Raus aus der Erschöpfung

Ständiger Stress bringt Leib und Seele aus dem Takt. Die bitteren Folgen: Zerschlagenheit, Erschöpfung. Wie wir unser Gleichgewicht wiederfinden können

Die Illustration zeigt eine Frau in einem Segelboot auf einem See in  Form eines Gesichtes, inmitten einer schönen Landschaft mit einem schönen, weißen Vogel
Die Hektik unseres Alltags erschöpft uns. Besinnung auf kindliche Gelassenheit und raus in die Natur - das hilft. © Orlando Hoetzel für Psychologie Heute

Montags morgens fühlte sie sich völlig zerschlagen und musste sich aus dem Bett quälen. Ihr erster Gedanke war: Wie soll ich nur die Woche überstehen? Heute das Teamtreffen, morgen der Elternabend, übermorgen den ganzen Tag Fortbildung. Einkaufen, kochen, putzen, die Tochter aus der Schule abholen.

Alles erschien Sabine Seebach, wie wir sie hier nennen wollen, wie ein unüberwindlicher Berg. Am liebsten hätte sich die Kitaleiterin die Decke über den Kopf gezogen. Die Arbeit mit den Kindern, die ihr immer…

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immer Freude gemacht hatte, strengte sie nur noch an. Die vielen organisatorischen Aufgaben erdrückten sie. Abends konnte sie sich zu nichts mehr aufraffen. Wenn Freundinnen anriefen und mit ihr ins Kino gehen oder eine Runde joggen wollten, lehnte sie ab. „Ich bin zu kaputt. Ich muss mich ausruhen.“

Doch weder auf dem Sofa noch in ihrem geliebten Liegestuhl im Garten wollte sich die ersehnte Ruhe einstellen. Im Kopf ratterte es unaufhörlich. Sie geriet in einen Grübelzwang. Was ist nur los mit mir? Warum bin ich so undiszipliniert? Andere schaffen es doch auch. Warum stresst mich alles? Sie fing an, wichtige Termine zu vergessen, und war ständig gereizt.

Nachdem sie zum dritten Mal ihre Tochter wegen einer Nichtigkeit angebrüllt hatte und sich hinterher elend fühlte, konnte sie sich endlich eingestehen, dass etwas nicht stimmte. Bei ihrer Hausärztin brach sie weinend zusammen: „Ich lebe gar nicht mehr. Ich funktioniere nur noch, und nicht mal das kriege ich hin.“ Die Ärztin diagnostizierte eine chronische Erschöpfung.

Stress ist eine Infektionserkrankung

Doch was genau bedeutet das? Rund um das Wort Erschöpfung kursieren viele Missverständnisse. Wir alle fühlen uns hin und wieder erschöpft von den vielen Anforderungen des Alltags und machen Phasen durch, in denen wir uns energielos fühlen, Freude und Schwung vermissen und befürchten, das, was ansteht, nicht zu schaffen. Oft reicht ein Urlaub aus, um wieder Kraft zu schöpfen. Oder wir geben Aufgaben ab, suchen Entlastung, kümmern uns wieder mehr um das, was uns guttut, und finden so zurück ins Gleichgewicht.

Bei einer chronischen Erschöpfung reicht das nicht mehr aus. Die Betroffenen fühlen sich körperlich und emotional dauerhaft entkräftet. Diese Art von Erschöpfung kann auch bei Burnout, einer Depression oder chronischen Schmerzzuständen auftreten. Psychophysische Erschöpfung, Erschöpfungsdepression, chronic fatigue, chronisches Erschöpfungssyndrom: Mittlerweile gibt es eine nicht nur für Laien unübersichtliche Vielfalt von Diagnosen mit teilweise ungeklärten Ursachen.

Ein chronisches Erschöpfungssyndrom – chronic fatigue syndrome – wird definiert als „ein erstmalig auftretender Erschöpfungszustand, der länger als sechs Monate andauert, sich durch Ruhe nicht bessert und die Lebensqualität erheblich einschränkt“. Etwa 300.000 Menschen in Deutschland leiden am chronischen Erschöpfungssyndrom.

