Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr, weder in Therapien noch in Talkshows. Aber über eigene Fehler und Verfehlungen sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld. Die Aggression, mit der Schuldfragen abgewehrt werden, ist spürbar gestiegen, und sie ist besonders auffällig in Paartherapien. Dort prallt „Unschuld“ regelmäßig auf Beschuldigung. Es ist bemerkenswert, mit welch peinlichen Verrenkungen selbst die offensichtlichsten Fehler verleugnet werden.
Wir alle…
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mit welch peinlichen Verrenkungen selbst die offensichtlichsten Fehler verleugnet werden.
Wir alle verdrängen unsere Schuld, weil sie auch immer Schmerz bedeutet. Viele Menschen tun sich schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Sie haben sich ein entlastendes System aus Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer. Paul Watzlawick schrieb in seiner Anleitung zum Unglücklichsein: „Es soll nur jemand versuchen, an unserem Opferstatus zu rütteln oder gar zu erwarten, dass wir etwas dagegen unternehmen. Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosomen und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, Ärzte, Chefs oder besonders Freunde antaten, wiegt so schwer, dass die bloße Insinuation, vielleicht etwas dagegen tun zu können, schon eine Beleidigung ist. Außerdem ist sie unwissenschaftlich. Jedes Lehrbuch der Psychologie öffnet uns die Augen für die Determinierung der Persönlichkeit durch Ereignisse in der Vergangenheit, vor allem in der frühen Kindheit. Und jedes Kind weiß, dass, was einmal geschehen, nie mehr ungeschehen gemacht werden kann. Daher, nebenbei bemerkt, der tierische Ernst (und die Länge) fachgerechter psychologischer Behandlungen.“
Was Watzlawick 1983 ironisch auf den Punkt brachte, ist heute, 30 Jahre später, zur Pandemie geworden: Fremdbeschuldigung, Selbstmitleid, proklamierte Opferidentität – und eine steigende Zahl von zähen, endlosen Therapien. Ein Grund dafür: Die Psychotherapie tut sich mit der Schuldfrage schwer. Zwar gehen viele Therapeuten durchaus behutsam mit dem Thema um, aber eine nicht unerhebliche Minderheit macht sich die Auseinandersetzung mit Schuldfragen vermeintlich leicht, indem sie die Schuld kurzerhand wegerklärt und Fehler nichtanwesenden Dritten in die Schuhe schiebt. Die beliebtesten Sündenböcke dafür sind noch immer die Eltern. Das bedeutet jedoch, dass der Patient in Opferfalle und Fremdbeschuldigung steckenbleibt. Es scheint fast, als hätten wir kollektiv unser Schuldbewusstsein verloren oder versuchten, es krampfhaft auszumerzen, wie eine schwere Krankheit.
Schuldabweisung macht beziehungsunfähig
Dabei hat die Zahl seelischer und anderer Grausamkeiten ja keineswegs abgenommen. Es wird – wie eh und je – gemobbt, geprügelt, verletzt, betrogen, beleidigt, gekränkt. Aber Schuld daran – haben ausnahmslos die anderen! Und nicht wenige Patienten in einer Psychotherapie suchen dort bewusst oder unbewusst eine Absolution, einen Freispruch. Geht ein Therapeut auf diesen Wunsch ein – sei es aus Bequemlichkeit, aus falsch verstandener Parteinahme oder gar aus „theoretischen“ Gründen, mag das im Augenblick entlastend sein. Längerfristig ist es jedoch fatal, Schuldfragen auszuklammern.
Aggressive Schuldabweisung und die völlige Unfähigkeit zur Selbstkritik machen auf Dauer beziehungsunfähig. Trotzdem spielen manche Therapeuten das Spiel des Selbstbetruges mit. Dann wird aus der Therapiestunde eine konspirative Sitzung, aus dem Therapeuten wird ein Verbündeter und aus der Psychosprache eine Kampfrhetorik, die dabei hilft, den Partner in die Ecke zu drängen und zum Täter umzudeuten.
