Kann man Rache konstruktiv nutzen?

In seinem Buch „Rache. Gefangen zwischen Macht und Ohnmacht“ zeigt Reinhard Haller, wie ein guter Umgang mit dem Gefühl aussehen kann.

Die Illustration zeigt den Psychiater, Psychotherapeut forensisch-psychiatrischer Gerichtsgutachter und Sachbuchautor, Professor Reinhard Haller
Prof. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut forensisch-psychiatrischer Gerichtsgutachter und Sachbuchautor. © Jan Rieckhoff

Herr Professor Haller, warum handelt es sich bei der Rache um eine „schwierige Emotion“, wie Sie in Ihrem Buch schreiben?

Rache ist ein sehr komplexes, widersprüchliches und auch wissenschaftlich schwer zu fassendes Phänomen. Wir beschreiben sie als süß und bitter, als gerecht und unverhältnismäßig, als heilig und teuflisch. Manchmal empfinden wir sie als befriedigend oder befreiend, dann wieder als bedrückend und beschämend. Selbst wenn wir sie als Emotion bezeichnen, wird es dem Wesen der Rache nicht gerecht. Vielmehr handelt es sich um eine soziale Interaktion, die im alltäglichen Leben eine enorme Rolle spielt, aber in der Therapie wenig thematisiert wird.

Rache gilt als moralisch verwerflich und sozial unerwünscht. Sind ihr auch positive psychologische Seiten zu eigen?

Bei der Rache geht es in erster Linie um Ausgleich und Stärkung des angeschlagenen Gerechtigkeitsgefühls, welches zu den sensibelsten menschlichen Werten überhaupt zählt. Des weiteren dient Rache der Wiederherstellung des durch die Schädigung – die rächende Person war ursprünglich ja Opfer – ramponierten Selbstvertrauens.

Neben diesen psychologisch positiven Aspekten kommt der Wunsch nach Bestrafung jener Personen hinzu, die es gewagt haben, uns positive Zuwendung zu versagen oder die Liebe zu entziehen. Rache, die schon bei der Schadenfreude und dem Revanchefoul beginnt, verschafft uns Genugtuung und fördert den Selbstschutz.

Welche Folgen können Rachegefühle aus Ihrer Sicht als forensischer Psychiater und Gerichtsgutachter haben?

Rache zählt zu den wichtigsten kriminellen Motiven, auch bei den in der westlichen Welt dominierenden Beziehungsdelikten. In der letzten Zeit ist ein bedenklicher Trend zu motivarmen Delikten mit überdimensionalen Racheaktionen zu beobachten, das heißt, die Verhältnismäßigkeit zwischen Auslöser und Racheantwort ist verlorengegangen. Dies spricht für den auch außerhalb der Kriminalität festzustellenden Anstieg der narzisstischen Kränkbarkeit in unserer Gesellschaft.

Wie könnte ein guter Umgang mit Rachegefühlen aussehen? Soll man sich dazu bekennen, sie offen ausleben oder besser verdrängen?

In erster Linie ist es erforderlich, Rachegefühle aus der Verdrängung zu befreien, Rachegedanken anzusprechen und Rachebedürfnisse mit neutralen Außenstehenden zu reflektieren, besonders auch in der Therapie. Ansonsten können sie zur Ursache von Kränkungsreaktionen, zwangsartigen Grübeleien und jahrelanger Freudlosigkeit, ja von Sucht oder psychosomatischer Erlebnisverarbeitung werden.

In der Bewältigung von den jeder Rache zugrunde liegenden Kränkungsgefühlen und in der Überwindung von Vergeltungsimpulsen liegen große Chancen für eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Die ideale Umgangsform mit Rache wäre das Verzeihen, das aber nicht immer möglich ist.

Kann man Rache konstruktiv nutzen?

Rache ist nicht nur eines der wichtigsten Themen von Dramen, Opern, Kriminalfilmen und der gesamten Weltliteratur, sondern garantiert kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritt. Wenn Rache nicht auf Destruktion abzielt, sondern auf Übertreffen, setzt sie gegenüber den Schädigern ein klares Zeichen, demonstriert Überlegenheit und stärkt den Selbstwert des ehemaligen Opfers. So können die größten Kunstwerke – von Michelangelos nackten Leibern in der Sixtinischen Kapelle bis zu Robert Schumanns Sinfonien – als grandiose Ergebnisse konstruktiver Rache interpretiert werden.

Prof. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut forensisch-psychiatrischer Gerichtsgutachter und Sachbuchautor

Reinhard Hallers Buch Rache. Gefangen zwischen Macht und Ohnmacht ist bei ecowin erschienen (240 S., € 24,–)

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Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2021: Zeit finden
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