Jeder Alltagsstress bringt unseren Körper aus seinem normalen Trott: Der Organismus verlässt vorübergehend sein Gleichgewicht – die Homöostase – und schaltet in einen höheren Gang. Im Prinzip ist das auch sinnvoll: Während einer Prüfung oder eines Vorstellungsgesprächs geht der Puls schneller, der Blutdruck steigt, Reserven werden mobilisiert. Dieses flexible Ausscheren aus dem Ruhemodus nennt man Allostase. Ist die Aufregung dann vorbei, schaltet der Organismus wieder herunter: Gefahr gebannt, alles gut,…
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dann vorbei, schaltet der Organismus wieder herunter: Gefahr gebannt, alles gut, bitte ausruhen.
Das Problem: Jedes Hoch- und Runterschalten kostet Energie und erhöht den Verschleiß. Werden wir im Alltag immer wieder in kurzen Intervallen gestresst, hat der Körper nicht genug Zeit zur Erholung und Regeneration. Jeder neue Stressor ist dann eine Hypothek, die nicht rechtzeitig abgetragen werden kann, bevor schon wieder die nächste Hypothek aufgenommen werden muss. Der Körper häuft Belastungsschulden an.
Immunstörung, Schmerz, Erschöpfung
Die Psychophysiologen Bruce McEwan und Eliot Stellar prägten für dieses Schuldenkonto im Jahr 1993 den Begriff „allostatische Last“ (allostatic load). Sie wiesen nach, dass eine solche Kumulation von Stress das hormonelle Gleichgewicht und sogar neuronale Schaltkreise und Gehirnstrukturen dauerhaft verändert.
Welche allostatische Last ein Mensch angehäuft hat, lässt sich abschätzen. Dazu verwendet man Biomarker wie etwa die Konzentration des Stresshormons Kortisol und anderer Botenstoffe, zusammengefasst in der allostatic load battery. Oder man setzt Fragebögen zur Selbsteinschätzung von Stress, psychischer Belastung und Wohlbefinden ein, etwa den Psychosocial Index. Mögliche Langzeitfolgen einer hohen allostatischen Last sind Immunstörungen, Entzündungen und chronischer Schmerz, aber auch Depression, Angst und Erschöpfung.
Zur allostatischen Last tragen vor allem Stressoren bei, denen wir über lange Zeit immer wieder ausgesetzt sind – und davon gibt es eine Menge, wie der Neuropsychologe John Cacioppo einmal schrieb: „Wir haben es oft jahrelang mit demselben arroganten Chef, derselben Pendlerstrecke, denselben Sorgen über Gesundheitsvorsorge und Ruhestand und denselben Gefühlen sozialer Isolation zu tun.“
Risiken und Schützendes
Ein italienisches Team um die Psychologin Jenny Guidi hat in einem Forschungsüberblick Risikofaktoren für das Anhäufen allostatischer Last zusammengetragen. Unter anderem waren dies niedriges Einkommen, niedrige Bildung, schlechte Wohnverhältnisse, die Pflege der Eltern oder eines schwerbehinderten Kindes, hoher Arbeitsstress mit wenig Erholung, Stress durch eine Umstrukturierung der Firma und Selbständigkeit. Auch der bittere Eindruck, dass die eigene Arbeit zu wenig Anerkennung findet, oder das Gefühl, im Leben ungerecht behandelt zu werden, kann allostatische Last auftürmen.
Das Team stieß aber auch auf Schutzfaktoren, die dem entgegenwirken. Dazu zählten Bewegung, guter Schlaf und eine gesunde Ernährung, Wärme in der Familie und Unterstützung im Freundeskreis. Auch die Bewältigungsstrategien, die man gegen den Stress einsetzt, hatten einen Einfluss: Als ungünstig erwies sich, seine Gefühle zu unterdrücken; hilfreich war eine problemfokussierte Bewältigung: Was kann ich tun, um den Stress in meinem Leben zu mindern? Schützend wirkten ferner religiöses Eingebundensein und Rituale sowie das Gefühl von Lebenssinn: In der amerikanischen Langzeitstudie MIDUS ging ein hohes Sinnempfinden mit einer geringeren allostatischen Last zehn Jahre später einher.
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Titelgeschichte: Raus aus der Erschöpfung
Quelle
Jenny Guidi u.a.: Allostatic load and its impact on health: A systematic review. Psychotherapy and Psychosomatics, 90/1, 2021, 11–27