Ich verstecke mich im Keller vor Soldaten, die nach mir suchen. Von Angst überwältigt, weiß ich, dass sie mich auf der Stelle töten werden, wenn sie mich finden. […] Dann stehe ich in der Reihe für die Selektion; der Geruch brennenden Fleisches hängt in der Luft, und ich kann Schüsse hören. Gesichtslose und unterernährte Menschen mit gestreiften Uniformen marschieren zu den Krematorien. Ich fühle mich schuldig für das, was passiert ist, obwohl ich nicht weiß, warum. Ich erwache schweißgebadet.“
Der Mann, der…
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Ich fühle mich schuldig für das, was passiert ist, obwohl ich nicht weiß, warum. Ich erwache schweißgebadet.“
Der Mann, der diese Fragmente eines Albtraums bei einer Psychotherapie zu Protokoll gibt, ist nicht etwa ein ehemaliger Insasse eines Konzentrationslagers: Er ist der Sohn einer Überlebenden. „Er selbst kam lange nach dem Krieg zur Welt, in einem Land, das von den Gräueltaten des Holocausts weit entfernt war“, schreibt der Psychologe Natan Kellermann in einem Forschungsartikel. „Warum träumte er ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende solche Träume? Warum spüren Kinder von Überlebenden die Auswirkungen des Holocausts, als seien sie selbst dort gewesen?“
In den Nachkommen des Nazigräuels
Kellermanns Text erschien 2001. Die Fragen, die er darin stellt, sind aber nicht zuletzt angesichts des Ukrainekriegs und des Überfalls auf Israel höchst aktuell. Dass Todesängste und Gewalterfahrungen bei Betroffenen seelische Narben hinterlassen können, ist seit langem gut belegt. So leiden Überlebende des Holocausts vermehrt unter posttraumatischen Stresssymptomen wie Ängsten, Konzentrationsschwierigkeiten und Depressionen. Dieser Effekt ließ sich noch mehr als 60 Jahre nach dem Fall des Naziregimes nachweisen, wie Forscherinnen und Forscher aus Israel und den Niederlanden zeigen konnten.
In den 1960er und 1970er Jahren erschienen erste Berichte, laut denen traumatisierte Menschen ihre psychischen Verletzungen aber auch an die Nachkommen weitergeben können. Demnach scheinen die Kinder von Holocaustüberlebenden ihrerseits häufiger unter psychischen Problemen zu leiden – unter Symptomen, die bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung gehen können. Zumindest manche von ihnen schienen also gewissermaßen das Trauma ihrer Eltern „geerbt“ zu haben, auf welche Weise auch immer. In der Fachwelt hat sich für dieses Phänomen der Begriff „transgenerationale Weitergabe von Traumata“ etabliert.
In den Familien von Holocaustüberlebenden ist diese Weitergabe aber wohl nicht die Regel – anders als frühe Studien es aufgrund methodischer Mängel suggerierten. Neuere, großangelegte Untersuchungen deuten stattdessen darauf hin, dass Kinder von Überlebenden der Nazigräuel nicht signifikant häufiger psychisch erkranken als der Rest der Bevölkerung.
Erhöhte Stressempfindung
Selbst so furchtbare Erfahrungen wie ein Völkermord führen also bei den Nachkommen der Betroffenen nicht zwangsläufig zu gravierenden Störungen. Auch der von Albträumen geplagte Mann, den Natan Kellermann in seinem Artikel erwähnt, ist letztlich nur ein Einzelfall. Generalisieren lassen sich seine Reaktionen auf die elterlichen Erfahrungen sicher nicht.
In der Regel hinterlassen die Grausamkeiten, die die Eltern durchmachen mussten, wohl deutlich subtilere Spuren. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass Kinder aus entsprechenden Familien allgemein psychisch etwas verletzlicher sind als ihre Altersgenossen.