In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch schreibt Fjodor Dostojewski 30 Jahre vor Freud: „Jeder Mensch hat Erinnerungen, die er nicht jedem erzählen würde, sondern nur seinen Freunden. Anderes, was er im Sinn trägt, würde er noch nicht einmal seinen Freunden erzählen, sondern nur sich selbst, und das heimlich. Aber dann gibt es noch andere Dinge, die sogar sich selbst zu erzählen er Angst hätte, und jeder anständige Mensch hat eine Reihe solcher Dinge tief in seinem Geist vergraben.“ Dieser Dreischritt trifft in besonderem Maße für das Thema Schuld zu.
Nur schuldhaft erlebte Sexualität wird verdrängt
Das Phänomen der Verdrängung hat Sigmund Freud wissenschaftlich beschrieben und theoretisch begründet. Mit „Verdrängung“ bezeichnet die Psychoanalyse den wichtigsten Abwehrmechanismus, durch den tabuisierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung des Menschen ausgeschlossen und ins Unterbewusstsein abgedrängt werden. Oft handelt es sich bei verdrängten Inhalten um schmerzliche und ängstigende Erfahrungen, die von negativen Affekten begleitet werden.
Aber was genau sind tabuisierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen, die Angst machen? Freud selbst meinte, der Mensch stoße bei der Verdrängung den Trieb und dessen Vorstellungen in das Unbewusste zurück und halte ihn dort fest. Die Verdrängung geschehe, weil die Befriedigung des Triebes mit anderen Forderungen (wie etwa Moral oder Familienehre) kollidieren würde. Als Kurzformel: Neurose entsteht durch Verdrängung von Sexualität. Die Verabsolutierung der Sexualität bei Freud ist schon der Grund des inhaltlichen Auseinanderdriftens mit Alfred Adler und Carl G. Jung gewesen; schließlich hat Viktor Frankl den Begriff „Verantwortung“ in das Freudianische Modell eingebracht, um diesen Mangel zu ergänzen.
Wenn wir die Werke Freuds aber genau lesen, stellen wir fest, dass auch bei Freud nicht jede Sexualität verdrängt wird, sondern nur schuldhaft erlebte Sexualität: etwa Inzest oder Ehebruch. Denn das wirklich Bedrohliche ist nicht die Sexualität, sondern die Schuld. Freud setzt sie manchmal mit „verbotener Sexualität“ gleich.
Die heutigen Menschen erleben das kaum noch so, Sex muss nicht mehr verdrängt werden. Verdrängt wird heute mindestens noch genauso viel schuldhaft Erlebtes wie damals: nämlich die eigene Fehlerhaftigkeit, das eigene Versagen gegenüber ideellen oder moralischen Ansprüchen.
Schuldgefühle sind nicht immer „pathologisch“
Freud beschrieb meisterhaft, dass das Verdrängte es gerne dunkel hat und keinesfalls zurück in den Scheinwerferkegel des Bewusstseins treten möchte: „Wenn man in der Therapie versucht, diese verdrängenden Regungen bewusstzumachen, bekommt man die […] Kräfte als Widerstand zu spüren.“ In der Tat: Die Konfrontation mit einer eigenen verdrängten Schuld provoziert einen Widerstand, der von scheinlogischen Erklärungsversuchen über die Fremdbeschuldigung bis zur Abwehraggression reicht.
Die Schuldverdrängung wiederum paralysiert die Fähigkeit zur Selbstkritik und führt zu einer wachsenden Selbstentfremdung. Sie verhindert persönliche Weiterentwicklung und reduziert den eigenen Handlungsspielraum. Der nunmehr unbewusste innere Konflikt beeinflusst umso mehr nämlich das Handeln – insbesondere in der Abwehraggression. Anders formuliert: Handeln aus verdrängtem schlechtem Gewissen ist besonders irrational. Allerdings ist es für die anderen leichter durchschaubar als für den Betroffenen.
