Sie sagen: Wer dauerhaft erschöpft ist, leidet unter gestörten Beziehungen und lebt an sich selbst vorbei. Wie sind Sie darauf gekommen?
2002 habe ich angefangen, als Ärztin in einer psychosomatischen Klinik zu arbeiten. Damals ging man davon aus, dass zu viel Arbeit der Hauptgrund für Erschöpfung sei. In der Behandlung der Patienten wurde mir jedoch klar, dass Erschöpfung vielmehr das Ergebnis gestörter Beziehungen ist.
Ausnahmslos alle, die darunter litten, berichteten von konfliktreichen beruflichen oder…
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Beziehungen ist.
Ausnahmslos alle, die darunter litten, berichteten von konfliktreichen beruflichen oder privaten Beziehungen und beklagten, keine nährenden sozialen Kontakte mehr zu haben. Sie hatten das Gefühl, in ihrem Job oder in ihrer Familie nur noch zu funktionieren und in ihrem eigenen Leben nicht mehr vorzukommen. Wer in eine chronische Erschöpfung gerät, sollte sich fragen: Auf welchen Ebenen sind meine Beziehungen gestört? Wo werden meine Bedürfnisse nicht erfüllt? Wo lasse ich nicht los?
Warum ist der Beziehungsaspekt so zentral?
Leben bedeutet Beziehung führen. Wir stehen beständig in Interaktion: mit uns selbst, mit anderen, mit den Systemen, in denen wir leben und arbeiten, mit Lebenssituationen. Menschen, die sich erschöpfen, sind oft im Kampfmodus gefangen. Sie verlieren ihre Kraft im Dauerwiderstand gegen eine Situation, eine Person oder gegen sich selbst. Da ist die Teamleiterin, die unbedingt die Wertschätzung ihres Chefs ertrotzen möchte und permanent darum kämpft, von ihm gesehen zu werden, und dafür Überstunden macht. Oder der Student, der sich zu einem Studienfach zwingt, das gar nicht zu seinen Begabungen passt.
Dieser ständige Kampf führt am Ende zu Erschöpfung. Gesundheit bedeutet, gesund Beziehung zu gestalten, und das heißt: im Dialog zu sein mit dem, was ist. Leider wird Resilienz oft falsch verstanden. Viele glauben, die Widerstandskraft liege darin begründet, dass man in den Widerstand geht. Doch das ist ein Irrtum.
Aber ist es nicht auch sinnvoll, sich zu wehren?
Es ist eine völlig normale menschliche Reaktion, gegen etwas anzugehen, was wir nicht wollen. Doch wenn wir nicht aufpassen, verlieren wir uns im Nein. Wir stehen dann nicht mehr für uns und unser Anliegen ein, sondern bleiben im Dagegen. Wer im Widerstand bleibt, verhärtet. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, brauchen wir eine dialogische Haltung. Das bedeutet: raus aus dem Widerstand, zurück in die Begegnung. In einer gesunden Form in Beziehung zu sein bedeutet, immer wieder für ein Gleichgewicht zu sorgen zwischen Ich, Du und Wir.
Wer sich erschöpft, gibt sich in seinen Beziehungen auf, verliert sich im anderen oder in der Sache. Beziehungen bleiben nur gesund, solange das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen stimmt. Es ist meine Verantwortung, meine Beziehungen so zu gestalten, dass ich darin vorkomme. Dass ich beispielsweise eine Arbeit mache, die mir entspricht, und ich dort nicht nur auf eine Funktion reduziert werde und nur noch abarbeite. Mich selbst so zu vertreten verlangt natürlich, dass ich meine Identität in mir selbst finde und nicht im Außen suche.
Aber genau das beklagen viele, dass sie sich als Person nicht gesehen fühlen und durch Anforderungen, die an ihnen vorbeigehen, überfordert werden.
Viele Menschen, die sich erschöpfen, beschreiben, dass sie in vergifteten Atmosphären leben, wo Offenheit, Mitgefühl, Wertschätzung und Augenhöhe fehlen. Doch Respekt, Wertschätzung und Interesse an meiner Person und dem, was ich mache, sind essenziell für meine Leistungsfähigkeit. Nur wenn ich das erlebe, kann ich mit Freude leisten, ohne mich zu erschöpfen. Wenn man mich gleichgültig oder respektlos behandelt, sollte ich nicht dagegen kämpfen, sondern schauen, was ich bestmöglich aus dieser Situation machen kann. Verlöre ich ebenfalls den Respekt, würde ich mich mit dem, was mir schadet, gemeinmachen und mir die Möglichkeit nehmen, mich gesund abzugrenzen. Wenn es nicht möglich ist, die Arbeitsbeziehung in einer dialogischen Atmosphäre zu gestalten, dass ich zu einem Drittel mit meinen Interessen darin vorkomme, kann es angebracht sein, zu gehen.
