Im Fokus: Genozid an den Herero

Deutsche Soldaten begingen in Namibia Völkermord am Stamm der Herero. Das Trauma ist auch nach 120 Jahren noch zu spüren, so Marcella Katjijova.

Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus einem Denkmal in Windhoek zur Erinnerung an den von deutschen Kolonialgruppen begangenen Völkermord an den Herero und Nama
Der Genozid am Stamm der Herero in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika jährt sich 2024 zum 120. Mal. © dpa | Jürgen Bätz/picture alliance

Frau Katjijova, Sie haben als psychologische Beraterin am Set des Filmes Der vermessene Mensch gearbeitet, einem Film über den Völkermord der Deutschen an dem Volk der Herero im Jahr 1904. Wie kam es dazu?

Ich habe in Namibia Psychologie studiert und in den USA eine Ausbildung in traumasensibler und Suchtbehandlung absolviert. Daher habe ich in Namibia mit den Communitys gearbeitet, deren Familien Opfer des Genozids ­geworden waren. Dadurch wurde das Filmteam aus Deutschland auf mich aufmerksam und bat mich…

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Opfer des Genozids ­geworden waren. Dadurch wurde das Filmteam aus Deutschland auf mich aufmerksam und bat mich um Unterstützung. Ich habe Hintergrundinformationen gegeben, durfte das Drehbuch durchsehen und war später beim Filmdreh als psychologische Beratung vor Ort.

Filme mit gewalttätigen Szenen entstehen ja ständig, selten gehört eine Psychologin zum Filmteam. Wieso brauchten die Menschen am Set dieses Films Ihre Unterstützung?

Vor der Kamera standen nicht nur Menschen aus Deutschland, sondern auch aus Namibia, wo der Film zum Teil gedreht wurde. Viele sind Nachfahrinnen und Nachfahren der Ovaherero, wie der Stamm in Namibia korrekt heißt. Sie alle – und damit meine ich auch die deutschen Darstellerinnen und Darsteller – waren Opfer und sind es noch immer, Opfer der gemeinsamen vergangenen Geschichte. Es ist in Ordnung und nicht ungewöhnlich, sich in manchen Szenen zu schämen, sich unwohl oder schuldig zu fühlen.

Ich habe sichergestellt, dass vor allem die Laiendarstellerinnen und -darsteller aus Namibia mit den Inhalten des Filmes zurechtkamen und ihre Gefühle regulieren konnten. Ich habe bei ihnen gesessen, wenn sie Herzrasen bekamen oder in einen Schockzustand gerieten, beispielsweise bei besonders blutigen Szenen. Ich war da, um sie zu beruhigen. Wenn ich sah, dass etwas sie zu sehr belastete, sie panikartig reagierten, bat ich darum, dass diese Personen an bestimmten Tagen nicht am Set sein mussten, und in anderen Fällen verbrachte ich den Tag mit ihnen beim Dreh, gab ihnen psychologischen Halt.

Drei Frauen haben nach den Filmarbeiten bei mir eine Therapie begonnen, jetzt wo sie Bilder dazu im Kopf haben, was ihre Urgroßeltern erlebt hatten. Eine sagte zu mir: „Davon hat mir meine Oma erzählt und ich dachte immer, sie will einen Horrorfilm in meinem Kopf auslösen.“

Das sind ja massive Reaktionen, die die Menschen da gezeigt haben.

Wir sprechen von einem intergenerationalen Trauma. Ich habe mich während meiner Ausbildung darauf spezialisiert, wie traumatische Erfahrungen über Generationen weitergegeben werden. Ich wollte herausfinden, was am damaligen Genozid uns zu den Menschen gemacht hat, die wir heute sind. Ich habe viel gelesen und in den USA eine Fortbildung dazu absolviert. Plötzlich ergaben viele Dinge Sinn für mich, etwa warum Ovahereros noch heute in Gegenwart von Deutschen aufgeregt sind und das Gefühl haben, sich verteidigen zu müssen, aber nicht per se in Gegenwart weißer Menschen. Die Effekte von Trauma und Epigenetik lernen wir jetzt erst richtig zu verstehen.