In weiten Teilen der Psychotherapie sind Schuldgefühle lange mit Pathologie gleichgesetzt worden. Sigmund Freud konnte aufgrund seines Weltbildes mit Schuld wenig anfangen. Es ist auffallend, dass im über tausendseitigen Register von Freuds 19-bändiger Gesamtausgabe zwar drei Seiten lang die verwendeten Begriffe „Schuldgefühl“ und „Schuldbewusstsein“ aufgelistet sind, der Begriff „Schuld“ selbst hingegen in den gesammelten Werken Freuds nur in einer Zeile vorkommt: in Bezug auf den Vatermord. Auch im „Ellenberger“, dem Standardwerk für die Geschichte der Psychotherapieforschung, findet man im Stichwortverzeichnis keinen Hinweis auf Schuld, wohl aber jede Menge Hinweise auf Schuldgefühle. Die Schuld selbst wird in der Psychotherapie noch heute oft tabuisiert oder auf ein subjektives Gefühl relativiert. Bis in unsere Tage bieten mehr oder weniger schlaue Ratgeber an, „wie Sie Schuldgefühle überwinden und sich selbst verzeihen können“.
Schuldgefühl ist weder Therapie noch Krankheit
Selbstverständlich kennt jeder Psychotherapeut Störungsbilder, bei denen sich Patienten zu Unrecht schuldig fühlen. Klassische Beispiele sind etwa Schuldgefühle bei einer Depression, bei der das eigene Handeln in der negativsten Art interpretiert wird. Krankhafte Schuldgefühle kommen auch beim Versündigungswahn vor, bei dem der Patient der Ansicht ist, dass seine – objektiv meist harmlosen – Handlungen unverzeihlich seien und die Höllenstrafe zur Folge haben würden. Andere Neurosen lösen massive Skrupel in Form von Zwangsgedanken aus. Auch bei einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung können pathologische Schuldgefühle auftreten, wenn die Schuld in einem Konflikt prinzipiell bei sich selbst und niemals beim anderen gesucht wird.
Auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet, sind das verschwindend kleine Minderheiten, Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Und die lautet: Man hat Schuldgefühle meist nur dann, wenn man sich auch schuldig gemacht hat. Man hat sich für das Schlechte entschieden, obwohl man das Gute hätte tun können. Dieses Phänomen – die rückblickende moralische Selbstbeurteilung – ist ein Akt des Gewissens, das jedem Menschen eigen ist. Dieser Mechanismus ist außerdem kulturübergreifend zu beobachten. Er sollte vom Therapeuten weder erzeugt noch unterdrückt werden. Denn das Schuldgefühl ist an sich weder Therapie noch Krankheit.
Das Erleben persönlicher Schuld ist kein bloßes Gefühl – es hat aber häufig ein Gefühl zur Folge, wenn das Gewissen noch intakt ist. Die Einsicht in die eigenen Fehler und schuldvollen Handlungen ist ein Erkenntnisakt mit emotionaler Begleitmusik. Diese „Musik“ sind die Schuldgefühle. Es ist völlig normal und alltäglich, schuldig zu werden. Der Mensch ist ein soziales Wesen, deshalb ist sein Leben begleitet von unvermeidlichen Situationen, in denen er Unrecht erleidet oder selbst Unrecht tut.
Schuldbewusstsein erfordert Bereitschaft zur Selbterkenntnis
Im Regelfall hält sich das bei den meisten Menschen die Waage. Das erlittene Unrecht wird heute aber, so scheint es, sensibler als je zuvor wahrgenommen und dramatisch aufgeblasen, das begangene Unrecht hingegen tendenziell verdrängt. Dadurch entwickelt sich ein Ungleichgewicht, das psychologisch ungesund ist und letztlich unfrei macht.
Die Einsicht in eigene Schuldhaftigkeit setzt eine grundsätzliche Bereitschaft zur Selbsterkenntnis voraus. Man könnte auch von Wirklichkeitssinn, Bescheidenheit oder Demut sprechen: sich selbst so zu sehen, wie es der Wirklichkeit entspricht. Eine solche Korrektur des verfälschten Selbstbildes befreit.