„Sie reagieren zum Beispiel im Schnitt etwas empfindlicher auf Stress“, erklärt Alexander Jatzko, Chefarzt an der CuraMed-Privatklinik Stillachhaus in Oberstdorf und Vorstandsmitglied der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT). „Das muss sich nicht unbedingt negativ auswirken. Unter bestimmten ungünstigen Umständen steigt dadurch aber das Risiko, dass sie ebenfalls psychische Probleme entwickeln. Dieser Effekt ist jedoch nicht massiv.“
Gefangen im Zyklus der Misshandlung
Ob die erlebten Gräueltaten in der Folgegeneration nachhallen, hängt aber sicher auch von der Stärke der Traumatisierung ab und wie es den Betroffenen gelingt, sie zu verarbeiten. In diese Richtung deutet etwa eine Analyse, die der Entwicklungspsychologe Marinus van IJzendoorn an der Universität Leiden durchgeführt hat.
Für den israelischen Psychologen Abraham Sagi-Schwartz von der Universität Haifa dokumentiert der aktuelle Forschungsstand vor allem ein erstaunliches Maß an Resilienz bei den Betroffenen. In dem Sammelband Trauma und Bindung zwischen den Generationen. Vererbte Wunden und Resilienz in Therapie, Beratung und Prävention schreibt er: „Diese Menschen haben es vermocht, ihre Kinder vor den eigenen schrecklichen Erfahrungen zu schützen, auch wenn sie selbst noch immer an den Folgen des Holocausts leiden.“
Dieses Resümee scheint jedoch für andere traumatisierende Erfahrungen nicht zu gelten. So ist inzwischen gut belegt, dass Opfer von Kindesmisshandlung als Eltern im Vergleich zur Normalbevölkerung signifikant häufiger selbst zu Tätern werden. Fachleute sprechen von einem „Zyklus der Misshandlung“. „Studien zeigen, dass etwa 60 bis 70 Prozent aller misshandelten Eltern die eigenen Kinder ebenfalls misshandeln“, sagt Eva Möhler, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes.
Ins Notfallprogramm schalten
Nicht alle Untersuchungen kommen zu derart hohen Zahlen. Dennoch sind sich die meisten Forscherinnen einig, dass sich Gewalt gegen Kinder fortschreibt und dass es diesen Kreislauf zu durchbrechen gilt. Doch wie lässt sich seine Existenz überhaupt erklären? Am bösen Willen liege es nicht, betont Möhler: „Häufig sagen die Eltern aufgrund ihrer eigenen Biografie: Genau das wollte ich meinem Kind nicht antun, und dann ist es trotzdem passiert.“
Dass misshandelte Eltern an ihren eigenen Ansprüchen scheitern, hat wohl unter anderem neurophysiologische Ursachen. Ein typisches Merkmal traumatischer Erfahrungen ist, dass sie durch sogenannte Trigger wieder hochgespült werden können. Dann durchleben die Betroffenen ihre Ohnmachtsgefühle und Ängste fast so, als würden sie sich wieder in derselben Situation wie damals befinden.
Ein Grund dafür liegt vermutlich in der Art und Weise, in der Traumata im Gedächtnis abgelegt werden: Man nimmt heute an, dass das Gehirn bei extremen Bedrohungen in ein Notfallprogramm schaltet. Es ist dann beispielsweise nicht mehr dazu in der Lage, die genauen Umstände – also etwa Zeit, Ort, beteiligte Personen – abzuspeichern. „Diese archaische Reaktion hilft uns eigentlich zu überleben“, erklärt die Psychoanalytikerin und Psychologin Marianne Rauwald, die in Frankfurt das Institut für Traumabearbeitung und Weiterbildung leitet. „Alles, was wir in einer Gefahrensituation nicht brauchen, wird heruntergefahren.“
Kindergeschrei als Trigger
Den Erinnerungen fehlt daher häufig der biografische Kontext. Das erschwert es den Betroffenen, sie als etwas längst Vergangenes einzuordnen. Hinzu kommt, dass sich bei einer traumatischen Erfahrung Sinneswahrnehmungen wie Geräusche, Gerüche und Empfindungen umso nachhaltiger und intensiver einprägen. „Die Gewalterfahrung wird ganz anders gespeichert als normalerweise, nämlich im sogenannten Körpergedächtnis“, sagt Rauwald. Fachleute sprechen auch von „heißen Erinnerungen“. Sie werden leicht reaktiviert, wenn die Betroffenen etwas Ähnliches hören, sehen oder riechen wie damals.