Wie war es für Sie persönlich, sich mit dem Völkermord an Menschen in Ihrem Land zu beschäftigen?

Das war heftig, aus zwei Gründen: Mich berührten das Drehbuch und die Arbeit während des Films sehr, sie haben mich mit meiner eigenen Geschichte konfrontiert. Ich bin auch eine Nachfahrin der Ovaherero.

Heftig zugleich, weil ich ja am Filmset war, um anderen mit ihren Empfindungen zu helfen. Also musste ich ständig auch bei mir schauen, wie es mir ging, und musste meine Nerven beruhigen. Meine psychologische Ausbildung half mir, mit meinen Gefühlen zurechtzukommen. Während des Film­drehs habe ich mich von meinen eigenen Emotionen losgelöst und mich vollkommen auf die Schauspielerinnen und Schauspieler konzentriert.

Die Arbeit am Filmset löste bei mir sehr gemischte Gefühle aus. Bei so einem großen Projekt dabei zu sein war großartig, zugleich aber auch grausam – und wiederum notwendig. Denn ich habe etwas Wichtiges verstanden.

Was war das?

Durch den Film habe ich verstanden, was das Volk der Ovaherero wirklich durchgemacht hat – und wie viel das mit dem Heute zu tun hat. Ein Beispiel: Als der Film fertig war, sind wir damit in Namibia auf Tour gegangen. Eine Zuschauerin habe ich am Morgen nach der Vorführung des Filmes noch mal besucht, weil es ihr abends schon nicht gutging. Ich blieb etwa vier Stunden bei ihr, weil sie Beistand brauchte. Dennoch war die Erfahrung mit dem Film gut für sie. Sie ist eine Ovaherero und zugleich sehr hellhäutig. Sie sagte: „Jetzt verstehen die Leute, warum ich so aussehe und meine Haare nicht aussehen wie die von allen anderen. Sie verstehen, warum ich sage: ‚Ich bin Ovaherero‘, während die anderen mich Deutsche nennen. Das verletzt mich, denn ich bin ein Produkt einer Vergewaltigung.“

Ihr Schicksal geht auf die Kolonialisierung zurück. Die Männer mussten damals auf den Feldern arbeiten, die Frauen als Haussklaven. Alle hellhäutigen Ovaherero stammen von Frauen, die in den Küchen der Deutschen gearbeitet haben. Sie wurden vergewaltigt und bekamen Kinder, für die es keine Vaterfigur gab. Ganze Generationen sind so aufgewachsen.

Im Jahr 1904 befahl der deutsche General Lothar von Trotha die Ermordung der Ovaherero, weil diese sich den Kolonialherren widersetzt hatten. Dieser Völkermord ist nun 120 Jahre her. Wie bedeutsam ist dieser Teil der Geschichte in Namibia heute?

Ich kenne den Teil der Vergangenheit vor allem durch Erzählungen. Klar, es gibt Geschichtsbücher, in denen steht, dass Deutschland das Land übernahm, es Deutsch-Südwestafrika wurde und nach dem Ersten Weltkrieg an Südafrika ging, wo die Niederländer herrschten.

Aber es gibt nicht einmal ordentliche Gräber für unsere Ahnen. Stattdessen gibt es im Süden Namibias einen Friedhof mit gut gepflegten Gräbern für die deutschen Soldaten, die damals gestorben sind. Ich habe diesen Friedhof nur zufällig gesehen, als ich auf einer Reise nach Lüderitz war. Ich fühlte mich betrogen. Sind diese Tode bedeutsamer als die Tode unserer Vorfahren?

Deutschland hat erst 2021 eine offizielle Entschuldigung für den Völkermord an den Ovaherero ausgesprochen. Wie geht es Ihnen damit?

Das war keine angemessene Entschuldigung. Es gab schon mal eine aufrichtige Entschuldigung, nämlich als die Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul aus Deutschland hier zu Besuch war. Sie besichtigte die Grabstätte mit den anonymen Gräbern der Ovaherero, sie hörte sich unsere Geschichte an. Und sie entschuldigte sich. Als sie heimkehrte, hieß es aber, sie habe diese Entschuldigung nicht als Vertreterin Deutschlands ausgesprochen, sondern als Privatperson.