Dem Psychotherapeuten steht das Urteil über Gut und Böse nicht zu, weil er keine richterliche, sondern eine therapeutische Funktion hat. Das bedeutet aber nicht, dass er die moralische Dimension völlig ausblendet. Er ist zwar nicht zuständig für die Lösung der Frage, ob etwas der Wahrheit entspricht oder nicht – trotzdem sollte er auf Wahrheit drängen: denn sie tut dem Patienten auf lange Sicht erwiesenermaßen besser als der Selbstbetrug.
Das „schlechte Gewissen“ zeugt von seelischer Gesundheit
Die französische Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen hat mit ihrem Bestseller Die Masken der Niedertracht 1998 eine heftige und anhaltende öffentliche Diskussion ausgelöst. Sie beschreibt darin die „Versuchung“, narzisstische Mechanismen für den eigenen Vorteil zu benutzen. „Es ist uns allen schon passiert, dass wir einen anderen manipuliert haben, um einen Vorteil zu erlangen, und wir haben alle flüchtig zerstörerischen Hass empfunden.“ Im nächsten Gedankenschritt unterscheidet sie dann Gesund von Krank: „Von den perversen Individuen unterscheidet uns, dass diese Verhaltensweise oder Empfindung nur vorübergehend war, gefolgt von Gewissensbissen oder Reue.“ Perversität hingegen folge ihren egoistischen Interessen „ohne irgendwelche Schuldgefühle“.
Schuldbewusstsein, Schuldgefühle, Gewissensbisse – das „schlechte Gewissen“ also – sind an und für sich Zeichen für psychische Gesundheit. Das klingt zunächst provokant, leuchtet aber sofort ein, wenn man etwa an die therapeutische Arbeit mit Missbrauchstätern denkt. Am Anfang der Therapie wird der traurige Tatbestand fast immer geleugnet, verharmlost und uminterpretiert. Als Therapieerfolg werten muss man ja schon einen zarten Schimmer von Unrechtsverständnis – und eben ein wachsendes Schuldbewusstsein. Es geht nicht darum, dem Missbrauchstäter Schuldgefühle einzupflanzen, es geht darum, die verdrängte Schuld ins Bewusstsein zurückzuholen. Denn nur dieses Bewusstsein von Schuld macht Reue und langfristig auch eine Verhaltensänderung möglich. Natürlich sind wir nicht alle Missbrauchstäter – aber was die Fähigkeit zum Selbstbetrug angeht, sind wir nicht so weit entfernt von ihnen.
Gesund und krank: Die beiden Spielarten von Schuldgefühlen könnten in medizinischer Terminologie als physiologisch und pathologisch beschrieben werden. Der Schmerz ist normalerweise ein physiologischer Mechanismus und hat den Sinn, auf etwas aufmerksam zu machen, was dem Körper schadet. Dieses Warnsignal ermöglicht, die Aufmerksamkeit auf den Schaden zu lenken und bewusste Heilungsprozesse einzuleiten und dem verletzten Körperteil Schonung zukommen zu lassen. Analog dazu ist das gesunde Schuldgefühl ein Schmerzempfinden der Seele, das einen Schaden anzeigt: eigenen und/oder fremden Schaden. Denn Schuld ist tatsächlich ein Schadensfall im menschlichen Leben, vor allem in der Beziehung zu anderen.
Schuldgefühle als Alarmanlage
Schmerz zwingt zum Beachten der betroffenen Stelle und leitet eine mögliche Heilung ein. Die Entschuldigung gegenüber dem anderen ermöglicht die Heilung einer Beziehungswunde, die durch ein Unrecht oder eine Boshaftigkeit entstanden ist. Je klarer dabei die Verletzung als solche formuliert wird, umso eher kann die Entschuldigung gelingen. Wie viele wirkliche Opfer sehnen sich nur nach diesem einen ehrlichen Wort! Die Bitte um Verzeihung ermöglicht aber auch die Heilung des eigenen innerpsychischen Schadens, der durch eine Ungerechtigkeit oder Bosheit in einem selbst entsteht.