Traumatisierte Menschen reagieren dann so, als würden sie sich in einer extrem bedrohlichen Situation befinden, selbst wenn diese objektiv betrachtet ganz harmlos ist. „Ein solcher Trigger kann beispielsweise sein, dass das Kind laut ist“, erklärt Eva Möhler vom Universitätsklinikum des Saarlandes.
„Schreien ist für viele Menschen mit Misshandlungserfahrungen ein Gewaltsignal. Wenn der Sohn oder die Tochter schreit, kann das die traumatische Situation in Form von traumatypischen Flashbacks wieder hochholen. Das Kind kann in solchen Situationen als ursprüngliche Gefahrenquelle verkannt werden, gegen die das traumatisierte Elternteil sich im schlimmsten Fall selbst mit Gewalt zu wehren versucht.“
Untergang der Amygdala
Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, scheinen ihre Umgebung zudem permanent nach Anzeichen einer möglichen Bedrohung abzuklopfen. Sie sind ständig auf der Hut – ein Phänomen, das als Hypervigilanz bezeichnet wird. Gemeinsam mit Kollegen hat Möhler vor einigen Jahren Mütter im Hirnscanner untersucht, denen in jungen Jahren Gewalt angetan wurde. „Wir haben ihnen dabei Audiodateien vorgespielt, in denen erdachte Interaktionen mit den eigenen oder fremden Kindern geschildert wurden“, sagt sie. „Einige davon waren angenehmer Natur; in anderen ging es dagegen um Konflikte.“
Die untersuchten Frauen zeigten vor allem bei diesen Negativbeispielen eine erhöhte Hirnaktivität, unter anderem in der Amygdala, die für die emotionale Bewertung von Situationen zuständig ist. Den positiven Interaktionen schenkten sie dagegen kaum Aufmerksamkeit. Bei Müttern ohne Gewalterfahrungen war es dagegen genau umgekehrt. „Misshandelte Frauen scheinen ihre gesamte Energie auf potenzielle Gefahrensituationen zu richten“, interpretiert Möhler den Befund.
Wodurch dieser veränderte Fokus der Wahrnehmung genau ausgelöst wird, ist unklar. Vermutlich spielt dabei der massive Stress, dem die Mütter bei ihrer Traumatisierung ausgesetzt waren, eine wesentliche Rolle. So finden sich in der Amygdala große Mengen von Rezeptoren für verschiedene Stresshormone. Bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ist diese Hirnregion zudem oft kleiner als bei gesunden.
Forschende vermuten daher, dass die Hormone langfristig zu einem Untergang von Nervenzellen in der Amygdala führen können. Das könnte erklären, warum sie Umgebungsreize anders verarbeitet. Auch das Stirnhirn wird möglicherweise durch chronischen Stress geschädigt. Dieser Bereich ist unter anderem für die Impulskontrolle zuständig, welche bei traumatisierten Müttern oft beeinträchtigt ist. Womöglich ist das der Grund dafür, dass sie leichter die Beherrschung verlieren und selbst gewalttätig werden – gerade in Situationen, die sie als bedrohlich empfinden.