Damit galt sie nicht als offiziell von der deutschen Regierung. Heute gibt es eine solche offizielle Entschuldigung sowie eine Übereinkunft zwischen Namibia und Deutschland, dass Deutschland rund 1,1 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfe leisten wird.

Deutschland und Namibia haben schon sehr lange Vereinbarungen, und es fließt viel Entwicklungshilfe – weil wir kolonialisiert wurden. Der Genozid ist eine andere Diskussion, aber beide werden nun miteinander vermengt. Der Völkermord betraf die Volksgruppen der Ovaherero und auch der Nama. Der Mord an den Ovaherero folgte einem eindeutigen Auslöschungsbefehl eines deutschen Generals. Was wir aber heute sehen: Die namibische Regierung versucht, mit der deutschen Regierung zu verhandeln. Zwei Staaten sprechen miteinander, ohne wirklich jene einzubeziehen, deren Familien vom Genozid betroffen waren.

Namibia tut so, als sei es der Genozid gegen dieses Land gewesen, aber es betraf nur zwei Stämme. Das führt zu Reibungen zwischen den Stämmen und der Regierung. Zum Teil sagen die Politikerinnen und Politiker nicht das Gleiche, was die Ovaherero sagen würden, denn sie wollen von der Situation profitieren. Dadurch entsteht auch Streit unter den eigentlichen Betroffenen. Wir sehen viele Spannungen, mittlerweile auch eine Spaltung in den Stämmen. Das ist traurig.

Erst 1990 erlangte Namibia die Unabhängigkeit und war somit mehr als 100 Jahre Kolonie. Auf dem TV-Sender Phoenix gab es im Sommer 2023 eine Diskussionsrunde zum Völkermord, da sagte ein Talkshow-Gast: „Die Ovaherero hatten bis dato keine Zeit, ihr Trauma zu verarbeiten.“

Das stimmt definitiv. Meine Großeltern konnten Deutsch sprechen, denn sie lebten in den Zeiten der Kolonisierung. Die Menschen in Namibia arbeiteten als Sklaven für die Deutschen. Meine Eltern wiederum mussten Afrikaans lernen, wegen der niederländischen Regierung in Südafrika. Ich erinnere mich an Erzählungen meines Vaters, dass an der Oberschule die weißen Lehrer von Soldaten mit Waffen bewacht wurden. Im Klassenraum! Alle hatten Angst, versuchten, sich unauffällig zu benehmen. Es ging also von einem Trauma ins nächste über. – Wen behandelst du heute zuerst? Wessen Trauma ist größer? Unsere Generation ist so wütend. Darunter liegt viel Schmerz.

Und den spüren auch Sie.

Ja. Es heißt beispielsweise immer wieder, Deutsch-Südwestafrika sei gegründet worden. Aber weshalb? Wir waren doch schon immer hier. Diese Haltung, dass man unser Land erst gründen musste, sollte aus Geschichtsbüchern gestrichen werden. Du kannst nicht einfach ein Land gründen, nur weil du dorthin gereist bist. Wissen die denn nicht, wie sich das anfühlt?

Die Politiker saßen damals auf der Berliner Konferenz und haben auf einer Karte meine Familie ein- oder ausgeschlossen beim Zeichnen ihrer Länder. Das ist entmenschlichend. So ähnlich fühlt es sich auch heute wieder an. Wenn man auf die Gespräche zwischen Deutschland und Namibia schaut, sollte gelten: Sprich mit mir, nicht über mich. Sprich mit mir, dann kann ich dir sagen, was ich brauche.

Was wünschen sich die Ovaherero?

Wir brauchen eine Diskussion darüber, wie eine Wiedergutmachung tatsächlich aussehen kann. Nämlich dass mehr Kinder Zugang zu guter Bildung erhalten. Das wäre eine Form der Entschuldigung. Konkret auch mehr Informationen in den Schulen über den Völkermord. So verliert das Thema etwas an Schmerzhaftigkeit und die jungen Menschen werden schon früh sensibilisiert. Sie lernen die Geschichte richtig, nicht nur durch das Erzählen in Familien. Die mündliche Weitergabe schwindet. Ich erinnere schon viel weniger als mein Vater und der weniger als mein Großvater. Wenn es aufgeschrieben wird, ist es immer da.