Oft beginnen die Leidensgeschichten mit einer Infektionserkrankung – ähnlich wie bei Long Covid, was darauf hindeutet, dass in beiden Fällen eine infektionsbedingte Fehlsteuerung des Immun-, Hormon- und Nervensystems eine Schlüsselrolle spielen könnte (siehe Heft 7/2023: Long Covid und die Psyche). Neben extremer Erschöpfung machen den Erkrankten oft Muskel-, Glieder- und Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisschwäche, Unausgeglichenheit und Ängste zu schaffen.

Vier Phasen der Erschöpfung

Abgesehen von solchen biologischen Auslösern sind bei vielen Formen von Erschöpfung aber auch anhaltender Stress, belastende Lebensereignisse, ungesunde Lebensgewohnheiten, übertriebene Erwartungen an sich selbst und mangelnde Abgrenzung im Spiel. Die meisten länger andauernden Erschöpfungszustände entstehen nicht plötzlich, sondern entwickeln sich über Monate, manchmal über Jahre. Rückblickend lassen sich oft vier Phasen erkennen:

1. Unruhephase: Schlafstörungen, ständige Müdigkeit, Nervosität, das Gefühl, dass alles zu viel wird

2. Widerstandsphase: Nicht wahrhaben wollen, dass etwas schiefläuft, gegen die Situation ankämpfen, gleichzeitig nichts ändern wollen oder können

3. Erschöpfungsphase: Sich aufgeben, nicht mehr für sich einstehen, nur noch ja sagen, auch zu Zumutungen

4. Rückzugsphase: Dienst nach Vorschrift machen, sich zurückziehen, soziale Kontakte meiden.

Viele, die unter Erschöpfung leiden, beklagen, nur noch zu funktionieren und sich selbst verloren zu haben: „Ich hatte gar keine Kraft mehr, meine Position zu vertreten. Irgendwie erschien es mir irgendwann einfacher, auch dort zu nicken, wo ich eigentlich deutlich nein sagen wollte. Am Ende war es mir auch egal“, berichtete eine Personalberaterin der Ärztin Mirriam Prieß. „Es war, als wäre ich verschwunden, und die meiste Zeit fiel mir das gar nicht auf.“ So beschrieb ein Manager seinen Weg in die Erschöpfung, ausgelöst durch chronischen Stress.

Akuter Stress vor einer Prüfung oder einem Vortrag lässt wieder nach, wenn die Prüfung bestanden und der Vortrag gehalten ist. Nach einem guten Essen, einer erholsamen Nacht oder einem freien Tag ist das System wieder im Gleichgewicht. Bei chronischem Stress hält die Belastung jedoch an.

Das scheint ein wachsendes Problem zu sein. Laut einer Studie der Techniker-Krankenkasse, basierend auf einer repräsentativen Forsa-Umfrage aus dem Jahr 2021, fühlt sich ein Viertel der Deutschen häufig gestresst. 2013 war es noch ein Fünftel – allerdings mag der Anstieg auch mit den vielfältigen Stressoren der Coronapandemie zusammenhängen. Als Stressverursacher Nummer eins gaben die Befragten Belastungen bei der Arbeit an: zu viele Aufgaben, Termindruck, Hetze, Unterbrechungen, Informationsüberflutung. An zweiter Stelle wurden hohe Ansprüche an sich selbst genannt und an dritter die Sorge um kranke Angehörige.

Cocktail aus Stresshormonen

Für viele sei chronischer Stress inzwischen der Normalzustand, meint die Psychologin Veronika Engert, Professorin für soziale Neurowissenschaft am Institut für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena. „Die meisten von uns haben zu oft niedrigschwelligen Stress. Es sind vielleicht nur Kleinigkeiten, die uns in Erregung versetzen, aber dafür zu viele zu schnell hintereinander.“

Veronika Engert selbst arbeitet Vollzeit, ist Mutter von drei Kindern und kennt Stress nicht nur aus dem Forschungslabor. Morgens die Kinder zur Schule bringen, dann zur Arbeit fahren, im Stau stehen, schwierige Gespräche führen, nach der Arbeit schnell noch einkaufen, Abendessen machen, Rechnungen überweisen, den Vortrag für morgen vorbereiten, morgens wieder früh raus. Genauso sehe ein klassischer Tag bei ihr aus.