Aggression für Aufmerksamkeit
Traumata verändern also die Hirnphysiologie, was vermutlich die Gefahr von Kurzschlussreaktionen und Misshandlungen erhöht. An diese Veränderungen knüpfen noch weitere Mechanismen an, die eher auf der psychologischen Ebene zu verorten sind: Da sich traumatisierte Eltern stark auf negative Erfahrungen mit ihrem Kind fokussieren, neigen sie dazu, es in eine Täterrolle zu drängen. „Eltern mit Misshandlungshintergrund haben die Tendenz, ihre eigenen Erfahrungen mit Bezugspersonen in ihre Kinder zu projizieren“, erklärt Eva Möhler. „Der Nachwuchs wiederum identifiziert sich mit diesen Projektionen und verhält sich entsprechend.“
Möhler hat dafür ein eindrückliches Beispiel aus ihrer Klinik: Ein siebenjähriger Junge habe seine Mutter mit einem Gürtel geschlagen. Die Frau sei in ihrer Kindheit von ihren Eltern auf dieselbe Weise misshandelt worden. „Wir haben die Interaktion zwischen den beiden auf Video aufgezeichnet“, sagt Möhler. „Dabei haben wir gesehen, dass die Mutter permanent jede aggressive Regung ihres Sohnes durch ganz viel Aufmerksamkeit verstärkt hat, während sie auf funktionale, positive Verhaltensweisen kaum reagierte. Auf diese Weise hat sie ihn in die Täterrolle gedrängt.“
In der Psychoanalyse spricht man auch von „projektiver Identifikation“: Das Kind übernimmt die Eigenschaften, die ihm vom traumatisierten Elternteil zugeschrieben werden, und verhält sich entsprechend. Der geschilderte Fall sei dafür vielleicht besonders deutlich. „Grundsätzlich sehen wir diesen Mechanismus aber tausendfach in unserer Kinderpsychiatrie“, betont Möhler.
„Kinder wollen, dass ihre Eltern auf sie reagieren“, bestätigt Traumatologe Alexander Jatzko. „Wenn ihnen das mit normalem Verhalten nicht gelingt, dann werden sie eben aggressiv oder aufmüpfig. Alles ist besser, als ignoriert zu werden. Selbst Erwachsene können schlecht damit umgehen, wenn sich ihr Gegenüber desinteressiert zeigt. Das ist für kleine Kinder noch viel schwerer.“ Es ist also eine unheilige Allianz neurobiologischer und psychologischer Faktoren, die zur Transmission des Misshandlungstraumas führt.
Vertrauen führt sie an ihre Grenzen
Viele Menschen haben Grauenhaftes durchgemacht: die Gräuel eines Krieges; einen Amoklauf, bei dem Mitschülerinnen und Mitschüler auf grausame Art ihr Leben verloren; ein Erdbeben, nach dem sie tagelang – unter Trümmern begraben – um ihre Rettung bangen mussten. Kindesmisshandlung unterscheidet sich davon in einem wesentlichen Punkt: Es sind diejenigen, die eigentlich beschützen sollen, die zu Täterinnen und Tätern werden.
Dass Gewalt durch Bezugspersonen tiefe Narben in der kindlichen Psyche hinterlassen kann, steht außer Frage. Doch traumatische Erfahrungen der Eltern können die Bindung zu ihrem Nachwuchs auch auf andere, subtilere Weise stören. „Gerade junge Kinder benötigen Bindungspersonen – egal ob Mutter oder Vater –, die ihnen emotional zugewandt sind, die auf ihre Wünsche und Bedürfnisse eingehen, denen sie vertrauen können“, erklärt Marianne Rauwald. „Traumatisierte Menschen kommen an diesem Punkt schnell an ihre Grenzen.“
Möglicherweise hat das für die betroffenen Kinder langfristige Folgen. Es gibt zum Beispiel Hinweise darauf, dass die Nachkommen traumatisierter Eltern seltener einen sicheren Bindungsstil entwickeln. Ihnen mangelt es tendenziell an dem Vertrauen, sich auf ihre Mitmenschen zu verlassen. Unsichere Bindungsstile können die Fähigkeit beeinträchtigen, mit Stress umzugehen, und das Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung erhöhen.
Molekularer Ausschalter
Eventuell hinterlässt eine schlechte Eltern-Kind-Beziehung sogar eine langfristige molekulare „Gravur“ in den Erbanlagen der Nachkommen. In diese Richtung deutet eine Untersuchung, die Forscherinnen der Washington State University Anfang dieses Jahres veröffentlicht haben. Bei siebenjährigen Kindern kühler, desinteressierter Mütter stellten sie eine auffällige Veränderung fest: Bei den Jungen und Mädchen war das sogenannte NR3C1-Gen mit einer Vielzahl molekularer „Ausschalter“ versehen.