Manchmal geht im Bereich des körperlichen Schmerzes die Alarmanlage los, ohne dass jemand eingebrochen wäre: pathologischer Schmerz – ein „Fehlalarm“ des Körpers, sinnlos und lästig. Phantomschmerzen nach einer Amputation etwa zählen dazu. Manche Hypochonder leiden fürchterlich unter Krankheiten, die sie gar nicht haben. Das entspricht den krankhaften Schuldgefühlen: Gefühlen des Schuldigseins ohne Schuld.
So schlimm ein pathologischer Schmerz sein mag, schlimmer ist die fehlende Schmerzempfindung: Es gibt tatsächlich Krankheiten, die deswegen besonders gefährlich werden, weil der Schmerzimpuls nicht mehr funktioniert. Die Alarmanlage ist defekt, ein lebensgefährliches Defizit. Ebenso machen fehlende Schuldgefühle den Menschen zum Ungeheuer, wie die Geschichte eindrucksvoll bewiesen hat. Große Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden von den Tätern immer wieder euphemistisch umgedeutet oder verharmlost. Der Schuldschmerz fehlt Massenmördern, Folterern und Diktatoren völlig.
Mangelndes Schuldbewusstsein engt ein
Schuldbewusstsein ist ein kreatives Potenzial: Es für denkbar und möglich zu halten, etwas falsch gemacht zu haben, öffnet neue Handlungshorizonte. Fehlendes Schuldbewusstsein bedeutet nicht etwa das Fehlen von Schuld, sondern die Verdrängung der Schuld aus dem Bewusstsein, die jetzt im Unterbewusstsein ein Eigenleben führt. Verdrängte Schuld engt den Menschen ein und nimmt ihm Handlungsspielraum. Tatsächlich macht ein gesundes Schuldbewusstsein überhaupt erst beziehungsfähig. Denn die Freiheit zum Verzeihen ist denen leichter zugänglich, die auch an sich selbst Fehler sehen.
Der Sozialpsychologe Philip Zimbardo, bekannt durch das Stanford Prison Experiment und seine Untersuchungen der Misshandlungen in Abu Ghraib, schreibt in seinem Buch Der Luzifer-Effekt, dass „wir alle für die Versuchung der finsteren Seite anfällig sind“. Er zeigt, wie normale Männer und Frauen durch situative Kräfte und gruppendynamische Prozesse zu Monstern werden. Wie könnte man sich dieser malignen Dynamik entziehen? Mit anderen Worten: Wie könnte man verhindern, dass der Schuldschmerz nicht betäubt wird und das schlechte Gewissen sich weiter regt? Zimbardo: „Indem wir damit anfangen, das Eingeständnis von Fehlern zu ermutigen, zuerst uns selbst und dann anderen gegenüber.“ Und noch deutlicher: „Sagen Sie die Zauberworte: ‚Es tut mir leid‘, ‚Ich entschuldige mich‘, ‚Verzeih mir!‘“
Für die psychotherapeutische Situation bedeutet das: Es geht nicht darum, dass der Therapeut zu einem Schiedsrichter in Fragen von Gut und Böse werden soll. Das wäre eher die Aufgabe eines Seelsorgers, der hilft, moralische Normen auf eine konkrete Situation anzuwenden. Aber die Realität der Schuld darf in der Therapie nicht ausgeklammert werden.
Es ist eine wichtige Aufgabe der Psychotherapie, Schuldgefühle wahr- und ernst zu nehmen, sie also nicht vorschnell zu bagatellisieren, umzudeuten und wegzupsychologisieren. Begründete Schuldgefühle werden immer noch allzu schnell verdrängt. Wenn Schuldgefühle beim Klienten oder Patienten auftauchen, sollte der Therapeut sie als eine Tatsache akzeptieren, mit der er behutsam umgehen muss.
Raphael Bonelli ist habilitierter Neuropsychiater und Dozent an der Sigmund-Freud-Universität in Wien. Er arbeitet außerdem als Psychotherapeut. 2013 erschien sein Buch Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen im Pattloch Verlag, München.