„Bevor unser Körper zur Ruhe kommen kann, erscheint schon der nächste Stressor. Dadurch sind wir ständig auf einem erhöhten Stresslevel und köcheln in einem toxischen Cocktail an Stresshormonen“ (siehe unten: Die Stresshypothek). Ein hoher Stresspegel befeuert Entzündungsreaktionen, begünstigt unter anderem Herzinfarkte, Schlaganfälle, Diabetes, Fettleber und Haut­erkrankungen und gilt auch als Risikofaktor für psychische Erkrankungen.

Übersehene Warnsignale

Ursprünglich ist die Stressreaktion eine Notfallantwort, die uns binnen Sekunden mit Energie versorgt, damit wir mit einer bedrohlichen Situation fertigwerden. Was uns in der Steinzeit das Leben gerettet hat, erschöpft uns heute, wenn wir nicht lernen gegenzusteuern. „Was uns heute stresst, ist in erster Linie psychosozialer Natur“, sagt Veronika Engert: die Angst, einen Abgabetermin nicht zu schaffen und die Kolleginnen zu verärgern, der Zwist mit dem Nachbarn oder der Dauerstreit mit der pubertierenden Tochter.

Im akuten Stressmodus „haut unser System alle verfügbaren Energien raus, um zu überleben“, so Engert. „Danach brauchen wir dringend eine Pause. Wir müssen gut essen, schlafen, die Muskeln brauchen Entspannung. Wenn diese Pausen fehlen, kommt der Körper langfristig auf allen Ebenen in ein Defizit, und das begünstigt Erschöpfung. Weil unser Alltag so durchgetaktet ist, dass es viel zu wenig Raum gibt für Pausen und Erholung, nimmt die Erschöpfung gesamtgesellschaftlich zu.“ Hinzu kommen die besorgniserregenden Krisen unserer Zeit: Ukrainekrieg, Klimasorgen, Inflation, Corona…

Wir übersehen die Warnsignale, weil es uns normal erscheint, gestresst zu sein. Je erschöpfter wir sind, desto weniger Energie haben wir, den angestauten Stress wieder abzubauen. So entsteht ein Teufelskreis, die Spannung bleibt im Körper. Doch je eher wir gegensteuern, desto größer werden die Chancen, wieder Kraft zu tanken und anhaltende Erschöpfung zu vermeiden.

Natur schenkt Energie

Dass eine Laufrunde durch den Park, eine Bergwanderung oder ein ausgedehnter Spaziergang am Wasser Wunder wirken kann, wissen alle, die sich regelmäßig draußen bewegen. Ein neuer Therapieansatz zur Behandlung von Stressfolgeerkrankungen macht sich die heilsame Wirkung von Wäldern, Parks, Flüssen, Seen und Meereslandschaften zunutze.

Diese „naturbasierte Therapie“ wurde von den Psychotherapeutinnen Anna Adevi und Melitta Breznik entwickelt. Sie integriert Elemente aus dem Achtsamkeitstraining, der systemischen Biografiearbeit und der Gestalt- und Verhaltenstherapie. Kern der Behandlung ist, Kindheitserlebnisse des Aufgehobenseins in der Natur ins Bewusstsein zu rufen und mit allen Sinnen zu reaktivieren, um im Alltag wieder Energie und Entspannung zu finden (siehe Glückliche Naturerlebnisse gegen die Erschöpfung). Für ein Pilotprojekt mit dem Verfahren wählten die Therapeutinnen Patientinnen und Patienten einer psychosomatischen Klinik aus, die durch eine Krise im Job, Konflikte in der Familie, die Pflege von Angehörigen oder andere Belastungen in eine chronische Erschöpfung geraten waren. Ihre Therapiegeschichten schildern Anna Adevi und Melitta Breznik in dem Buch Naturbasierte Therapie (NBT).