In die Auseinandersetzung mit Vorgesetzten zu gehen oder gar den Job zu kündigen kostet Mut. Viele harren trotz großem Frust und Erschöpfung lieber aus. Woran liegt das?
Die meisten derer, die sich schwertun, gesunde Grenzen zu setzen und sich konstruktiv zu vertreten, haben in ihrer Kindheit keine gesunde Selbstliebe gelernt. Entscheidend ist die Beziehungsatmosphäre, in der wir aufwachsen. Wie Vater und Mutter mit sich selbst, miteinander und mit uns als Kind umgehen, ist die Blaupause für unsere Beziehung mit uns selbst und anderen. Wenn sie sich für uns interessiert, sich in uns eingefühlt und uns respektiert haben, entwickeln wir ein gesundes Selbstbewusstsein. So wie ich bin, bin ich gut. Es ist nicht alles gut, was ich mache, aber ich bin gut.
Hat mir eine bedingungslose Liebe gefehlt, entwickele ich vielleicht die Überzeugung, nicht gut genug zu sein, mich ständig beweisen zu müssen. Dann habe ich auch nicht das Selbstverständnis, meinem Chef oder meiner Partnerin auf Augenhöhe zu sagen: Hier ist meine Grenze; ich bin bereit, meinen Beitrag zu leisten, aber ich kann nicht mehr geben, als ich zur Verfügung habe.
Wie lässt sich diese Haltung erlernen?
Zum einen können wir unsere Beziehungserfahrungen aufarbeiten und prüfen: Welche Überzeugungen habe ich entwickelt, die dazu führen, dass ich aussichtslose Kämpfe führe und über meine Grenzen gehe, um Anerkennung zu bekommen? Wer in seiner Kindheit nicht gesehen wurde, entsprechend keinen Blick für sich selbst hat und sich immer wieder überfordert, kann lernen, sich für sich selbst zu interessieren und sich immer mal wieder zu fragen: Wie geht es mir eigentlich? Will ich zu dieser Anfrage wirklich ja sagen? Oder fühle ich ein Nein?
Das Gute ist: Wir können in jedem Moment anfangen, Interesse zu lernen für uns selbst und die anderen. Wichtig ist, nicht in der Opferrolle hängenzubleiben und zu sagen: Ich habe das in der Kindheit nicht gelernt und deshalb kann ich nicht für mich einstehen.
Sie gehen so weit zu sagen: Wer sich erschöpft, weigert sich, in der Gegenwart zu leben, und ist nicht bereit loszulassen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Ist das nicht etwas krass?
Natürlich ist es wichtig anzuerkennen, welche Wunden in der Kindheit entstanden sind. Gesund bleiben oder werden wir jedoch nur, wenn wir irgendwann in Frieden mit unserer Kindheit kommen. Je ungeklärter die Elternbeziehung, desto konfliktreicher gestaltet sich oft die Beziehung zum Chef oder zur Partnerin. Wenn ich nicht mit meiner Vergangenheit aufräume, suche ich die kindliche Liebe in der Karriere oder in der Partnerschaft. Ich bleibe süchtig nach Anerkennung und überhöre die innere Stimme, die schon lange stopp ruft.
Aber ist es nicht zu kurz gegriffen, Erschöpfung nur als individuelles Thema zu verstehen? Muss sich nicht auch etwas an der Arbeitskultur ändern?
Und wie. Für das System gilt dasselbe wie für den Menschen im Einzelnen. Ein System, das Menschen nur auf ihre Funktion reduziert und ausnimmt, erschöpft sich auch selbst über kurz oder lang. Nur Systeme, in denen ein Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen besteht, sind überlebensfähig. Wenn ein Unternehmen Strategien und Ziele verfolgt, die an den Menschen vorbeigehen, wird es auf Dauer nicht erfolgreich sein. Die Erschöpfung, die wir im Moment gesellschaftlich und systemisch finden, ist ein Resultat aus einer langjährigen kollektiven Illusion der Grenzenlosigkeit und des Superlativs.
Das geht so weit, dass manche Organisationen die emotionale Verwundung für die eigene Gewinnmaximierung missbrauchen. Manche Personaler sagen offen: „Am liebsten sind uns die, die aus der emotionalen Gosse kommen. Die tun alles für den Job.“ Wir müssen in den Dialog finden, zu Augenhöhe und Mitgefühl. Wir können den Mechanismus der Erschöpfung nur auflösen, wenn wir uns als Einzelne und gemeinsam für einen Spurwechsel entscheiden.
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Titelgeschichte: Raus aus der Erschöpfung
Dr. Mirriam Prieß ist Ärztin. Acht Jahre war sie in einer psychosomatischen Fachklinik tätig. Seit 2005 arbeitet sie als Beraterin mit Führungskräften und leitet Seminare zu Burnout. Sie ist Autorin zahlreicher Bücher zum Thema Erschöpfung.