Die Erbanlage mit dem kryptischen Kürzel spielt bei der Stressverarbeitung eine wesentliche Rolle: Bei Stress schüttet der Körper Kortisol aus. Das NR3C1-Gen enthält die Bauanleitung für einen Rezeptor, der dieses Hormon erkennt. Er sorgt dafür, dass die Kortisolproduktion wieder heruntergefahren wird. Die „Ausschalter“ bewirken, dass die Zellen weniger Rezeptoren produzieren. Möglicherweise fällt dadurch die Stressreaktion stärker aus und hält länger an. Langfristig könnte das das Risiko für psychische Störungen erhöhen.
Bei Männern und Frauen, die als Kind misshandelt oder missbraucht wurden, finden sich oft ebenfalls viele „Ausschalter“ im NR3C1-Gen. Das könnte erklären, warum sie häufiger unter einer posttraumatischen Belastungsstörung oder anderen psychischen Erkrankungen leiden. Auch andere Traumata wie Kriege oder Naturkatastrophen scheinen die Zahl der Schalter zu beeinflussen. Gänzlich geklärt sind diese Zusammenhänge jedoch noch nicht.
Genbibliothek
In der Fachwelt nennt man solche Modifikationen des Erbguts „epigenetisch“. Man kann sich Gene als Bücher in einer Bibliothek vorstellen. Jedes dieser Bücher enthält die Bauanleitung für ein bestimmtes Protein – zum Beispiel für den Kortisolrezeptor. Die epigenetischen Schalter entscheiden darüber, ob die Zelle ein bestimmtes Buch ausleihen (und damit das entsprechende Protein herstellen) darf oder nicht. Den Inhalt des Buchs verändern sie dagegen nicht. Es ist ihnen aber möglich, für eine gewisse Zeit zu verhindern, dass die Zelle auf eine bestimmte Bauanleitung zugreift.
Zwar können die epigenetischen Schalter auch wieder entfernt werden, in der Regel wirken sie aber langfristig, für Monate, Jahre oder noch länger. Und sie scheinen sogar die Grenze zwischen den Generationen überwinden zu können.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie das geschieht. Einerseits deuten Studien wie die der Washington State University darauf hin, dass das Verhalten der Eltern dabei eine wesentliche Rolle spielt. Denkbar ist beispielsweise, dass Väter oder Mütter aufgrund traumatischer Erfahrungen epigenetische Modifikationen entwickeln. Als Folge ist nicht nur ihre Antwort auf Stress beeinträchtigt, sondern vielleicht auch die Fähigkeit, auf ihre Kinder einzugehen. Diese zeigen dann wiederum als Antwort auf die gestörte Beziehung ebenfalls epigenetische Veränderungen.
Möglich ist auch noch ein anderer Weg: Wenn Mütter aufgrund epigenetischer Mechanismen dauerhaft zu viel Kortisol produzieren, könnte das während der Schwangerschaft einen Einfluss auf den Embryo haben – etwa indem der erhöhte Kortisolspiegel beim entstehenden Kind epigenetische Änderungen induziert. In der Wissenschaft hat sich für diese These der Begriff „fetale Programmierung“ etabliert. Tatsächlich gibt es inzwischen eine Reihe von Befunden, die in diese Richtung deuten.
Weitergabe auf der Keimbahn
Umstrittener ist dagegen eine weitere Theorie: dass epigenetische Modifikationen über die Keimbahn weitergegeben werden. Sie würden demnach über die Eizelle oder das Spermium vererbt, genau wie die Erbanlagen selbst auch. Wie das funktionieren soll, ist aber noch weitgehend unklar. Denn kurz nach der Befruchtung werden eigentlich sämtliche epigenetischen Schalter entfernt. Ansonsten würden sie die Entwicklung des Embryos stören.