Auch einzugestehen, dass uns Land weggenommen wurde, dass unsere Lebensgrundlage, die Viehzucht, uns geraubt wurde. Dass uns Menschen entrissen wurden. Und dass all dies traumatisch war und heute zu Differenzen untereinander führt. Diese Gespräche wollen wir auf dem Tisch haben. Und dafür werden wir kämpfen.

Ich glaube, unsere Generation weiß mittlerweile die Worte, die sie gebrauchen muss, um gehört zu werde, um die Verantwortlichen dazu zu bringen, sich hinzusetzen und zuzuhören. Wir haben Leute, die sich gut mit der Geschichte auskennen und wissen, was geschehen ist und was unsere Kulturen verloren haben, was man ihnen geraubt hat. Wir wissen, wer wir sind als Ovaherero. Wir kennen unseren Wert.

Was kann den Nachfahren helfen, mit den Folgen des Genozids umzugehen?

Wir brauchen ein richtiges Museum, in das zum Beispiel all die geraubten Dinge nach Hause zurückkehren können. Ich erinnere mich noch gut, als die ersten Gebeine von unseren Ahnen zurückkamen. Das war eine große Erleichterung. In dem Moment, als das Flugzeug den Boden von Namibia berührte, hatte ich Gänsehaut. Egal wessen Vorfahren da zurückkehrten: Ich wusste, das sind meine Leute, sie sind zu Hause. Wir können sie nun begraben. Sie können nun in Frieden ruhen.

Wenn es Bilder oder Aufzeichnungen von den Deutschen aus dieser Zeit gibt: Lasst uns diese auch in dem Museum zeigen. Das Museum soll ein Monument werden. Dort wollen wir dankbar sein für den Schmerz, an dem wir wachsen können. Es könnte ein erster Schritt zur Heilung sein. Gesehen werden und zu sehen.

Was wünschen Sie sich noch für die Menschen?

Wir benötigen einen Ort zum Trauern und für Gedenkfeste. Es sollte zudem mehr Trainings für die Menschen hierzulande geben, in denen es um Trauma und Ängste geht. Als ich in den USA die Fortbildung absolviert habe, habe ich das erste Mal erkannt, dass unsere persönliche Geschichte viel tiefer geht, unser heutiges Sein also viel weiter zurückreicht. Ich als Person muss heilen, damit es meinen Kindern besser geht. Solche Möglichkeiten, wie ich sie in den USA hatte, fehlen hier in Namibia.

Doch du wirst nicht heilen, wenn du keinen Schmerz verspürst. Die Auseinandersetzung hilft mir zu wachsen, mich zu verstehen, aber auch die Deutschen zu verstehen, vor allem die, die in Namibia leben.

Marcella Katjijova ist psycholo-gische Beraterin beim Arbeitsministerium in Namibia und erhielt mehrere Stipendien für Ausbildung und Forschung. Sie hat den Filmdreh zu Der vermessene Mensch begleitet und klärt auf YouTube und Facebook zu Mental Health auf.

Die Geschichte des Genozids

Die Kolonialisierung: Zwischen 1884 und 1915 war Deutsch-Südwestafrika eine deutsche Kolonie auf dem Gebiet des heutigen Namibias. Dort lebte der Stamm der Ovaherero mit etwa 80000 Menschen. Die Deutschen verdrängten Stammesmitglieder von ihren Ländereien und brachten sie in Existenznot. Dagegen lehnten sich die Ovaherero 1904 auf, griffen Bahnstrecken und Handelsorte in der Kolonie an.

Die Anerkennung: Im Jahr 2015 bekannte sich die Bundesregierung zu dem Genozid an den Ovaherero und den Nama. Sie beschloss 2021 nach Verhandlungen mit Namibia eine Wiedergutmachung in Höhe von 1,1 Milliarden Euro.

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 1/2024: Die schönste Zeit: Alleinsein