Frisches Holz und Sommergewitter

Eine Patientin, „Frau Negrita“ genannt, fühlte sich nach einer schwierigen Phase im Beruf sehr schnell erschöpft. Sie klagte über Schlafprobleme, Konzentrationsstörungen, ängst­liche Stimmungen und ausgeprägte Versagensgefühle. Als die Therapeutin sie nach schönen Naturerlebnissen in der Kindheit fragte, erinnerte sich die Patientin an die Farbe Grün, den Geruch von frisch geschlagenem Holz und die Stimmung draußen nach einem Sommergewitter. Außerdem fiel ihr spontan die Zeit ein, in der die Familie in einem Holzhäuschen gelebt und sie mit großer Freude eine schwarze Ziege gefüttert hatte.

Als Therapieziele benannte sie: allein im Wald wandern, selbstbestimmtes Handeln trainieren, die Natur genießen, das Zugehörigkeitsgefühl zur Natur und Welt stärken. Am sogenannten Aktivitätstag, der gemeinsam sorgfältig geplant worden war, erhielt sie von der Therapeutin unter anderem die Aufgabe, im Wald Materialien zu sammeln, daraus ein Kunstwerk zu gestalten und zu erzählen, welche Kindheitserinnerungen sie damit verband. Später machten beide einen Spaziergang zu einem Kleintiergehege. Als ihr dort tatsächlich eine schwarze Ziege entgegentrottete, war das Kindheitsgefühl wieder ganz präsent.

„Der Aktivitätstag hat mich gelehrt, tief in mir verwurzelte Erinnerungen wieder abzurufen, um einen beruhigenden, geborgenen, glücklichen und freudebringenden Zustand zu erreichen. Ich fühle mich immer wohl in der Natur, auch bei bedrohlichen Wetterbedingungen. In Zukunft weiß ich, wo und wie ich Kraft schöpfen, das Gedankenkreisen unterbrechen kann und zurück zu mir finde. Ich gehe jeden Morgen fünf Kilometer am Fluss laufen. Ich sehe es nicht als Konditionstraining, sondern als Entdeckungsreise“, notierte sie zwei Wochen nach dem Erlebnis.

Und sechs Monate später: „Ich habe den Weg zurück in die Natur, in die Berge und meistens wieder in den Garten gefunden, nachdem ich vor Klinikeintritt nichts mehr davon wissen wollte. Ich denke, dass ich die Naturerfahrungen gut in meinen Alltag integriert und einen großen Nutzen daraus gezogen habe.“

Was gibt mir Kraft?

Für andere war es heilsam, in einem Pferdestall auf Heu zu liegen, über einen See zu rudern, im Wald die Wurzeln eines Baumes zu beobachten oder in einem verwilderten Garten zu malen. Eine Forschungsgruppe in Schweden beschäftigte sich mit naturbasierten Therapien im Rahmen von Rehabilitationsprogrammen. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Naturtherapie insbesondere bei Stressfolgeerkrankungen und Depressionen wirksam ist.

Die Ansätze eignen sich auch zur Selbsthilfe. Wer Erschöpfungssignale wahrnimmt, kann sich fragen: Welches Naturerlebnis in der Kindheit habe ich als besonders positiv in Erinnerung? Wie könnte ich diese Aktivität ohne großen Aufwand zweimal die Woche in meinen Alltag einbauen? Anna Adevi und Melitta Breznik nennen ein paar Beispiele: in der Mittagspause das Gelände des Arbeitsplatzes erkunden; sich eine nahegelegene Naturoase suchen; ein Stück barfuß spazieren gehen; die Füße im nahen Fluss oder in einem Brunnen baden; auf dem Weg zur Arbeit eine Station früher aussteigen und noch ein Stück durch den Park gehen, auf einer Bank den Vögeln lauschen.