Alle drei Mechanismen könnten im Prinzip erklären, warum sowohl traumatisierte Eltern als auch ihre Nachkommen oft ähnliche epigenetische Änderungen aufweisen. „Dass dem so ist, dafür gibt es inzwischen gute Hinweise“, meint Alexander Jatzko aus Oberstdorf. „Welche dieser Mechanismen dafür genau verantwortlich sind, lässt sich momentan jedoch noch nicht sagen.“
Misshandelte Mutter, traumatisierte Tochter
Vermutlich gibt es nicht „den einen“ Mechanismus, der dafür sorgt, dass traumatische Erfahrungen in der Folgegeneration nachhallen. Stattdessen spielen wohl Veränderungen der Hirnphysiologie, psychologische Effekte, gestörte Beziehungsmuster und epigenetische Phänomene zusammen und verstärken einander. Gerade der Beitrag der Epigenetik ist aber noch keineswegs vollständig geklärt.
So bezweifelt die klinische Psychologin Iris-Tatjana Kolassa von der Universität Ulm, dass epigenetische Effekte für die Transmission von Traumata eine wesentliche Rolle spielen. „Es gibt aus meiner Sicht noch keine wirklich überzeugenden wissenschaftlichen Belege für diese These“, meint sie.
Am Universitätsklinikum Ulm wurde vor einigen Jahren eine Studie ins Leben gerufen, die klären soll, inwieweit sich Kindheitserfahrungen von Müttern auf ihre Söhne und Töchter auswirken. „Wir haben darin rund 550 Mutter-Kind-Paare untersucht“, sagt Kolassa. „Bei rund 100 von ihnen haben wir auch nach etwaigen epigenetischen Modifikationen gesucht. Wir haben zwar gesehen, dass bei misshandelten Müttern die epigenetischen Schalter verschiedener Stressgene verändert waren. Bei ihren Kindern fanden wir diese Änderungen aber nicht – es gab also gar keine Übereinstimmung.“
Wenig Grün, wenig Geld, andere Gegend
Die Wissenschaftlerin ist zwar auch davon überzeugt, dass traumatische Erfahrungen in der Folgegeneration negative Effekte haben können. Als Erklärung dafür vermutet sie aber nicht die Vererbung epigenetischer Schalterstellungen oder psychische Mechanismen, sondern ganz andere Gründe: etwa dass traumatisierte Menschen aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen ein höheres Risiko haben, arbeitslos oder alleinerziehend zu sein, oft in schlechteren Gegenden mit mehr Lärm, Luftverschmutzung und weniger Grünflächen wohnen und weniger Geld haben, um sich beispielsweise gesund zu ernähren. „All das sind natürlich auch keine guten Bedingungen für die Entwicklung und Gesundheit ihrer Kinder“, sagt sie.
Sie warnt zudem vor dem Gedanken, dass die Weitergabe eines Traumas unausweichlich sei. Auch Eltern, die selbst Fürchterliches durchlitten hätten, könnten gesunde Kinder großziehen. Wer misshandelt wurde, werde nicht zwangsläufig selbst zur Täterin oder zum Täter – die Mehrzahl schaffe es, diesen Zyklus zu durchbrechen. „Ein Kind belasteter Eltern trägt vielleicht ein erhöhtes Risiko“, sagt sie, „das bedeutet aber nicht, dass es automatisch psychisch erkrankt oder gar eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt. Wenn dieser Eindruck entstünde, wäre das fatal.“
Trigger
Als Trigger wird ein Reiz bezeichnet, der in einer traumatisierten Person die Erinnerung an das Trauma wachruft. Er lässt sie nicht nur an das Ereignis denken, sondern reaktiviert die Gefühle von Angst oder Ohnmacht, die sie in der Situation hatte. Solche Auslöser können etwa ein Geruch sein, der die Person an das Trauma erinnert, ein anderer Mensch, ein Geräusch, ein Bild oder ein spezifischer Satz. Oft sind Trigger individuell und schwer vorhersehbar.
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