Versuchsleiter ab: „Das Experiment erfordert, dass Sie fortfahren!“ Tatsächlich gehorchten die meisten Teilnehmer. Milgram berichtete, nahezu zwei Drittel seien sogar bis zum Äußersten gegangen.
Philip Zimbardo
geboren 1933
1971 schaltete der junge Psychologieprofessor Philip Zimbardo eine Zeitungsanzeige: Er suche Freiwillige für ein Experiment zum Gefängnisleben. 24 nach Ansicht von Zimbardo psychisch unauffällige Studenten wurden ausgewählt. Der Zufall entschied, wer Wärter und wer Inhaftierter war. Im Keller der Stanford University gestaltete Zimbardo Zellen für die Häftlinge. Den Wärtern ließ er nach eigenen Angaben freie Hand bei der Festlegung der Regeln. Schnell begannen die Aufseher, die Inhaftierten zu schikanieren. Nach sechs Tagen brach Zimbardo das Experiment ab. Er hatte die Kontrolle über die Situation weitgehend verloren. Einige Gefangene hatten extreme Stressreaktionen gezeigt.
Solomon Asch
1907–1996
Wie angepasst sind wir eigentlich? Das untersuchte Solomon Asch in einem berühmten Experiment. Ein ahnungsloser Proband fand sich dabei in einem Raum mit mehreren von Asch eingeweihten Personen wieder. Der Reihe nach sollte eine einfache Frage beantwortet werden: Welche von drei Linien stimmt mit einer vorgegebenen Standardlinie überein? Die Antwort war eigentlich offensichtlich. Doch manchmal gaben alle Verbündeten des Versuchsleiters eine falsche Antwort. Was tat nun die echte Versuchsperson? Überraschend häufig ging sie mit der Mehrheitsmeinung konform und gab ebenfalls die falsche Antwort.