„Ganz wichtig ist, regelmäßig aus dem Abarbeitungstrott herauszukommen und etwas anderes, Freudvolles zu tun“, sagt die Stressforscherin Veronika Engert. Sie genießt das Privileg, freitags Homeoffice zu machen, und erlaubt sich an diesem Tag einen Mittagsschlaf und Pausen im Garten. „Das sind kleine Freiräume, auf die ich bestehe. Die plane ich ein und freue mich inzwischen darauf.“ Diese Vorfreude hatte sie nicht immer. Sie hält es für wichtig, die eigene Haltung zu überdenken und zu verändern. „Früher habe ich Pausen als Momente wahrgenommen, die mich daran hindern, mit meiner Arbeit voranzukommen.“ Heute ist sie in der Lage, die Ruhephasen zu genießen.

Für einen gesünderen Umgang mit Stress empfiehlt Veronika Engert mehrere Schritte. Erstens: sich bewusstmachen, was genau einen stresst. Zweitens: den Alltag gut und realistisch planen, einen kritischen Blick auf die eigenen Vorha­ben werfen und unterhalb der persönlichen Schmerzgrenze bleiben. Drittens: die eigene Einstellung hinterfragen und sich von übertrieben perfektionistischen Erwartungen befreien. Viertens: immer mal wieder innehalten, in sich hineinhorchen und die körperlichen Signale wahrnehmen. Atme ich tief oder flach? Renne ich gerade, ohne das zu wollen? Fünftens: Platz schaffen für freudvolle Aktivitäten.

Stress ist vererbbar

Außerdem, so Veronika Engert, sei es hilfreich, sich zu fragen: Wo stecke ich gerade in kräftezehrenden Konflikten? Wo leide ich zu sehr mit einem anderen Menschen mit und gehe über meine Grenzen? In einer Studie mit 211 Paaren (entweder Lebenspartner und -partnerinnen oder zwei Menschen, die einander fremd waren) konnte Engert mit ihrem Team nachweisen, dass Stress ansteckend wirkt. Im Labor musste jeweils einer der Partner ein stressiges Bewerbungsgespräch und andere Tests absolvieren, der oder die andere schaute per Videoaufzeichnung oder durch eine verspiegelte Scheibe zu.

Zum Erstaunen der Forschungsgruppe stieg der Spiegel des Stresshormons Kortisol bei den Beobachtenden proportional mit dem des aktiv gestressten Menschen, den sie beobachteten. „Wir gehen davon aus, dass das genauso im Arztzimmer, in der Schule oder im Großraumbüro passiert, wenn ich nah bei jemandem sitze, der wahrnehmbar gestresst ist und leidet“, sagt Engert. „Der empathischen Resonanz sind kaum Grenzen gesetzt, da sie sogar über die Kamera beim Anblick von Fremden getriggert werden kann. Da verwundert es nicht, dass die Kinder gestresster Eltern deren Stress abbekommen. Früh erlebter Stress wiederum macht anfällig dafür, später in eine Erschöpfung zu geraten.“

Fantasie, Mut und Beharrlichkeit

Auch die Hamburger Ärztin und Beraterin Mirriam Prieß geht davon aus, dass chronische Überforderung eine soziale Grundlage hat, die oft bis in die Kindheit zurückreicht. Die Autorin zahlreicher Bücher zu diesem Thema ist der Auffassung, dass eine Erschöpfung oft das Ergebnis gestörter Beziehungen sei. Stressprävention bedeute nicht nur, mit Entspannung, sportlichen Aktivitäten und freudvollen Pausen gut auf Stress zu reagieren.

Wichtig ist in ihren Augen vor allem, die Beziehungen zu Familie, Freunden, Kolleginnen und Vorgesetzten so zu gestalten, dass die eigenen Interessen und Grenzen gewahrt werden. Wer zu viele schmerzhafte Kompromisse macht, sich im Kümmern um andere verliert und über die Maßen anpasst, laufe Gefahr, rastlos umherzuirren und sich zu erschöpfen. Prieß stellt die provokative Frage: „Haben Sie einmal überlegt, ob Sie, obwohl Sie morgens aufstehen und abends ins Bett gehen, noch am Leben sind? Wie viel Leben ist noch das Ihre, und wie viel davon ist fremdbestimmt?“

Das wurde für die Kitaleiterin Sabine Seebach zur Schlüsselfrage. Sie erkannte, dass sie nicht geschaffen war für die Leitungsposition und die damit verbundenen Aufgaben ihr nicht lagen und sie wegführten von dem, was ihr wirklich Freude machte. Diese Einsicht war erst schmerzhaft und dann befreiend. Sie gab die Leitung ab und arbeitet wieder als Erzieherin. In der Reha entdeckte sie Qigong wieder neu und nimmt sich nun jeden Tag eine halbe Stunde Zeit dafür. „Die Übungen helfen mir, mich wieder zu spüren und klar zu werden im Kopf. Ich habe wieder Energie.“ Viele Wege führen aus der Erschöpfung. Es braucht radikale Ehrlichkeit, Rückbesinnung auf freudvolle Erlebnisse und Kraftquellen, Fantasie, Mut, sich im Gespräch zu vertreten, auch unkonventionelle Ideen umzusetzen – und Beharrlichkeit.

Stress als Konzept

Stress ist eine Anpassungsreaktion des Organismus in beanspruchenden oder bedrohlichen Situationen. „Wenn wir fühlen, wie uns das, was wir tun – oder was uns angetan wird –, anstrengt und abnutzt, dann haben wir eine vage Vorstellung davon, was mit Stress gemeint ist“, schrieb der Mediziner Hans Selye 1956 in seinem Buch The Stress of Life. Selye hat das Konzept Stress geprägt. Er unterschied zwischen „gutem“, als anregend und aktivierend empfundenem Eustress und negativem Disstress, der als belastend und überfordernd erlebt wird.

Quellen

Anna Adevi, Melitta Breznik: Naturbasierte Therapie (NBT). Stressfolgeerkrankungen landschafts-und kindheitsorientiert behandeln, Hogrefe, 2022

Eva Asselmann: Easy Relax. Raus aus der Stressfalle in 20 Sekunden. Ariston, , 2023

Matthias Marquardt: Erschöpft. Warum uns allen die Kraft ausgeht und was wir dagegen tun können. Lübbe Life, 2022 (2. Auflage)

Mirriam Prieß: Finde zu Dir selbst zurück. Wirksame Wege aus dem Burnout. Südwest, 2023 (4. Auflage)

Veronika Engert u.a.: Cortisol increase in empathic stress is modulated by emotional closeness and observation modality. Psychoneuroendocrinology, 45, 2014, 192–201

J. U. Blasberg u.a.: Empathic stress in the mother-child dyad: Multimodal evidence for empathic stress in children observing their mothers during direct stress exposure. Journal of experimental psychology. General, 10.1037/xge0001430. Advance online publication. https://doi.org/10.1037/xge0001430

Luciana D’Alessio u.a.: Reducing Allostatic Load in Depression and Anxiety Disorders: Physical Activity and Yoga Practice as Add-On Therapies. Frontiers in Psychiatry, 11/501, 2020

Jenny Guidi u.a..: Allostatic Load and Its Impact on Health: A Systematic Review. Psychotherapy and Psychosomatics, 90, 2021, 11–27

E. Sahlin u.a. Using nature-based rehabilitation to restart a stalled process of rehabilitation in individuals with stress-related mental illness. International Journal of Environmental Research and Public Health, 12/2, 2015, 1928-1959

Jan Schwenkenbecher: Stress lass nach. Max Planck Forschung 1/2022.

TK Stress-Studie 2021 „Entspann dich, Deutschland“. https://www.tk.de/presse/themen/praevention/gesundheitsstudien/tk-stressstudie-2021-2116458

Dieser Artikel befindet sich in der Ausgabe: Psychologie Heute 10/2023: Raus aus der Erschöpfung